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Zu viel Zuckerbrot: Was Belohnungen bei Kindern auslösen

Kinder freuen sich über Belohnungen. Doch wer Kinder belohnt, um sie von ungeliebten Aufgaben oder gutem Benehmen zu überzeugen, erreicht auf Dauer das Gegenteil.

Sticks and carrots, Belohnungen und Strafen werden nicht nur zum erziehen von Tieren genutzt, sondern auch bei Tieren und Erwachsenen.
Viele Kinder werden nach dem Sticks-and-Carrots-Prinzip erzogen. Bild: iStock




«Wer zehnmal seine Hausaufgaben gut gelöst hat, bekommt einen Joker-Tag.», sagt die Mathe-Lehrerin. Der Dirigent bittet die Kinder-Brassband: «Wenn ihr jetzt dieses Stück gut übt, spielen wir am Schluss der Stunde, was ihr wollt.» Und die Mutter verspricht: «Wenn du dein Zimmer aufräumst, darfst du heute Abend das Fussballspiel im Fernsehen schauen!» Wer eine Belohnung in Aussicht stellt, will die Leistung des Kindes honorieren. Das ist gut gemeint, aber aus Sicht von immer mehr Erziehungsexperten schlecht gemacht.

Der amerikanische Autor Alfie Kohnen zeigte in seinem Buch «Punished by Rewards» (dt. «Gestraft durch Belohnungen») anhand vieler Studien auf, warum eine Erziehung mit Belohnungen nur kurzfristig wirkt, langfristig aber scheitern müsse. «Belohnung, die postmoderne Version von Bestrafung, sollte man verbannen.», findet der Erziehungs-Experte Jesper Juul. Die aus dem Fernsehen bekannte Familienberaterin Katharina Saalfrank sagt: «Belohnungen sind letztlich eine Form der Bestrafung.»

Dabei haben sich Eltern doch gerade erst auf Anraten von Erziehungsexperten ein Set an Smiley-Stickern zugelegt, um mit einem ausgeklügelten Belohnungssystem, die Kinder für Hausaufgaben und Hausarbeiten zu motivieren. Wieder alles falsch? Und was ist schädlich an einem neuen Sticker fürs Sammelalbum nach dem Zähneputzen? Weil es nichts Anderes als Bestechung sei, glaubt Kohn.

Hinter einer Belohnung steckt meist eine Manipulation

Belohnungen sind Manipulationen nach dem Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip.
 Belohnungen motivieren, aber aus den falschen Beweggründen. Bild: iStock

Eltern spüren oft selbst, dass Belohnungen «ein zweischneidiges Schwert» sind, wie der Psychologe und Leiter der Akademie für Lerncoaching Zürich Fabian Grolimund schreibt. Belohnungen haftet ein negativer Beigeschmack an. Denn sehr häufig verbirgt sich hinter einer Belohnung der Versuch, ein Kind zu manipulieren. Es soll das tun, was die Eltern von ihm erwarten und von dem sie glauben, dass es wichtig für das Kind ist: vom Beckenrand im Schwimmbad springen, sich in der Schule anstrengen, die Grossmutter besuchen, Broccoli essen.

Manipulationen sind deshalb auch sehr leicht an Wenn-dann-Sätzen zu erkennen. Und sie werden immer wieder eingesetzt, weil es offenbar funktioniert. Vom Elternhaus über die Kita bis in die Schule. Und auch im Berufsleben hört es nicht auf. Dort heisst es einfach Boni statt Belohnung.

Wenn Eltern trotzdem ein mulmiges Gefühl haben, weil es nur für aufgegessenes Gemüse ein Schoggi-Dessert gibt, liegt es wahrscheinlich daran, dass sie unterbewusst wissen, dass hier etwas falsch läuft, dass sie eine unerlaubte Abkürzung genommen haben. Denn welche Nachricht kommt bei den Kindern am wahrscheinlichsten an? Ein Dessert ist es wert sogar Broccoli zu essen.

Würden Sie ein Kind kaufen?

Für Kinder kann es durchaus schädlich sein, immer wieder in solche Entscheidungs-Dilemmas zu geraten. Denn sie machen in Aussicht auf eine Belohnung etwas, dass sie eigentlich nicht machen würden: Sie lassen sich bestechen. Broccoli essen wird dadurch zu einem unattraktiven Lebensmittel, das man ohne Aussicht auf Dessert nicht zu essen braucht. Und die Kinder spüren auch, dass sie sich kaufen lassen haben. Aber sie lernen auch schnell. Wenn ich freiwillig Zähne putze und dann sofort ins Bett gehe, kann ich dann noch eine Sendung schauen? Wenn ich in Französisch eine Fünf schreibe, kriege ich dann das Computerspiel? Wenn ich für eine Woche die Wäsche mache, kann ich dann auf das Konzert mit meinen Freundinnen?

1 Der Korrumpierungseffekt

In der Wissenschaft bezeichnet man diese unbeabsichtigte Folge des Belohnens auch als Korrumpierungseffekt. Dabei wird der innere Antrieb etwas zu tun, durch einen äusseren Antrieb ersetzt.

Neben dem Korrumpierungseffekt, gibt es noch drei weitere grosse Nachteile von Belohnungen als Mittel der Erziehung.

2 Belohnungen machen schwach

Eine attraktive Belohnung verführt dazu, das zu tun, was verlangt wird – und die eigene, innere Stimme zu überhören. Ein Kind lernt dabei nicht, aus Überzeugung zu handeln. Und es soll gerade nicht lernen, Manipulationen zu widerstehen und selbstbewusst «Nein!» zu sagen.

3 Belohnungen schränken Kinder ein

Belohnung sei ein Mittel der Dressur, glaubt Alfie Kohn. Wie ein Pferd mit Zuckerbrot und Peitsche abgerichtet wird, wirke auch eine Erziehung, die auf Belohnungen und Strafen beruht. Denn wer einem Kind eine Belohnung in Aussicht stellt, verlasse die Augenhöhe und stellt sich machtvoll über das Kind. Zudem machen Belohnungen auf Dauer abhängig. Denn ob eine Leistung es wert ist, einen Lohn zu bekommen, legen Erwachsene wie Eltern oder Lehrer fest. Und oft geben sie dem Kind nicht nur das Ziel vor, sondern auch die Art und Weise, wie das Ziel erreicht werden soll.

4 Belohnungen wirken wie Strafen

Kinder spüren den Mechanismus, der hinter dem Belohnungssystem steckt. Tun sie nicht, was von ihnen verlangt wird, bleibt die Belohnung aus. Das wirke dann ebenso wie eine Strafe, erklärt Katharina Saalfrank.

Aber kann ein Kind schon alles selber denken und entscheiden, ohne sich zu schaden? Der Kinderpsychologe Kay Rurainski ist überzeugt, dass eine entspannte Erziehung auf Augenhöhe möglich ist. Er vertritt einen Erziehungsstil, der Kinder nicht bewertet, sondert wertschätzt. «In einer Familie, in der ein kooperativer und demokratischer Umgang gepflegt wird, stehen sich die Familienmitglieder näher, und die Beziehungen sind inniger als in Familien, in denen Eltern ihrem Kind autoritär begegnen», sagt Rurainski. «Gleichzeitig entwickelt das Kind eine gute Portion Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstständigkeit – notwendige Voraussetzungen für ein erfülltes Leben.»

Wann Belohnungen doch sinnvoll sein können

Sollten wir zum Wohl der Kinder also ganz auf Belohnungen verzichten? Kinder freuen sich doch über eine kleine Anerkennung? Alfie Kohn erklärt, dass Belohnungen weniger schaden, wenn sie vorher nicht angekündigt werden, wenn sie also nicht der Anreiz sind, etwas zu tun.

Der Psychologe Fabian Grolimund glaubt: «Belohnungen können für Kinder wie für Erwachsene eine Unterstützung sein. Sie können als eine Art Krücke dienen, die uns das Gehen erleichtert, bis die Beine genügend Kraft haben, um uns zu tragen.» Belohnungen könnten also vor allem dann ein sinnvolles Mittel sein, wenn einem Kind wichtige Handlungen sehr schwer fallen oder unangenehm sind. Wichtig dabei sei, dass Belohnungen nur selten und umsichtig in Verbindung mit einer bestimmten Tätigkeit eingesetzt werden.

Diese Vermutung deckt sich auch mit dem wissenschaftlich gut erforschten Korrumpierungseffekt. Dieser wirkt eben nur, wenn bereits eine Ausgangsmotivation da war, wenn das Kind das Gemüse also wahrscheinlich auch ohne Aussicht auf Schokolode gegessen hätte. Wenn das Kind aber gar nicht daran denkt, es überhaupt zu probieren, könnte die Aussicht auf eine Belohnung zumindest dazu führen, dass das Kind vielleicht doch einmal abbeisst - und vielleicht stellt es fest, dass Gemüse doch ganz gut schmecken kann.

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