Gesundheit > Therapien & HilfeGenerational Trauma: «Wie die Eltern mit ihren Kindern interagieren ist wichtig»Ein Trauma kann nicht nur das eigene Leben prägen, sondern in Form eines Generational Trauma auch die Beziehung zu den eigenen Kindern beeinflussen. Wie wirkt sich das auf die Familie aus – und was hilft, um diesen Kreislauf zu durchbrechen? Die Psychologin und Traumaforscherin Prof. Dr. Rahel Bachem erklärt, warum Eltern ihre eigene Geschichte reflektieren sollten und welche Unterstützung es gibt. Vanessa Gygax Generational Trauma: Kinder spüren, wenn die Eltern leiden. © Nadezhda1906 / iStock / Getty Images Plus Ein Trauma betrifft nicht nur die betroffene Person selbst – es kann sich auch auf die ganze Familie und nachfolgende Generationen auswirken. Tritt letzteres ein, spricht man von einem Generational Trauma. Doch wie genau beeinflusst ein Trauma das Familienleben? Was bedeutet das für die Eltern-Kind-Beziehung? Und welche Möglichkeiten gibt es, damit umzugehen? Prof. Dr. Rahel Bachem beschäftigt sich mit genau diesen Fragen. Im Interview spricht sie über die Auswirkungen traumatischer Erlebnisse, wie Eltern ihre Kinder schützen können und warum es so wichtig ist, über Belastungen zu sprechen. Zur Person: Prof. Dr. Rahel Bachem, Ph.D. © zVg Rahel Bachem, Jahrgang 1985, hat Psychologie studiert und doktoriert an der Universität Zürich. In Israel hat Rahel Bachem an intergenerationalem Traumatransfer geforscht und herausgefunden, wie Kinder vom Trauma der früheren Genration beeinflusst werden. Die eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin hat vor kurzem ihre eigene Praxis eröffnet und eine Professur an der Ostschweizer Fachhochschule angetreten, wo sie sich Eltern mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung widmet – ihrem Herzensprojekt. Rahel, zuerst einmal: Wann spricht man von einem Trauma? Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff «Trauma» wahnsinnig häufig verwendet. Fast alles, was gerade stresst, ist ein Trauma. In der Psychologie definieren wir den Begriff enger: Von einem Trauma sprechen wir, wenn ein Ereignis als extrem bedrohlich oder entsetzlich erlebt wird. In der Regel geht es um Situationen, die eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit darstellen. Also sexuelle und körperliche Gewalt, Unfälle, Naturkatastrophen und ähnliches. Es muss aber nicht immer die eigene körperliche Unversehrtheit sein. Wenn man beispielsweise miterlebt, wie jemand bei einem Autounfall ums Leben kommt, kann es ebenfalls ein potentielles traumatisches Erlebnis sein. In der Psychologie unterscheiden wir zwischen einem Trauma und den Traumafolgen. Nicht jeder Mensch, der ein Trauma überlebt hat, entwickelt eine psychische Störung wie eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder andere Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen. Was kann bei Kindern ein Trauma auslösen? Grundsätzlich gilt: Alles, was bei Erwachsenen eine Traumafolgestörung auslösen kann, kann auch bei Kindern eine solche auslösen. Weil Kinder aber von ihren Eltern stark abhängig sind, gibt es eine Besonderheit, die aktuell in der Fachliteratur diskutiert wird: Obwohl emotionale Vernachlässigung, Missbrauch oder schweres Mobbing keine direkte Gefahr für Leib und Leben darstellen, können sie für Kinder eine existentielle Bedrohung sein – insbesondere, wenn die eigenen Eltern die Täter:innen sind. Da Kinder auf die Fürsorge und Wertschätzung ihrer Eltern angewiesen sind, erscheint es mir sinnvoll, auch in diesen Fällen von einem Trauma zu sprechen. Wenn aber im erwachsenen Alter beispielsweise Mobbing am Arbeitsplatz stattfindet, gehört das eben nicht dazu. Wie bemerke ich, ob es sich um eine posttraumatische Belastungsstörung handelt? Die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung bedeutet bei Kindern und Erwachsenen, dass Symptome in drei Bereichen vorliegen: Wiedererleben des Traumas wie bei Flashbacks oder Albträumen Vermeidungsverhalten von Orten, Objekten oder von externen Reizen, die Erinnerungen ans Trauma triggern, aber auch innere Vermeidung von eigenen Gefühlen und Gedanken ans Trauma Erhöhte Wahrnehmung von akuter Bedrohung Bei Kindern sind das jedoch nicht immer diese Symptome, die Eltern beobachten oder wahrnehmen. Dafür braucht es die kognitive Fähigkeit, um das innere Erleben zu beschreiben und zu verstehen. Gerade bei jüngeren Kindern bemerkt man eine PTBS häufig eher bei Verhaltensveränderungen. Beispielsweise wenn das Kind Schlafprobleme hat oder Rückschritte in der Entwicklung macht – beispielsweise, wenn der Nachwuchs das Bett nässt, nachdem er vorher trocken war. Oft zeigen zuvor ausgeglichene Kinder plötzlich starke Wutausbrüche oder eine erhöhte Reizbarkeit. Jugendliche können sich grundsätzlich gut ausdrücken und die Prozesse verstehen. Oft fällt es ihnen dennoch schwer, sich an die Eltern zu wenden. Bei Teenagern fällt den Eltern häufiger ein Risikoverhalten wie Substanzkonsum oder selbstverletzendes Verhalten auf. Was kann man als Eltern unternehmen, wenn sie diese Verhaltensänderungen bei ihrem Kind beobachten? Eltern können sich überlegen, ob professionelle Unterstützung hilfreich wäre, um besser zu verstehen, was mit ihrem Kind los ist. Bei Jugendlichen kann man im Gespräch versuchen herauszufinden, was gerade los ist, oder ihnen anbieten, mit einer Fachperson zu sprechen. Wenn das Kind dies ablehnt, kann man das weiter beobachten und vielleicht das Gespräch über die beobachteten Veränderungen führen. Teenager sind generell emotional – gerade auch bei Liebeskummer. Ich würde darum nicht alle emotionalen Teenager gleich in die Therapie schicken. Allerdings gibt es keinen Standard-Ratschlag, wann jemand in die Therapie soll. Meiner Erfahrung nach merken Eltern, wenn mit ihren Kindern tiefgreifend etwas nicht stimmt. Wenn mein Baby ein traumatisches Erlebnis hat, zeigt sich das auch später im Leben? Ein Baby erinnert sich in der Regel nicht an das Erlebte. Doch bei frühem, extremem Stress kann man Veränderungen auch in späteren Lebensphasen feststellen. Die aktuelle Forschung zeigt, dass extremer Stress Veränderungen an der Gen-Expression bewirken kann, die für die Stressbewältigung zuständig sind. Das sind aber relativ kleine Effekte, die noch weiter erforscht werden müssen.1 Letztlich ist es entscheidender, dass das Kind in einem stabilen, unterstützenden und liebevollen Umfeld aufwächst. So kann viel abgemildert oder ausgeglichen werden und die frühen Stresserfahrungen zeigen sich später nicht gezwungenermassen. Kann ein Trauma vererbt werden – Stichwort: Generational Trauma? Ja, ein traumatisches Erlebnis kann epigenetische Veränderungen hervorrufen, die die Aktivität von Genen und damit auch bestimmte Zellfunktionen beeinflussen. Diese Effekte sind weniger eindeutig und ausgeprägt als die psychosozialen Folgen. In meiner Forschung und in der Therapie beobachte ich vor allem, dass ein Trauma über Interaktion, Vermeidung und das Verhalten der traumatisierten Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Jeder Mensch erlebt Rückschritte und Schwierigkeiten im Leben. In der Forschung sehen wir deutlich, dass Eltern, die viel Stress erfahren haben und langfristig darunter leiden, die Kinder prägen. Wie beeinflusst denn ein Trauma der Eltern das Kind? Es ist bei meinen Patient:innen in der Regel so, dass sie sich unglaubliche Mühe geben, dass ihre persönliche Biografie möglichst wenig aufs Familienleben und die Kinder auswirkt. Doch oft ist dies nicht vollständig möglich, weil akute Belastungen und Stresssituationen auftreten. Eltern, die ein langanhaltendes, interpersonelles Trauma erlebt haben – also eines, das durch andere Menschen verursacht wurde – haben oft Schwierigkeiten, Bindungen aufzubauen und Nähe zu anderen zuzulassen, manchmal sogar zu ihren eigenen Kindern. Das spüren die Kinder und es prägt ihren späteren Bindungs- und Beziehungsstil. Die Interaktion der Eltern mit ihren Kindern und was ihnen vorgelebt wird, ist ebenfalls entscheidend. Nach einem schweren Trauma mit langfristigen Traumafolgen verändert sich die eigene Weltanschauung. Wird die Welt als ein positiver, vorhersehbarer Ort wahrgenommen, in dem Menschen wohlwollend sind? Ein Trauma, gerade wenn es von Menschen ausgelöst wurde, widerspricht dem: Es erschüttert das Gefühl von Kontrolle, Vorhersehbarkeit und Vertrauen in andere. Wenn Kinder im Elternhaus vorgelebt bekommen, dass die Welt gefährlich ist, ist das Potential gross, dass sie selbst starke Ängste entwickeln. Wie beeinflussen Belastungen dein Familienleben? Deine Erfahrung kann helfen Belastende Lebensereignisse und Traumata prägen nicht nur Betroffene selbst, sondern oft auch ihr Umfeld. In einer vom Schweizer Nationalfonds unterstützten Studie untersucht Dr. Prof. Rahel Bachem, wie sich solche Erlebnisse auf Elternschaft, Kinderbetreuung und das Familienleben auswirken. Ziel ist es, ein psychotherapeutisches Angebot und praktische Erziehungstipps zu entwickeln, die gezielt auf diese Bedürfnisse eingehen. Die Studienteilnahme ist freiwillig und anonym. Mehr zur Studie: unipark.de/uc/UZH-Trauma-und-Familie Wie ist es denn, wenn Eltern gar nicht über ihr Trauma reden? Wenn Kinder von den Eltern nicht lernen, dass negative Gefühle und Erlebnisse ausgesprochen werden können, neigen sie oft dazu, ebenfalls sehr vieles bei sich nach innen zu richten und es nicht aussprechen zu können. Dieses Schweigen über belastende Erlebnisse wird in der Fachliteratur als conspiracy of silence bezeichnet. Doch auch das Gegenteil kann problematisch sein: Manche Eltern sprechen zwar über ihr Trauma, tun dies jedoch nicht altersgerecht. Das kann Kinder überfordern, da sie noch nicht in der Lage sind, das Gesagte einzuordnen oder sich davon abzugrenzen. Was können Eltern tun, wenn sie ein Trauma erlebt haben? Der erste entscheidende Schritt ist, das eigene Trauma zu erkennen. Dazu gehören nicht nur die eigenen Symptome, sondern auch Veränderungen, die nicht direkt als psychische Störungen gelten wie veränderte Weltanschauungen oder Ängste. Dann kann man beginnen, das Erlebte zu reflektieren und bewusst zu thematisieren. Gerade für Eltern ist es essenziell, bewusst zu unterscheiden: Was gehört zur Vergangenheit, was zur Gegenwart – und welche Werte möchte ich an meine Kinder weitergeben? Einer der wichtigsten Faktoren für die psychische Gesundheit nach einem Trauma ist die Unterstützung durch das soziale Umfeld; sei es durch nahestehende Personen oder über spezielle Austauschplattformen. Hier findest du Hilfe Rede mit deinem Hausarzt oder deiner Hausärztin – sie können dich für die nächsten Schritte beraten. Pro Mente Sana Selbsthilfe Schweiz «Wie geht es dir?»-App Das heisst, ein Trauma kann man heilen, aber es wird nicht verschwinden? Eine therapeutische Unterstützung kann helfen, um über das Trauma zu sprechen. Fachpersonen können das Gespräch richtig einordnen und haben die passenden Methoden, um mit den posttraumatischen Symptomen umzugehen. Ein Trauma kann man nicht komplett weg therapieren, so als wäre es nie dagewesen. Aber man kann relevante Verbesserungen für die eigene Lebensqualität erreichen und neue Perspektiven eröffnen. Was bleibt, ist die Tatsache, dass das Trauma eine schwere Erfahrung war, die Spuren hinterlassen hat. Es bleiben Narben, aber es müssen keine offenen Wunden bleiben.Quellen Frühe Stresserfahrungen und Krankheitsvulnerabilität Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2016