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«Alkoholabhängigkeit ist nach wie vor ein Tabuthema»

Etwa jedes siebte Kind wächst in einer alkoholbelasteten Familie auf. Das kann schwerwiegende Folgen haben. Um diese zu mildern, gibt es bei der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme (ZFA) ein Gruppenangebot für Kinder. Über Alkoholsucht und das Angebot der ZFA spricht Kinder- und Jugendpsychologin Renate Gasser im Interview.

Wenn Eltern eine Alkoholsucht haben, leiden die Kinder.
Leiden Eltern an einer Alkoholsucht, kann das bei Kindern schwerwiegende Folgen haben. Foto: iStock, gashgeron, Thinkstock

Wie merken Kinder, dass Eltern ein Alkoholproblem haben?

Renate Gasser: Sie merken schnell, dass etwas nicht stimmt. Sie spüren die Anspannung zu Hause, sie merken, dass sie keine Freunde nach Hause bringen dürfen oder dass es generell weniger Besuch zu Hause gibt. Viele können das Problem aber nicht benennen. Sie müssen dafür schon die Sprache haben und sind darauf angewiesen, dass es von jemandem in ihrem Umfeld benannt wird.

Wie fühlen sich die Kinder?

Oft fühlen sie sich unsicher oder werden von Ängsten geplagt.  Der Erziehungsstil ihrer Eltern ist nicht konsequent. Ein betrunkener Vater kann sich beispielsweise am Abend wegen einer Kleinigkeit wie herumstehenden Schuhen wahnsinnig aufregen. Am nächsten Tag interessieren ihn dieselben Schuhe nicht mehr und er realisiert, dass er völlig übertrieben hat und zu streng war. Um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, bringt er seinem Kind ein Geschenk nach Hause. Er verwöhnt es. Das verursacht innerhalb des Kindes ein emotionales Durcheinander. Es weiss nicht mehr, was gilt und welche Konsequenzen sein Verhalten hat.

Können Eltern ihren Erziehungsaufgaben überhaupt noch gerecht werden, wenn sie so inkonsequent sind?

Das kommt auf den Fall an. Es ist nicht per se so, dass Eltern, die eine Suchterkrankung haben, das nicht können. Man muss jeweils genau anschauen, ob die Eltern ihre Erziehungsaufgaben wahrnehmen, insbesondere ob die kindlichen Bedürfnisse abgedeckt sind.

Ist es nicht die bessere Lösung, die Kinder in ein Kinderheim oder zu Pflegefamilien zu geben, um sie zu schützen?

Generell kann man das so nicht sagen. Ist nur ein Elternteil erkrankt, kann der andere viel kompensieren. Wenn beide Elternteile von einer Suchtbelastung betroffen sind, wird es schwieriger. Sie sind dann sehr stark auf Unterstützung angewiesen. Heute geht die Tendenz dazu, die Familien zu begleiten. Wenn aber das Kindeswohl gefährdet ist, müssen Konsequenzen gezogen werden.

Wer entscheidet das?

Über eine Gefährdungsmeldung wird die Vormundschaftsbehörde eingeschaltet, welche von Fall zu Fall entscheidet. Lehrer, ein getrennt lebender Elternteil und andere Privatpersonen können eine solche Gefährdungsmeldung einreichen. Ist das Kindeswohl gefährdet? Braucht es Kinderschutzmassnahmen, die eine gute Entwicklung sicherstellen? Kommen andere Risikofaktoren hinzu wie beispielsweise Gewalt, schreitet man natürlich schneller ein.

Welche Folgen kann die Alkoholabhängigkeit der Eltern auf die Kinder haben?

Das kommt auf den Entwicklungsstand des Kindes an, wie lange das Suchtproblem besteht und welche Mengen der betroffene Elternteil konsumiert. Folgen können sein, dass es für die Kinder sehr schwierig wird, eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Das Urvertrauen wird beeinträchtigt. Die Verlässlichkeit fehlt. Hinzu kommt, dass es in der Familie vielleicht mehr Streit gibt oder finanzielle Probleme auftreten können, weil beispielsweise der suchtkranke Elternteil keine Arbeit mehr hat. Wir schätzen, dass rund ein Drittel der Kinder aus suchtbelasteten Familien das Erwachsenenalter recht unbeschadet erreicht, ein Drittel hat häufig einen schwierigen Umgang mit Suchtmitteln und ein Drittel ist anfällig für psychische Erkrankungen. Wird während der Schwangerschaft getrunken, nimmt eine werdende Mutter zusätzliche Schädigungen des Kindes in kauf.

Warum fühlen sich Kinder häufig schuldig an der Sucht?

Wenn sie klein sind, können sie das Verhalten der Eltern nicht richtig einordnen und stellen einen Bezug zu sich selber her. Kinder beziehen in diesem Alter sowieso viel auf sich selbst. Ich will das so erklären: Erziehungsaufgaben sind eine grosse Herausforderung. Viele Eltern kommen an Grenzen. Alkohol ist etwas, das kurzfristig entspannt – auch nach Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern. Da können Kinder schon einmal den Schluss daraus ziehen: Ich bin nicht artig gewesen, meine Mutter hat sich wegen mir aufgeregt, deshalb trinkt sie jetzt.

Können Kinder ihren Eltern helfen, von der Sucht wegzukommen?

Nein, aber sie können indirekt helfen. Wenn Eltern merken, dass ihr Problem für ihr Kind furchtbar ist, lassen sie sich dem Kind zu Liebe vielleicht helfen. Je nach Situation kann es schon eine Wirkung zeigen, wenn das Kind zu den Eltern sagt: «Der Papi riecht nach Alkohol.» «Ich mag nicht, dass du mich so aus der Schule abholen kommst.» «Nein,ich möchte nicht mit dir ins Restaurant.»

Im Prinzip muss aber derjenige, der das Suchtproblem hat, selbst sagen: «Ich will mir helfen lassen.»

Ja, die Mitmenschen sind nur der Motor. Solange keine Eigenmotivation da ist, wird es schwierig. Ich als Therapeutin kann den Menschen nicht verändern. Aber ich kann seinen Willen etwas verändern zu wollen stärken. Das funktioniert auch bei Kindern. Sie können beispielsweise in unserer Einzeltherapie oder in der Gruppentherapie lernen, was sie tun können, damit es ihnen besser geht. Wie kann ich mich schützen? Wie kann ich nein sagen?

Es ist sicherlich frustrierend für Kinder, dass sie nur etwas für sich tun können und nicht für den alkoholkranken Elternteil.

Frustrierend ja, andererseits lernen sie in unserer Gruppe aber viel für das eigene Leben.

Die Alkoholsucht der Eltern hat auch Einfluss auf die Kinder.
Alkoholsucht ist immer noch ein Tabuthema.

Sicher ist es aber ungewöhnlich, dass Kinder selbst Hilfe suchen.

Kinder kommen nicht von selber zu uns. Bei Jugendlichen sieht es etwas anders aus. In den meisten Fällen merken der Schulsozialarbeiter oder Lehrer, dass es einem Kind nicht gut geht und es seine üblichen Leistungen nicht mehr bringt. Über das Elterngespräch wird versucht, herauszubekommen, was in der Familie los sein könnte. Bis es zu einer Anmeldung bei uns kommt, ist es häufig ein sehr langer Weg. Wir kennen aber auch einige Jugendliche, die sich enorm gegen die Situation zu Hause wehren und sich zum Beispiel einem Lehrer anvertrauen. Das ist aber selten.  Schon eher kommen Mütter auf uns zu, die sich bereits vom alkoholabhängigen Partner getrennt haben, die realisieren, dass ihr Kind Hilfe bräuchte.

Wie können Kinder besser erreicht werden?

Alkoholabhängigkeit ist nach wie vor ein Tabuthema, obwohl 5 Prozent der Schweizer Bevölkerung davon betroffen sind und 10 bis 15 Prozent einen problematischen Umgang mit Alkohol pflegen. Auch, dass Kinder unter einem alkoholkranken Elternteil leiden, geht oft vergessen. Indem wir einerseits das Angebot für Kinder zur Verfügung stellen und andererseits immer wieder versuchen das mediale Interesse auf dieses Thema zu lenken und wir uns mit den relevanten Institutionen vernetzen, können wir hoffentlich die Hemmschwelle, Hilfe zu beanspruchen, senken.

Deshalb gibt es bei Ihnen, der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme, eine Gruppe für Kinder aus suchtbelasteten Familien. Was wird in der Gruppe für Kinder gemacht?

Der Vorteil der Gruppe ist, dass ein Austausch untereinander stattfinden kann. Die Kinder erfahren, dass sie nicht allein mit dem Problem sind. Wir schliessen in der Gruppe Informationslücken: Was ist Alkoholsucht? Wie wirkt sie? Die Kinder bringen ihre Erfahrungen ein. Sie setzen sich ausserdem mit einem Thema auseinander, das wir oder sie vorgeben. Anhand von Geschichten setzen sie sich mit Themen wie Scham, Schuld, Angst oder Nein sagen auseinander. So erhalten sie Ideen für ihren Alltag. Es gibt ausserdem Theaterspiele, Rollenspiele oder wir malen. In der Gruppe wird viel gelacht und es gibt Zvieri. Es geht auch darum, es schön miteinander zu haben.

Welchen Erfolg haben Sie mit diesem Angebot?

Ich begleite die Kinder über eine gewisse Zeit und beobachte natürlich deren Entwicklungsschritte. Das ist ein Teil meines Jobs. In Gesprächen mit der Mutter oder dem Vater erhalte ich zusätzliche Rückmeldungen bezüglich der Situation zu Hause und wie sich das Kind darin verhält. Aber auch die Kinder selber teilen sich mit. Auf den Feedbackfragebogen lesen wir zum Beispiel auf die Frage: Was ist das wichtigste, was ich gelernt habe? «Ich kann nichts dafür, dass meine Eltern Alkoholprobleme haben.» «Ich bin nicht schuld, dass mein Papi trinkt.» «Ich habe Sicherheit, dass ich nicht allein bin.» «Ich habe weniger Stress.» Es kann auch sein, dass parallel zum Kurs, den die Kinder machen, der Vater oder die Mutter aufhören zu trinken, was dem positiven Prozess des Kindes natürlich am förderlichsten ist

Das ist aber sicher selten.

Nein. Wir gehen davon aus, dass Sucht eine Erkrankung ist, die man zum Stillstand bringen kann. Kinder sind ein Lebensinhalt: Mit ihnen will man es sich in der Regel nicht verspielen. Wir erheben zum Beispiel Zahlen zum Alkoholkonsum unserer erwachsenen Klientinnen und Klienten bei Eintritt. Von denjenigen, egal ob Eltern oder kinderlos, die nach vier oder mehr Konsultationen die ZFA wieder verlassen, haben 43 Prozent eine Alkoholabstinenz erreicht und weitere 32 Prozent reduzierten ihre Konsummenge während dieser Zeit um durchschnittlich 70 Prozent.

Renate Gasser ist Kinderpsychologin bei der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme.

Renate Gasser

Renate Gasser ist Psychotherapeutin sowie Kinder- und Jugendpsychologin bei der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme (ZFA). Sie leitet die Gruppe für Kinder aus alkoholbelasteten Familien und führt auch Einzeltherapien durch. In Bern hat sie Kinder- und Jugendpsychologie studiert. Danach war sie als Sozialpädagogin, Erziehungsberaterin und Psychologin in verschiedenen Institutionen tätig. Seit September 2010 ist sie bei der ZFA.



Foto: ZFA

 

 

 

Angebote der ZFA für Familien

Gruppe für Kinder

In der Gruppe treffen sich Kinder aus suchtbelasteten Familien. Sie ist für Kinder von 8 bis 14 Jahren. Der Kurs sieht zehn Treffen vor.

Einzeltherapie

Für Kinder aus suchtbelasteten Familien bietet die ZFA Einzelgespräche, Begleitung und Therapie an. Das ist für Kinder ab 5 Jahren geeignet.

AlcoCheck für Jugendliche

Der AlcoCheck ist für Jugendliche und junge Erwachsene mit auffälligem oder risikoreichem Alkoholkonsum. Es werden Einzelgespräche und Gruppenkurse angeboten.

www.alcocheck.ch

Eltern und Sucht

Dieses Gruppenangebot richtet sich an Eltern, die selbst von der Alkoholsucht betroffen sind oder einen Partner haben, der einen schwierigen Umgang mit Alkohol hat. Der Kurs findet an 4 Abenden statt.

Weitere Informationen zu den Angeboten finden Sie unter www.zfa.ch

Online-Angebote für Kinder aus alkoholbelasteten Familien

 

 

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