Gesundheit > Therapien & Hilfe

«ADHS ist schwer zu erkennen!»

ADHS gilt als Modekrankheit. Umso wichtiger ist eine sorgfältige Abklärung. Warum von einfachen ADHS-Tests abzuraten ist und wie eine fachlich korrekte Diagnose abläuft, erklärt Dominik Robin von der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften an der ZHAW.

Kinder die unter ADHS leiden neigen häufig zu Hyperaktivität, Unkonzentriertheit und Impulsivität. Wie eine sorgfältige Abklärung aussehen kann.
Bild: Jason Roswell - Unsplash


Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, hat viele Labels und viele selbsternannte Experten. Den einen gilt sie als überschätzte «Modekrankheit», «Lehrerüberforderungs-Syndrom» oder «Erfindung der Pharmaindustrie», die anderen beklagen mit Ritalin-kaltgestellte Kinder und propagieren Frischluft und Ernährungsumstellung als die beste ADHS-Therapie oder versprechen mit ADHS-Online-Tests schnelle Gewissheit.

ADHS-Diagnosen haben in der Schweiz nicht zugenommen

Die Allgegenwärtigkeit des Themas auf allen Seiten, der Kümmerer und der Verleugner, hat dazu beigetragen, dass man heute sehr viel mehr über die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung weiss und sensibler auf ihre Symptome reagiert und wahrscheinlich auch häufiger korrekte Abklärungen vornimmt. Die Zahl der ADHS-Diagnosen ist seit Jahren relativ konstant auf demselben Niveau, wie eine Studie ZHAW untersuchte. Schätzungsweise sind fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung in unterschiedlicher Ausprägung von der Störung betroffen.

Den Kindern, die unter ADHS leiden, tut man mit Ferndiagnosen und Pseudo-Therapieangeboten auch keinen Gefallen. Sie brauchen Unterstützung und Förderung und gegebenenfalls eine Therapie. Denn teilweise leiden sie massiv unter den vielfältigen Symptomen der Krankheit. (Die Symptome und Ursachen werden im Artikel «Was ist ADHS» erklärt.)

Wie Eltern am besten vorgehen, wenn sie den Verdacht haben, ihr Kind könnte eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung haben, erklärt der Dominik Robin von Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur.

In welchem Alter tritt der Verdacht auf ADHS typischerweise auf?

Dominik Robin: ADHS kann schon im Kindergartenalter auffallen. Aber oftmals wird der Verdacht später geäussert; wenn das Kind zwischen sechs und zehn Jahre alt ist. Eltern oder das Umfeld bemerken dann häufig die ADHS-typischen Symptome wie Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, weil sie jetzt zu Problemen führen können.

Mit welchen Problemen sind Kinder mit ADHS häufig konfrontiert?

Dem Kind fällt es zum Beispiel schwer, sich an die Systematik des schulischen Alltags anzupassen. Es leidet unter dem Leistungsdruck – und funktioniert nicht wie gefordert. Ein Kind, das unter ADHS leidet, kann seine Aufmerksamkeit beispielsweise weniger gut auf Tätigkeiten, Themen oder Gespräche lenken, insbesondere dann, wenn es sich nur wenig für sie interessiert. Es fällt ihm schwer, zu organisieren und Prioritäten zu setzen. Ausserdem kann es sein, dass es unüberlegt handelt und zur Impulsivität neigt.

Von wem kommt in der Regel der Anstoss zu einer ADHS-Abklärung?

Meiner Erfahrung nach fallen diese Symptome oftmals zuerst den Müttern auf. Sie merken: «Da stimmt was nicht! » Aber auch Lehrer werden oft auf mögliche Anzeichen von ADHS aufmerksam, wenn ein Kind zum Beispiel kaum zuhören kann und die Lehrperson oder Mitschüler ständig unterbricht oder wenn ein Kind zwar still für sich, gleichzeitig aber unaufmerksam ist.

Lesen Sie auch: ADHS bei Kindern: Eine betroffene Mutter erzählt vom langen Weg bis zur Diagnose

Es gibt keinen anerkannten, empirisch geprüften «ADHS-Test».

Können Eltern davon ausgehen, dass Lehrer mit einem solchen Verdacht richtig liegen?

ADHS ist schwer zu erkennen! Lehrer, Heilpädagogen und Psychologen dürfen in der Regel keine ADHS-Diagnose stellen, sie können aber zu einer Abklärung raten. Mir ist jedoch keine Studie bekannt, aus der hervorgeht, wie oft zum Beispiel Lehrpersonen mit einem Verdacht richtig liegen.

Welchen ersten Schritt sollten Eltern unternehmen, um herauszufinden, ob ihr Kind ADHS hat?

Eine erste Anlaufstelle kann der Schulpsychologische Dienst sein. Dort findet unter anderem ein Gespräch zwischen Schulpsychologen, Eltern und Kind statt. Der Schulpsychologe versucht dabei, sich ein Bild von den Problemen in der Schule und zu Hause zu machen. Er gibt aufgrund dieses Gesprächs eine Einschätzung ab, ob ADHS vorliegen könnte.

Der Schulpsychologische Dienst hält ADHS für möglich. An wen sollten sich Eltern für eine verlässliche Diagnose wenden?

In der Regel wird eine ADHS-Diagnose von einem Kinderarzt, Kinderpädiater, Hausarzt, Kinderpsychiater oder einer Kinderpädiatrischen Abteilung in einem Unispital gestellt. Adressen von Fachärzten lassen sich auf den Internet-Seiten der Schweizer Fachgesellschaft ADHS finden. Spezialisiert auf ADHS ist zum Beispiel das Sozialpädiatrische Zentrum SPZ des Kantonsspitals Winterthur.

Die Gefahr einer Fehldiagnose besteht

Wie testet ein Arzt, ob ein Kind ADHS hat?

Es gibt in diesem Sinn keinen anerkannten, empirisch geprüften «ADHS-Test». Nur ein einziges Messinstrument zu benutzen, wäre nach heutigen Erkenntnissen ohnehin falsch, da ADHS mehrere Ursachen hat. Die Kriterien, die vorhanden sein müssen, damit ein Arzt ADHS diagnostizieren darf, sind zum Beispiel in der «Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten» (ICD, 10. Ausgabe), gegründet von der der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1994), definiert.

Wie geht eine Diagnose praktisch vor sich?

Der Arzt beobachtet das Kind über eine gewisse Zeit bezüglich der Symptome, er führt Gespräche mit den Eltern, teilweise auch mit der Schule, und er schaut, wo die Probleme auftreten und wie sich das Kind verhält. Ein einziger Test, zum Beispiel ein Fragebogen, reicht in diesem Zusammenhang nicht aus. Voraussetzung für eine Diagnose ist, dass die Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen, zum Beispiel zu Hause und in der Schule, und mindestens ununterbrochen über einen sechsmonatigen Zeitraum auftreten. Ausserdem muss ausgeschlossen werden können, dass die Symptome besser durch andere Erkrankungen erklärt werden können.

Wie hoch ist die Gefahr der Fehldiagnose?

Die Gefahr besteht, insbesondere dann, wenn keine sorgfältige Diagnose stattgefunden hat.

Ist eine Diagnose für das Kind überhaupt immer sinnvoll?

Das kommt auf die Situation des Kindes und der Familie an. Oftmals führt die Diagnose zu einer Erleichterung für die Familie und das Kind. Denn das Kind realisiert seine Probleme und schlussfolgert mit der Zeit: «Ich bin zu langsam! », «Ich bin zu unkonzentriert», «Mit mir stimmt etwas nicht.» Vielleicht wird es sogar in der Schule ausgegrenzt und stigmatisiert, weil sich Mitschüler gestört fühlen. Das führt zu einem immensen Leidensdruck! Und es besteht Gefahr, dass die Selbstzweifel mit den Schulproblemen weiter wachsen. Ist ADHS diagnostiziert, lässt sich dieser Leidensdruck mit Hilfe unterschiedlicher Therapien mindern.

Lesen Sie iauch wie eine gute ADHS-Therapie aussehen kann. Unter anderem beschäftigen wir uns dabei mit der Frage, wie sinnvoll eine medikamentöse Behandlung mit Ritalin ist.

Zur Person

Dominik Robin, lic. phil, ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Gesundheitswissenschaften der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Er beschäftigt sich seit mehreren Jahren im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte und Publikationen mit dem Thema ADHS. Unter anderem hat er untersucht, warum sich Eltern für eine medikamentöse Behandlung der ADHS ihrer Kinder entscheiden. Robin ist zudem Mitglied der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS. zhaw.ch

Neueste Artikel

Beliebte Artikel