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Bindungstheorie: Wie die Familie lebenslang Beziehungen prägt

Bindung bildet das Fundament, auf dem wir ein Leben lang stehen. Doch nicht alle fühlen sich in den Beziehungen sicher und leiden deshalb an Bindungsstörungen. John Bowlby und Mary Ainworth entwickelten die Bindungstheorie, nach der sich vier Bindungstypen unterscheiden. 

Kinder brauchen sichere Bindungen.
Kinder brauchen enge emotionale Beziehungen. Foto: AleksandarNakic, E+

Ein Baby, das weint und schreit, ist auf Bezugspersonen angewiesen, die feinfühlig reagieren – mit beruhigenden Worten und liebevollen Streicheleinheiten – und seine Bedürfnisse befriedigen. Vielleicht hat es Hunger, Durst? Ist ihm kalt oder warm? Zwickt die Windel, juckt der Po? So erfährt das Kind: Hier kann ich mich geborgen fühlen. Ein unsichtbares Band entsteht, das Bezugsperson und Kind zusammenschweisst.

Bindungstheorie: Eltern-Kind-Bindung

Damit Kinder sich gesund entwickeln können, brauchen sie also Eltern, bei denen sie sich sicher und geborgen fühlen. Das Bedürfnis nach engen emotionalen Beziehungen ist angeboren, fand der englische Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts heraus. Zusammen mit der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelte Bowlby die Bindungstheorie, die bis heute nicht nur die Psychologie und die Erziehungswissenschaften, sondern auch das Selbstverständnis vieler Eltern prägt. Nach Bowlby und Ainsworth unterscheiden sich verschiedene Bindungstypen, die auf die frühkindliche Entwicklung zurückzuführen sind. 

Bindungstheorie: Die sichere Bindung

Heute weiss man: Eine sichere Bindung entsteht durch zuverlässige Zuwendung und Zärtlichkeit und einer mütterlichen Feinfühligkeit. Glückshormone programmieren das Kind auf Geborgenheit. Dieses Grundgefühl, das vor allem im ersten, aber auch noch im zweiten Lebensjahr entsteht, schenkt dem Kind ein Leben lang innere Ruhe, Sicherheit und damit Selbst-Sicherheit. Erst diese Sicherheit ermöglicht dem Kleinkind, selbstvergessen die Welt erforschen und neue soziale Beziehungen zu knüpfen. Ausserdem entsteht ein grosses Gehirnzellen-Netzwerk, auf das es in seinem Leben zurückgreifen kann. «Sicherheit fördert die Hirnentwicklung», erklärt der Kinderarzt Dr. Cyril Lüdin aus Muttenz, Fachberater für Emotionelle Erste Hilfe EEH immer wieder. «Stress dagegen blockiert die Reifung des Gehirns.»

Bindungstheorie: Drei weitere Bindungstypen

Nicht alle Kinder fühlen sich so sicher, wie es gut für ihre Entwicklung wäre. Weil viele Kinder nicht immer die zuverlässige Fürsorge erhalten, die sie sich ersehnen, entstehen neben der sicheren Bindung drei weitere Bindungstypen zu der wichtigen Bezugsperson. Das fand bereits die US-amerikanische Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth heraus. Im Rahmen eines Versuchs wurden einjährige Kinder beobachtet, die in einem Raum mit Spielecke von der Mutter alleine gelassen wurden, nachdem eine fremde Person eingetreten war.

Bindungsstörung: Die unsicher-vermeidende Bindung

Kinder, die unsicher-vermeidend gebunden sind, zeigen keine Gefühle, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt. Sie spielen weiter. Kommt die Mutter wieder, wird sie ignoriert und Körperkontakt abgelehnt. Dieses Verhalten steht weder für Ausgeglichenheit noch für innere Stärke – im Gegenteil: Das Kind hat die Erfahrung gemacht, dass Gefühlsausbrüche nichts nutzen und eventuell sogar schaden. Innerlich ist es aber stark aufgewühlt. Die erhöhte Herzfrequenz und der stark erhöhte Stresshormonspiegel zeigen unmissverständlich, was das Kind durchmacht. Ursache: Die Grundhaltung der Eltern ist eher distanziert, sie geben ihrem Kind wenig Geborgenheit. Das Kind kann nicht vertrauen. Das Selbstwertgefühl und das Selbstbild sind dadurch geschwächt.

Bindungsstörung: Die unsicher-ambivalente Bindung

Kinder, die unsicher-ambivalent gebunden sind, zeigen starke Gefühle, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt. Sie weinen, toben oder klammern sich an die Mutter, haben Angst. An dem Spiel zeigen sie kein Interesse mehr. Ursache: Die Eltern verhalten sich widersprüchlich auf die Bedürfnisse ihres Kindes. Überfürsorge und Zurückweisung wechseln, worunter das Bindungsverhalten leidet. Wenn das Kind Schutz und Trost braucht, erfährt es Doppelbotschaften: So können die Worte der Mutter zwar Trost und Mitgefühl ausdrücken, der Ton aber Verachtung und Schelte. Dahinter stecken oft schwierige und unverarbeitete Gefühle an die eigene Kindheit. So sind die Gefühle an die Eltern geprägt von Wut und Idealisierung.

Bindungsstörung: Die unsicher-desorganisierte Bindung

Ein unsicher-desorganisiert gebundenes Kind reagiert widersprüchlich auf das Weggehen der Mutter. Einerseits will es Nähe, andererseits lehnt es Nähe ab. Es läuft zum Beispiel auf die Mutter zu, erstarrt aber auf halbem Weg. Die Stresswerte sind ebenso erhöht wie bei unsicher-gebundenen Kindern. Die Bindung ist ernsthaft gestört. Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch können hinter diesem Bindungstyp stecken. Oft hatten die Eltern selbst mit einem Trauma zu kämpfen, durch psychische oder körperliche Verletzungen.

Bindungstheorie: Bindungsstörungen machen das Leben schwer

Die Art der Bindung beeinflusst das Leben. Sie stellt die Weichen dafür, wie das Kind jetzt und als Erwachsener seine Umwelt wahrnimmt, ob es erfüllende Beziehungen führen kann, wie es mit Stress und Aggression klar kommt. Heute ist unumstritten, dass Jugendliche, die als Baby und Kleinkind keine sichere Bindung zu ihren Eltern aufbauen konnten, eher straffällig werden, unter Depressionen oder anderen psychischen Problemen wie Angststörungen, Zwangsverhalten und Süchten leiden. Bindungsstörungen werden übertragen auf andere Menschen. Es fällt ihnen schwerer, funktionierende Beziehungen zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten.

Bausteine für eine gute Bindung und eine sichere Basis

1 Bindung stärken: Babys nicht warten lassen

Ein Kind braucht eine feinfühlige Bindungsperson. Für Eltern, die primäre Bindungspersonen sind, bedeutet das: Es ist wichtig, das Kind wahrzunehmen, ihm zuzuhören und angemessen und prompt zu reagieren. «Lassen Sie die Magnetkräfte wirken, die Sie und Ihr Baby zusammenhalten, bis sie zu einem satten Flupp zusammenschnalzen», schreibt Tatje Bartig-Prang, Autorin von dem Eltern-Ratgeber «Bindung macht stark».

2 Bindung stärken: Ganz viel Nähe

Ruhe, Sicherheit, Glück – solche Gefühle werden auch durch Körperkontakt hervorgerufen. Jede körperliche Zuwendung bewirkt eine Extra-Portion Glückshormone für das Baby. Beim Stillen und Fläschchen geben, beim Schlafen im Familienbett und entspannten Tragen lassen sich die Bedürfnisse des Kindes schnell und leicht wahrnehmen und ebenso prompt befriedigen. Eine Studie des Kinderspitals Zürich unter der Leitung von Dr. Urs A. Hunziker zeigt, wie sich das Tragen das Geborgenheitsgefühl steigert: Mehrstündiges Tragen verringert deutlich die Schreidauer. Darüber hinaus sind die Kinder auch während der Wachphasen zufriedener.

3 Bindungs stärken: Einfach Spass

Wie befreiend ist die Vorstellung, sich mit dem Kind einfach eine gute Zeit zu machen. Es ist so schön, das Baby einfach zu geniessen! Bloss kein Stress! Babymassage? Krabbelgruppe? Gebärdensprache? Ja klar, wenn’s Spass macht. Und wenn nicht, dann reicht es, einfach auf dem Sofa zu knuddeln und zu spielen.

4 Bindung stärken: Gute Eingewöhnung

Babys und Kleinkinder benötigen eine liebevolle und professionelle Gewöhnung an die Tagesmutter und die Kita. Das Kind sollte erst dann alleine gelassen werden, wenn es den neuen Bezugspersonen vertraut.

Hilfe holen

Eltern, die merken, dass sie ihrem Kind nicht gerecht werden können, sollten sich Hilfe holen oder eine Therapie besuchen. Eine erste Adresse kann der Kinderarzt oder eine Erziehungsberatungsstelle  oder Familienberatung sein.

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