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Wann eine vorzeitige Einschulung gut tut und wann nicht

Jedes fünfte Kind ist im Kindergarten unterfordert. Schweizer Lehrpersonen und Schulbehörden stehen der vorzeitigen Einschulungen dennoch zurückhaltend gegenüber. Oft mit guten Gründen.

Eine vorzeitige Einschulung kann  beides bedeuten: ein schwerer Rucksack sein oder eine Befreiung.
Eine vorzeitige Einschulung kann  beides bedeuten: ein schwerer Rucksack sein oder eine Befreiung. Bild: iStock

Mit zwei Jahren konnte Milou* schon bis 20 zählen. Mit drei konnte sie alle Buchstaben schreiben. Mit vier las sie die ersten Wörter. Aber weil sie im September geboren ist, durfte Milou erst mit knapp fünf Jahren in den Kindergarten und sollte mit sieben in die Schule kommen und richtig lesen lernen dürfen.

Zu spät, fanden ihre Eltern und stellten beim Kreisschulamt einen Antrag, damit Sie direkt ins zweite obligatorischen Kindergartenjahr einsteigen kann. Der Antrag wurde ohne Begutachtung des Kindes abgelehnt. Man wies die Eltern darauf hin, dass Sie über die Schuldirektion dennoch daraufhin wirken könnten, mit einer späteren Rückstellung sei aber zu rechnen.

Jedes fünfte Kindergartenkind ist unterfordert

Milou ist kein Einzelfall. Sie gehört wahrscheinlich zu einer grossen, leistungsstarken Gruppe von Kindern. Rund 20 Prozent der Kinder erfüllen schon zu Beginn des ersten Schuljahres die Lernziele, die der Lehrplan für Mathematik und Lesen vorsieht. Das zeigte bereits die 2005 publizierte Studie «Lernstandserhebung bei Schülerinnen und Schülern der 1. Klasse» von Margrit Stamm und Urs Moser, die im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich durchgeführt wurde.

Trotzdem werden im europäischen Vergleich in der Schweiz nur relativ wenige, meist nur hochbegabte Kinder vorzeitig eingeschult. Etwa zwei von hundert Kindern verfügen laut Schätzungen über eine Hochbegabung. Das Schulamt Zürich gibt öffentlich keine Zahlen bekannt. Die NZZ berichtete: «In der Stadt Zürich haben im Schuljahr 2015/2016 nur elf Kinder vom Kindergarten direkt in die zweite Klasse gewechselt».

Eltern wollen das Potential ihrer Kinder nicht ausbremsen

Eltern treiben gute Gedanken an, wenn sie überlegen, ihr Kind vorzeitig einzuschulen oder eine Klasse überspringen zu lassen. Sie haben die Hoffnung, dass sich das Kind auf diese Weise seine Lernfreude erhalten kann, statt sich im Unterricht zu langweilen und ausgebremst zu werden. Es könnte eher durchstarten und hätte auf dem Arbeitsmarkt aufgrund seines frühen Berufsabschlusses bessere Chancen.

Tatsächlich betont die emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg Margrit Stamm: «Zu spät in die Schule zu kommen, kann genauso problematisch sein wie zu früh.» Der Schuleintritt solle flexibel sein, und nicht vom Alter, sondern vom Entwicklungsstand des Kindes vorgegeben werden, fordert sie seit Jahren immer wieder.

Doch so einfach geht die Rechnung nicht immer auf. Denn Kinder, die frühzeitig eingeschult werden oder eine Klasse überspringen, sind nicht nur zu Beginn ihrer Schullaufbahn besonders gefordert, sie sind und bleiben auch in den folgenden Jahren die Jüngsten in der Klasse. Sie müssen sich oft vielmehr anstrengen, um sich in die Klasse zu integrieren. Nicht immer geht das gut. Manche Kinder leiden jahrelang darunter, das unterschätzte Nesthäkchen oder der überschätzte Klassenprimus zu sein. Kein Kind will Aussenseiter sein. Auch wenn die Pubertät einsetzt, können sie mit Klassenkameraden möglicherweise wenig anfangen – und umgekehrt. Auch mit der Berufswahl müssen sie sich viel früher auseinander setzen.

Der Trend geht weg von der vorzeitigen Einschulung

Auch dass die guten, frühen Leistungen anhaltend sind, ist nicht ausgemacht. In Deutschland herrschte beispielsweise lange der Trend vor, Kinder möglichst früh einzuschulen. Inzwischen hat man in mehreren Studien festgestellt, dass Kinder, die vorzeitig eingeschult wurden, wesentlich häufiger eine Klasse wiederholen mussten und seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium erhielten. Erst in der achten Klasse glichen sich die Niveaus von jüngeren und älteren Kinder wieder an.

Stamm warnt auch vor Enttäuschungen am Anfang der Schullaufbahn. «Wer früh schon schlecht bewertet wird, verliert schneller das Selbstbewusstsein und das Interesse an der Schule und am Schulstoff.»

Im PISA-Test-Vorzeigeland Finnland werden Kinder erst mit sieben Jahren eingeschult. Der deutsche Frühlesetest Iglu, den das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsförderung durchführte, zeigte sogar, dass ältere Schüler deutlich besser abschneiden.

«Früher» und «schneller» heisst also nicht automatisch «besser». Das liegt auch daran, dass nicht nur intellektuelle Fähigkeiten ausschlaggebend bei der Frage sind, ob Kinder schulreif sind oder nicht.

Ist ihr Kind bereit für die Schule?

Welche körperlichen, sozialen, emotionalen und intellektuellen Voraussetzungen ein Kind für die 1. Klasse mitbringen sollte, können Sie beispielsweise hier auf dem Informationsblatt der Schulgesundheitsdienste der Stadt Zürich nachlesen.

Freies Spiel statt Lesen lernen

Nach dem Kindergartenstart im August brachte Milou über Wochen fast jeden Tag Bügelperlen-Bilder mit. Die Eltern stutzten.
Milous Standortgespräch im Kindergarten fand im November statt. Dort mussten die Eltern erfahren, dass Milou zwar überdurchschnittlich sprachlich begabt, sehr fantasievoll und kreativ sei, vor neuen Aufgaben, die vor der ganzen Gruppe vorgeführt werden sollen, aber Angst habe. Sie sage sie sei müde oder denke sich Ablenkungsmanöver aus. Ausnahme Wissenfragen: Hier strecke sie immer auf. Sie könne auch alle Spiele anderen Kindern gut erklären und müsse nur einmal eine Geschichte hören, um sie fehlerfrei wiederzugeben.

Am liebsten mache Milou Bügelperlen-Bilder und beobachte dabei intensiv die anderen Kinder bei ihren Tätigkeiten.
Die Eltern waren überrascht: So kannten sie ihre Tochter nicht. Beim Einkaufen kam es schon vor, dass sie mitten im Laden ein Musical nachgespielt hatte, bei einem Kinderkonzert vor hunderten von Zuschauern wollte sie mit auch auf die Bühne und alleine ein Lied vortragen. Dass ihre Tochter manchmal schüchtern sein konnte, wussten die Eltern, aber dass es ihr scheinbar an Selbstvertrauen mangelt, hatten sie nicht bemerkt.

Auch mussten die Eltern lernen, dass man sie wegen des Antrags eine Kindergartenklasse zu überspringen vielleicht falsch eingeschätzt hat. Man hatte ihnen empfohlen zuhause nicht nur Lernspiele anzubieten, sondern das freie Spiel zu fördern. Dabei sagen die Eltern, wähle Milou schon immer selbst aus, was sie spielen möchte. Milous liebstes Spielzeug sind Verkleidungsutensilien, am häufigsten macht sie Rollenspiele und schaut sich Bilderbücher an.

Es kommt nicht allein auf den Intellekt an

Wie gut ein Kind durch die Schule kommt, ist von vielen Faktoren abhängig. «Die geistige Entwicklung eines Kindes ist nur ein Teilbereich der Schulbereitschaft. Ebenso wichtig sind die körperliche Entwicklung und Gesundheit, eine gewisse Arbeitshaltung, Motivations- und Lernbereitschaft und ein Sozialverhalten, das es dem Kind ermöglicht, sich eigenständig im Alltag einer Primarschule zurechtzufinden», erklärt der Schulgesundheitsdienst der Stadt Zürich hin. Bei einer vorzeitigen Einschulung oder nach einem Überspringen der Klasse müssen sich Kinder nicht nur in eine neue Gemeinschaft einfügen, sie müssen dabei auch mit durchweg älteren Kindern zurechtkommen.

Allerdings komme es auch häufig vor, dass das Verhalten von Kindern durch die Lehrpersonen falsch eingeschätzt wird, glaubt Therapeutin Jöelle Huser, die in ihrer Zürcher Praxis Hochbegabungsabklärungen und Beratungen für Kinder mit hohem Potential anbietet. So zeigten Kinder, die unterfordert seien, häufig rückschrittliches Verhalten. «Unterforderung führe oft zu Dauerstress für die kleinen Schnelldenker», erklärte Huser gegenüber der NZZ.

Unterforderung ist Stress für Kinder

Dies könne sich beispielsweise bei Jungen in aggressivem Verhalten äussern. Ein Anzeichen sei auch häufiges Weinen nach dem Kindergarten ohne scheinbaren Auslöser. Mädchen neigten auch dazu überdurchschnittliche Fähigkeiten eher zu verbergen, sie wollten nicht von der Norm abweichen und lieber von der Gruppe als Ihresgleichen angenommen werden.

Antrag auf vorzeitige Einschulung

Wer über eine vorzeitige Einschulung oder über ein Überspringen der Klasse nachdenkt, kann sich direkt an die zuständige Schule wenden. Sie kennt sich mit dem Verfahren aus. Der Antrag wird bei der Schulbehörde gestellt. Im Zweifelsfall lohnt es sich den schulpsychologischen Dienst miteinzubeziehen oder eine externe Begutachtung anzustrengen.

«Häufig sind Kinder mit Begabung auch hochsensibel, was von Eltern und vielen Lehrpersonen fälschlicherweise als emotionale Unreife interpretiert wird.» Diese Kinder bräuchten mehr Unterstützung durch Förderung, am besten innerhalb des Klassenverbandes, um sich emotional gesund entwickeln zu können.

Sei die Unterforderung zu stark, empfiehlt sie eine Klasse zu überspringen. Wenn ein Kind aus eigener Motivation am Rechnen und Lesen interessiert sei, solle man es nicht bremsen, sonst könne für lange Zeit die Freude am Lernen verloren gehen.

Was will das Kind?

Wie entwickelt sich das Kind besser: Wenn es dem Alter entsprechend die Schule macht oder wenn es früher oder schneller durchstartet?  Diese Frage zu beantworten, fällt nicht immer leicht. Zumal sich Eltern fast ein Jahr im Voraus dazu entschliessen müssen.

Margrit Stamm empfiehlt sich bei der Entscheidung von zwei Fragen leiten zu lassen: «Erstens: Was möchte das Kind und fühlt es sich bereit? Zweitens: Wie gut können die Lehrpersonen mit den individuellen Bedürfnisse meines Kindes umgehen?»

Die Schulgesundheitsdienste der Stadt Zürich resümieren «Insgesamt setzt sich die Schulbereitschaft hauptsächlich aus diesen drei Bereichen - körperliche Reife, sozio-emotionale Kompetenz und intellektuelle Basis - zusammen». «Bisherige Erfahrungen zeigen, dass für das Gelingen einer vorzeitigen Einschulung die sozial-emotionale Stabilität und Kompetenz fast wichtiger sind als die intellektuellen Voraussetzungen.»

Das heisst, Kinder haben meist dann eine gute Chance, erfolgreich eine Klasse zu überspringen, wenn sie nicht nur lernfreudig sind, eine leichte Auffassungsgabe haben und sich konzentrieren können, sondern auch kontaktfreudig, selbstbewusst und in der Lage sind mit Konfliktsituationen gut umzugehen.

Und Milou?

Milous Eltern haben sich bereits vor dem Standortgespräch entschieden nicht mehr auf eine vorzeitige Einschulung zu drängen und den Lehrpersonen im Kindergarten zu vertrauen. Milou hat in ihrer Kindergartenklasse bereits nach wenigen Tagen eine sehr enge Freundschaften geknüpft und freut sich mit ihrer Kollegin in die Schule zu kommen. Zu Weihnachten hat sie sich eine Holz-Murmelbahn zum Zusammenbauen, eine qietschpinke Kamera und eine Lesefibel gewünscht. Die Eltern wissen noch nicht, ob sie den letzten Wunsch erfüllen sollen. Sie haben Angst, dass sich dadurch der Eindruck verstärken könnte, sie wollten ihre Tochter zum Bildungserfolg pushen.

Jeden Freitagmorgen wird Milou im Kindergarten von einer dafür ausgebildeten Fachperson mit zwei anderen Kinder in einer Gruppe speziell gefördert. Dort soll sie herausforderndere Aufgaben meistern und auch erfahren, dass mehr Mut guttut.

*Milou lebt in Zürich und besucht dort seit September die erste Kindergartenklasse. Ihr Name wurde auf Wunsch der Eltern geändert.

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