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«Nichts Neues» - eine Weihnachtsgeschichte

Wie jedes Jahr laden Nikolaus und Ruprecht die Geschenke auf ihren Wagen und fahren Stund um Stund durch den Wald, um die Kinder zu beschenken. Doch dieses Jahr droht die Bescherung aus den Fugen zu geraten. Was nun?

 

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Pferdekutsche im Schnee
Bei jedem Tritt knirscht es unter den Hufen: Ein Pferdegespann unterwegs durch den frisch verschneiten Wald. (Bild: Sitikka/iStock, Thinkstock)

Der grosse Tag beginnt

Sein linker Fuss knackst, als er sich streckt. Er streicht sich mit der Hand über den langen Bart und stellt zufrieden fest, dass er kaum zerzaust ist. Er grummelt etwas vor sich hin und richtet sich auf. Die Beine gleiten langsam über die hölzerne Bettkante. Er versucht, mit der Zehenspitze den Rist seiner Filzpantoffel zu erreichen. Doch seine Beine sind zu kurz. Er rutscht etwas weiter nach vorne auf dem Bett. «Aah, jetzt hab‘ ich dich aber!», brummt er vor sich hin, während sein Fuss in die Pantoffel gleitet.  Die Hände auf die Oberschenkel gestemmt, richtet er sich auf. Draussen ist es noch dunkel und so tastet er sich vorsichtig über den unebenen Riemenboden zum Tisch hin. Plötzlich verhakt sich sein Fuss. Er stolpert vorwärts und kann sich im letzten Moment auffangen. «Du sollst nicht hier auf dem Boden liegen, ich kann dich ja nicht sehen!», sagt er etwas unwirsch zu dem Burschen, der zusammengerollt unter einer Wolldecke liegt. «Nun steh schon auf, Ruprecht», fährt er etwas sanfter fort, «wir haben heute noch viel zu tun.»

Der alte Mann beugt sich über seinen runden Bauch nach vorne und zündet die Petroliumlampe an, die vor ihm auf dem Tisch steht. Ruprecht blinzelt und rutscht noch weiter unter die Decke, sodass fast sein ganzes  Gesicht verdeckt ist. Der Alte zieht die Vorhänge auf und kratzt ein paar Eisblumen vom Fenster. «Oh, es hat über Nacht geschneit», freut er sich und lächelt. «Jaja, ich geh ja schon und schaufel den Weg frei», brummt Ruprecht mürrisch, der dies als eine Aufforderung an seine Adresse verstanden hat. Mit einem Ruck richtet er sich auf, reibt sich die Augen, schlüpft in die schweren Lederstiefel und verschwindet dann mit der Schaufel in der Hand ins Freie. «Mach die Tür zu, es ist kalt!», ruft ihm der Weissbärtige hinterher. Ruprecht stapft zurück und gibt der Türe einen kräftigen Schubs, sodass sie mit einem lauten «rums» ins Schloss fällt.

Der letzte Schliff

Der alte Mann wirft ein paar Holzscheite in den Ofen und stellt ein Kännchen Wasser auf die Ofenkante. «Also, mal sehen, was da auf der Wunschliste steht», murmelt er vor sich hin und lässt sich auf den Stuhl plumpsen. «Eine Puppe – hm, da hab ich noch eine schöne auf dem Dachboden. Das Steckenpferd für den kleinen Julius, das hat Ruprecht gerade noch rechtzeitig fertig gemacht. Aah ja, und das Bilderbuch für Marie – ein wunderschönes Geschenk.» Seine Augen beginnen zu leuchten. Er steht auf und giesst das heisse Wasser über das Kaffeepulver in der Tasse. Der Duft muss Ruprecht in die Nase gestiegen sein, denn nur kurz später kommt er mit roten Wangen zur Türe rein. «Brr, ist das kalt heute», sagt er und reibt sich die Hände. Der alte Mann steht nochmals vom Tisch auf und übergiesst auch das Kaffeepulver in Ruprechts Tasse und lässt sich dann wieder auf seinen Stuhl fallen.

Während er am Tisch mit schön geschwungener Schrift auf jeden Geschenkanhänger einen Namen schreibt, sucht Ruprecht in der ganzen Hütte die Geschenke zusammen.

Unterwegs durch den Wald

Als der Weissbärtige und Ruprecht später alles auf den Planwagen aufgeladen und die zwei Pferde vorgespannt haben, geht der alte Mann nochmals kurz in die Hütte rein. Er öffnet den Schrank und nimmt seinen roten Festtagsmantel heraus. Zufrieden stellt er fest, dass er ihm immer noch passt, auch wenn er nun etwas mehr spannt über dem Bauch als im letzten Jahr.

Ruprecht prüft ein letztes Mal, ob die Ladung gut gesichert ist, dann schwingt er sich neben den alten Mann auf den Kutschbock. Der Weissbärtige nimmt die Zügel in die Hand und schnalzt mit der Zunge. Das Gefährt setzt sich mit einem Ruck in Bewegung.

Etwas Wichtiges fehlt

Wie sie seit einigen Stunden unterwegs sind, wird wird Ruprecht plötzlich unruhig. Nervös pustet er sich in die vorgehaltenen Hände, knetet sie und reibt dann die schwitzigen Hände auf den Schenkeln ab. «Was ist los mit dir, du bist ja ganz blass. Du wirst doch nicht etwa krank werden?», fragt der alte Mann besorgt. Ruprecht schweigt eine Weile und rutscht auf seinem Sitz unruhig hin und her. „«Ich…ich…», stammelt er und bricht wieder ab. Der alte Mann schaut ihn aus den Augenwinkeln an, während er die Pferde lenkt. «Ja?», ermuntert er Ruprecht zum Weiterreden. «Ich... ich habe die beiden Bücher in der Hütte vergessen», sagt er dann eilig und blickt den Weissbärtigen ängstlich an. Doch der fährt seelenruhig weiter und sagt: «Also das Bilderbuch für die Marie haben wir bestimmt dabei, ich habe es selbst auf den Wagen gelegt.» «Ja, das schon», erwidert Ruprecht, «aber das goldene und das schwarze Buch, die beiden habe ich vergessen».

Eine Weile fahren sie schweigend durch die Winterlandschaft. Der alte Mann schaut nachdenklich vor sich hin und streicht sich einige Male über den Bart. Ruprecht weiss nicht so recht, wie er das deuten soll, doch er getraut sich nicht, die Gedanken des alten Mannes zu unterbrechen.

Dann plötzlich holt der alte Mann Luft und sagt mit sanfter Stimme: «Ach, wir werden das schon irgendwie hinkriegen.» Ruprecht schaut ihn verdutzt an. «Und was sagst du den Eltern, die gespannt darauf warten, was es zu berichten gibt über das Betragen ihrer Kinder im vergangenen Jahr?», fragt Ruprecht den Alten mit leicht verzweifelter Stimme. Der alte Mann denkt kurz nach, lächelt und antwortet dann: «Nichts Neues».

 

Gewidmet an meinen Mentor Kurt.

 

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