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Frühgeburt in der 29. SSW: Ein Erfahrungsbericht

Bei einer Vorsorgeuntersuchung in der 29. Woche erfährt Evelyn, dass ihr Baby aufgehört hat, zu wachsen. Zwei Tage später kommt ihr Sohn auf die Welt. Er wiegt weniger als ein Kilo und verbringt seine ersten sieben Lebenswochen im Spital. In einem Interview mit Familienleben erzählt uns Evelyn, wie sie diese schwierige Zeit erlebt hat. 

Frühchen verbringen ihren Lebensanfang meist in einem Inkubator.
Frühchen verbringen ihren Lebensanfang meist in einem Brutkasten. © Sharon McCutcheon, Unsplash

In der Schweiz kommt rund jedes 12. Kind zu früh auf die Welt. Evelyns Sohn war einer davon. Im Interview mit der Familienleben-Redaktion erzählt sie ihre Geschichte und gibt anderen Frühchen-Eltern wertvolle Tipps mit auf den Weg. 

Liebe Evelyn, wie früh kam dein Sohn auf die Welt?

Mein Sohn kam in der 29. Schwangerschaftswoche auf die Welt. Er wog 780 Gramm und war 34 Zentimeter gross.

Bei einer normalen Vorsorgeuntersuchung wurde mir damals gesagt, mein Baby wäre viel zu klein und ich müsse sofort ins Spital. Zwei Tage später kam er dann auf die Welt. Da er Wochen zuvor aufgehört hatte zu wachsen, hätte er keinen Tag länger im Bauch überlebt. Er verbrachte dann sieben Wochen auf der Neonatologie.

Frühgeburt: Wenn es dein Baby eilig hat

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- © Getty Images, Ondrooo

Jedes Baby, welches vor der abgeschlossenen 38. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt, braucht eine sorgfältige medizinische Betreuung. In unserem Artikel findest du noch mehr Informationen zur Frühgeburt. 

Wie hast du diese sieben Wochen erlebt?

Man lebt Tag für Tag. Wir hatten auf der Neonatologie eine gute Erfahrung, es waren grossartige Leute dort. Aber alles, was sie dir sagen können, ist der Tageszustand deines Babys und dieser kann sich von Tag zu Tag stark verändern. Man hat keine Anhaltspunkte dazu, wann man ihn nach Hause nehmen kann. Das lehrt dich viel Geduld.

Während jener Zeit war ich den ganzen Tag im Spital, mein Partner kam jeweils abends.

Was war das Schwierigste? Was hat euch am meisten belastet in dieser Zeit?

Der Körper ist darauf vorbereitet, dass du neun Monate schwanger bist, doch man hat das Baby von einem Tag auf den anderen rausgenommen. Die Schwangerschaft ist im Prinzip nicht beendet. Das war sehr schwer, auch körperlich.

Ich war fünf Tage im Spital. Anfangs habe ich Morphium bekommen, dadurch ging es mir recht gut. Es dämpft dich gefühlsmässig. Als ich dann aus dem Spital entlassen wurde, fiel ich in ein Loch. Einerseits lag es daran, dass ich mein Baby nicht nach Hause nehmen konnte. Andererseits habe ich mich davor gefürchtet, meinen Sohn zu lieben. Ich hatte Angst, dass bei mir starke Gefühle entstehen und er dies nicht überlebt. Dann wäre alles noch viel härter gewesen.

Ich hatte Angst davor, meinen Sohn zu lieben.

Das Spital hat mir eine Psychologin gestellt. Mir ihr konnte ich über alles reden. Sie hat mir dann gesagt, dass die Kleinen die Liebe der Eltern spüren und auch anhand dieser überleben. Das hat mir sehr geholfen.

Die schlimmsten Momente waren, abends aus dem Spital zu gehen und nicht zu wissen, ob er am nächsten Morgen noch da sein würde. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich nach Hause bin, um zu schlafen. Ich bin dort rausgelaufen und habe wie wahnsinnig geweint. Ich konnte mich den ganzen restlichen Abend jeweils gar nicht mehr beherrschen. Aber ich musste das ja tun, um mich selbst auch etwas zu erholen.

💡 So viele Frühgeburten gibt es in der Schweiz 💡

Die Zahl der Frühgeburten blieb hierzulande in den letzten Jahren konstant bei rund 6.5 Prozent. Das sind über 5000 Kinder pro Jahr.

Gibt es etwas, was dir in dieser Zeit sehr geholfen hat?

Ich hatte eine grossartige Hebamme, mit der ich ehrlich von der Seele weg sprechen konnte. Mit ihr habe ich heute noch Kontakt. Auch die Psychologin vom Spital hat mir sehr geholfen.

Anfangs kennt man die Situation nicht und hat wirklich das Gefühl, man ginge daran kaputt. Solche Unterstützung ist dann viel wert.

Wie war es dann, als du deinen Sohn mit nach Hause nehmen durftest?

Wir haben einen Tag vorher erfahren, dass wir unseren Sohn endlich nach Hause nehmen dürfen. Die Beziehung zwischen mir und meinem Partner war bereits sehr belastet. Er ist mit der Frühgeburt ganz anders umgegangen als ich. Wir hatten extrem Mühe miteinander. Schliesslich haben wir uns getrennt. Das war ein einschneidendes Erlebnis. Du gehst mit einem kleinen Baby nach Hause, welches nur zwei Kilo wiegt, und dann trennst du dich noch von deinem Partner.

Ich habe ständig nachgeschaut, ob er noch atmet.

Als wir unseren Sohn zuhause hatten, war es wunderschön, aber auch schwierig. Im Spital sind die Kleinen stets an einen Monitor angeschlossen. Dieser zeigt an, falls sie Atemausfälle haben oder etwas mit dem Herzschlag nicht stimmt. Und plötzlich ist dieser Monitor nicht mehr. Damit war ich überfordert.

Ich habe lange Zeit nicht wirklich geschlafen, weil ich immer nachgeschaut habe, ob er noch atmet. Das mache ich heute noch. Mein Sohn ist heute sechs Jahre alt. Ich schaue jede Nacht 3-4-mal in sein Zimmer und schaue, ob er atmet. Jene Zeit hat mich einfach geprägt.

Was hat dich diese Zeit gelehrt?

Ich habe in dieser Zeit wahnsinnig viel Geduld gelernt. Ich habe gelernt, Tag für Tag zu leben. Ich habe gelernt, im Moment zu leben und zu schätzen, was gerade ist. Ich habe an den kleinen Fortschritten festgehalten und auf ihnen aufgebaut.

Was würdest du anderen Eltern raten, die sich in einer ähnlichen Situation befinden?

Man darf sich selbst nicht die Schuld geben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich habe mir lange die Schuld an der Situation gegeben. Das hat mir schlussendlich viel Energie geraubt. Aber es kann niemand etwas dafür, dass dein Baby so früh geboren ist.

Man darf sich nicht die Schuld geben.

Wichtig ist es auch, dass man auf sich selbst schaut. Es ist klar, dass man sich in dieser Zeit komplett dem Baby widmen möchte. Ich musste schauen, dass ich mich nachts erholen konnte, damit ich tagsüber für meinen Sohn da sein konnte.

Abschliessend würde ich sagen: Du musst den Moment leben. Du musst Tag für Tag leben. Auch an den Tagen, an dem es deinem Baby nicht so gut geht, darfst du nicht die Hoffnung verlieren.

Welche Gedanken kommen auf, wenn du jetzt an diese Zeit zurückdenkst?

Ich habe das Gefühl, dass wir die Situation gut gemeistert haben, obwohl wir schlussendlich getrennte Wege gegangen sind. Was ich heute etwas bereue, ist, dass ich uns als Familie nie eine Chance gegeben habe. Aber das ist eine Sache der Familie.

📚 Ressourcen für Frühchen-Eltern 📚

Wenn dein Nachwuchs ein Frühchen ist, hast du bestimmt viele Sorgen und Fragen. 

Auf der Webseite des Bundesverbandes für das frühgeborene Kind findest du zahlreiche Artikel rund um das Thema Frühgeburt und Frühchen. Wenn du dich mit anderen Frühchen-Eltern austauschen möchtest, kannst du das beispielsweise in einer Selbsthilfegruppe tun.

Möchtest du andere Frühchen-Eltern und ihre Kleinen mental unterstützen, kannst du dich beim Verein Oktopus für Frühchen engagieren. Der Verein häkelt süsse Oktopus-Plüschtiere, die dann an Frühchen-Stationen gespendet werden. Jedes Frühchen im Spital soll einen kleinen Oktopus bekommen. 

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