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Jugendliche leiden besonders unter ADHS

Wenn von ADHS die Rede ist, drängt sich das Bild des kleinen Zappelphilipps auf, der einfach nicht still sitzen kann. Doch es sind vor allem die Jugendlichen, die am stärksten unter der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung leiden.

ADHS ist eine der häufigsten und bekanntesten Störungen im Jugendalter.
Mit zunehmendem Alter wird mehr Aufmerksamkeit gefordert. ADHS macht sich deshalb oft erst im Jugendalter bemerkbar. Foto: monkeybusinessimages, iStock, Thinkstock.

Tim war schon immer ein agiler, impulsiver Junge, dem es schwer fiel, still zu sitzen, und Konzentrationsschwierigkeiten hatte. Jetzt, als Teenager, ist er zwar ruhiger geworden, doch unaufmerksamer und ablenkbarer denn je. «Vielleicht hat er ja ADHS», sagt eine Verwandte, ohne diese Vermutung ganz ernst zu meinen. Doch tatsächlich wird die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung manchmal erst im Jugendalter diagnostiziert.

ADHS: Entwicklungsstörung mit Folgen

«Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der häufigsten und bekanntesten Störungen im Kindes- und Jugendalter», erklärt die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Zürich. «Kennzeichnend sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, wobei Beeinträchtigungen in diesen Bereichen im Einzelfall unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.» Betroffene können ihre Aufmerksamkeit kaum auf Tätigkeiten und Themen lenken, für die ihr Interesse gering ist. Sie haben ausgeprägte Schwierigkeiten zu organisieren und Prioritäten zu setzen. Oft handeln sie unüberlegt und impulsiv und überraschen durch heftige Gefühlsausbrüche. Fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz haben eine ADHS-Diagnose, berichtete die NZZ.

Hyperaktiv: In der Jugend ein besonderes Problem

Dass ADHS manchmal während der Kindheit unerkannt bleibt und erst im Jugendalter diagnostiziert wird, mag auf den ersten Blick verwundern. Doch Aufmerksamkeitsdefizite fallen möglicherweise in der Grundschule noch nicht so ins Gewicht. Zum besonderen Problem werden sie erst, wenn die Lerninhalte komplexer werden und es auf den Schulabschluss zugeht. «Mit zunehmendem Alter wird die Aufmerksamkeit stärker gefordert. Also machen sich diese Probleme erst später bemerkbar», sagte der amerikanische Psychologe Thomas E. Brown der NZZ.

Angegriffenes Selbstwertgefühl

Weil die schulischen Anforderungen grösser werden, leiden Jugendliche besonders unter der Störung ADHS. Die Unruhe, die sie mit sich bringt, hat sich bei ihnen zwar meist gelegt. Weil sie sich trotz aller Anstrengung oft nicht konzentrieren können, besteht die Gefahr, dass die Selbstzweifel mit den Schulproblemen wachsen. Auch die Kindheit, in der die Betroffenen immer wieder bei Schulkameraden, Lehrern und Erwachsenen angeeckt sind, hat ihre Kratzer im Selbstwertgefühl hinterlassen. Oft wurden sie von Gleichaltrigen ausgegrenzt, die sich von ihnen gestört fühlten. Häufig wurden sie von Erwachsenen ermahnt, ruhiger zu sein. Und immer wieder wurden sie von Lehrern aufgefordert, sich besser zu konzentrieren. Viele Jugendliche mit ADHS sehen sich deshalb als Aussenseiter oder Versager. Die Gefahr besteht, dass sie zu Drogen und Alkohol greifen, im Extremsport Bestätigung oder in einer Jugendbande Anerkennung suchen. «Auch depressive Entwicklungen bis hin zum Suizid(versuch) kommen vor», warnt die Schweizerische Gesellschaft für kognitive Verhaltenstherapie.

ADHS oder einfach nur Pubertät?

Unaufmerksamkeit, Unkonzentriertheit und Impulsivität, unüberlegtes Handeln und starke Gefühlsausbrüche sind nicht nur Symptome von ADHS, sondern auch zuverlässige Begleiter der Pubertät. Für Eltern ist es deshalb schwer zu entscheiden, ob das Kind sich einfach pubertär verhält oder ob eine Störung vorliegt. Ein Jugendlicher, der unter ADHS leidet, hat sich allerdings meist schon als Kleinkind auffällig verhalten. In der Schule hat er unter Lernschwierigkeiten gelitten, weil er sich oft, aber nicht immer, ungenügend konzentriert hat. «Treten Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme hingegen plötzlich auf oder beginnen erst spät, zum Beispiel nach dem Übertritt in eine höhere Klasse, bei Konflikten mit Gleichaltrigen oder innerhalb der Familie, handelt es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht um ein ADHS, sondern um die Folge einer anderen Problematik wie zum Beispiel schulische Überforderung, Depression, Angst», erklärt die Schweizerische Gesellschaft für kognitive Verhaltenstherapie. Um abzuklären, ob der Teenager tatsächlich ADHS hat, ist ein Besuch beim Facharzt notwendig.

Neigung vererbbar

Das Gehirn von Jugendlichen, die ADHS haben, arbeitet anders. «Kinder mit ADHS zeigen einen veränderten Hirnstoffwechsel in bestimmten Hirnregionen», erklärt die Schweizerische Gesellschaft für kognitive Verhaltenstherapie. Die Neigung zu Schwierigkeiten der Selbstregulation und des Selbstmanagements sind zu einem grossen Teil angeboren. Ein Kind mit einem Elternteil, der auch ADHS hatte, bekommt mit einer acht Mal grösseren Wahrscheinlichkeit auch ADHS, als Kinder, deren Eltern nicht betroffen sind. Ob aus der hohen genetische Neigung auch ADHS wird, hängt von Umweltbedingungen ab. Risikofaktoren sind zum Beispiel Rauchen und Stress während der Schwangerschaft und Sauerstoffmangel bei der Geburt.» Die Theorie, dass ADHS auch durch schwierige Familienverhältnisse ausgelöst wird, ist heute umstritten.

Behandlung von Teenagern

Die Behandlung von ADHS besteht in der Regel aus mehreren Bausteinen. Dazu gehören Medikamente ebenso wie eine Verhaltenstherapie. Bei Jugendlichen, die in ihrem Sozialverhalten stark beeinträchtigt sind oder die unter einer weiteren Störung leiden, kommt auch eine Psychotherapie in Frage. Wichtig ist, die Jugendlichen und ihre Eltern aufzuklären. Zu wissen, woher Unruhe und Unaufmerksamkeit stammen, kann schnell zu einer ersten Entspannung führen. «Ich kann gar nichts dafür!», «Ich mache nichts falsch», sind beruhigende Erkenntnisse

ADHS: Medikamente umstritten

Ritalin ist das am häufigsten verwendete Medikament zur Behandlung von ADHS. Es verbessert den Hirnstoffwechsel in den Hirnregionen, die für die Selbststeuerung und Selbstkontrolle zuständig sind. Gleichzeitig hat Ritalin auch Nebenwirkungen wie zum Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Magenbeschwerden. Doch die Fachwelt betont immer wieder den Nutzen des Medikaments. «Will man einen Primarschüler dazu bringen, zuerst seine Hand zu heben, bevor er redet, oder dass er auf seinem Stuhl sitzen bleibt – das sind Verhaltensweisen, die man mit Verhaltenstherapien oft gut angehen kann. Im Gegensatz dazu wird sich bei einem Highschool-Schüler, der Schwierigkeiten hat, sich an das zu erinnern, was er für die Schule gerade gelesen hat, mit einer Verhaltenstherapie nichts ändern», sagte der amerikanische Psychologe Thomas E. Brown der NZZ.

ADHS bei Jugendlichen behandeln: Besondere Herausforderung

Jugendliche wollen ihr Leben zunehmend selbst in die Hand nehmen. Jugendliche mit ADHS stehen sich jedoch durch Impulsivität und ihre mangelnde Aufmerksamkeit dabei oft selbst im Weg. Sie brauchen also genau die Anleitung, die sie nicht wollen. «Dem Streben nach Selbstbestimmung von Jugendlichen steht die Schutz- und Unterstützungsbedürftigkeit, die sich aus der ADHS ergibt, gegenüber», so formuliert der Berner Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie Thomas Barth im Mitteilungsblatt der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS diesen Zusammenhang. Wichtig ist deshalb, dass Jugendliche mit gut geschulten Therapeuten zusammenarbeiten, die auf die Probleme der Pubertät feinfühlig eingehen.

Stärken betonen, nicht Schwächen

Jugendliche sind auf der Suche nach ihrer Identität. Weil ADHS häufig stark an ihrem positiven Selbstbild rüttelt, sollten Teenager und auch ihre Eltern besonders ihre Talente und Begabungen wertschätzen. Wichtig ist, dass Jugendliche mit ADHS viele Möglichkeiten haben, ihre Stärken zu nutzen und weiter zu entfalten – in der Schule, in Vereinen oder Kursen. Und sie sollten wissen, dass ADHS nichts mit Intelligenz zu hat. «Man kann irgendetwas zwischen minderbegabt und ein Genie sein und immer noch ADHS haben», sagte der amerikanische Psychologe Thomas E. Brown der NZZ. Hilfreich ist auch das Wissen, dass sich ADHS meistens im Erwachsenenalter legt. Kompetente Ansprechpartner bei Fragen rund um ADHS sind die Schweizerische Fachgesellschaft ADHS und der Verein für Betroffene von POS/ADHS.

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