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Gemeinsames Sorgerecht: Der gelebte Alltag ist entscheidend

Das gemeinsame Sorgerecht ist seit dem 1. Januar 2014 nach einer Scheidung oder Trennung die Regel. Was zunächst nach einer guten Lösung für das Kind klingt, bedeutet in der Realität nicht, dass die Eltern sich tatsächlich die Betreuung teilen.

Kind sieht streitenden Eltern zu
Das gemeinsame Sorgerecht löst nicht automatisch alle Konflikte, die bei einer Scheidung üblich sind. Bild: Pixland/Pixland, Thinkstock

Als Bundesrätin Simonetta Sommaruga im November 2011 den Entschluss des Bundesrates verkündete, dass die gemeinsame elterliche Sorge zur Regel werden soll, ging eine fast achtjährige Diskussion zu Ende. «Damit führen wir im Bereich der elterlichen Sorge die Gleichberechtigung ein», sagte Sommaruga damals vor den Medienvertretern. Mittlerweile ist das gemeinsame Sorgerecht bei einer Scheidung die Regel und die Zusprechung des alleinigen Sorgerechts gehört zu den Ausnahmefällen. Obwohl die neuen Bestimmungen die gemeinsame elterliche Sorge nach einer Scheidung vorsehen, übernehmen zum grössten Teil immer noch Mütter die Hauptbetreuung der Kinder.                   

Gemeinsames Sorgerecht: Die Regelungen

Vor der Gesetzesänderung war das gemeinsame Sorgerecht nur möglich, wenn beide Elternteile einen Antrag auf gemeinsame Sorge einreichten. Heute ist das gemeinsame Sorgerecht unabhängig des Zivilstands der Eltern der Regelfall. Das heisst, dass nach einer Trennung oder nach einer Scheidung zukünftig Mutter und Vater automatisch das gemeinsame Sorgerecht erhalten. Ausnahmen sind nur möglich, wenn sich zum Wohl des Kindes eine andere Lösung aufdrängt, zum Beispiel bei Krankheit, Gewalttätigkeit oder Abwesenheit eines Elternteils.

Das gemeinsame Sorgerecht stellt das Wohl des Kindes in den Vordergrund und nimmt die Eltern in die Verantwortung, gemeinsam Lösungen für ihre Kinder zu suchen. Die Eltern müssen nämlich grundsätzlich alles, was das Kind betrifft, gemeinsam regeln. Das gilt vor allem bei wichtigen Entscheidungen über medizinische Eingriffe, religiöse Erziehung oder die Schulwahl. Allerdings darf derjenige, der das Kind hauptsächlich betreut, über alltägliche oder dringliche Angelegenheiten alleine entscheiden. Er darf beispielsweise festlegen, wie sich das Kind ernähren soll, welche Kleidung gekauft wird und wie die Freizeitgestaltung aussehen soll.

Beide Elternteile dürfen innerhalb der Schweiz ihren Wohnort wechseln, ohne sich mit dem anderen abzusprechen. Das geht allerdings nur, wenn der Reiseweg zum Kind nach dem Umzug nicht länger wird als zuvor. Wer ins Ausland zieht, muss aber zuvor um die Zustimmung des anderen bitten. Eltern, die sich bereits getrennt haben, sollen die Möglichkeit erhalten, rückwirkend bis zu fünf Jahren die gemeinsame Sorge zu beantragen. In der Regel soll das Gericht oder die zuständige Behörde dann das gemeinsame Sorgerecht festschreiben.

Das gemeinsame Sorgerecht ist kein Wundermittel

Das gemeinsame Sorgerecht bedeutet aber längst nicht, dass sich die Eltern die Betreuung des Kindes gleichmässig teilen. Das machte die Schweizerische Nationalfondstudie «Kinder und Scheidung: Der Einfluss der Rechtspraxis auf familiale Übergänge», bei der zwischen 2004 und 2006 über 2000 geschiedene Väter und Mütter befragt wurden, deutlich. Bei 71 Prozent der Eltern mit gemeinsamem Sorgerecht wird ein traditionelles Modell elterlicher Aufgabenteilung gelebt. Die Mutter kümmert sich hauptsächlich um die Kinder, arbeitet deshalb meist nur in Teilzeit. Der Vater pflegt lediglich Besuchskontakte zu den Kindern und ist Vollzeit erwerbstätig. Gerade einmal 16 Prozent der Eltern mit gemeinsamem Sorgerecht teilen sich die Kinderbetreuung partnerschaftlich.

Auch der Zürcher Anwalt Linus Cantieni konnte das in seiner Dissertation «Gemeinsame elterliche Sorge nach Scheidung – eine empirische Untersuchung» bestätigen. Die gemeinsame elterliche Sorge breche nicht die traditionelle, meist schon während der Ehe gelebte Rollenaufteilung zwischen Vater und Mutter auf, heisst es dort. Zudem biete die gemeinsame Sorge keine Garantie dafür, dass der Kontakt zwischen dem Kind und dem im Alltag nicht anwesenden Elternteil intensiver oder besser wäre. «So wünschenswert eine bessere Einbindung beider Elternteile in die Kinderbetreuung nach der Trennung und Scheidung auch ist», schreibt Cantieni in der Schweizer Familie, «die gemeinsame elterliche Sorge ist kein Wundermittel, das in der Hoffnung verabreicht wird, Eltern würden sich deswegen künftig mehr in der Pflege und Erziehung des Kindes engagieren.»

Der Anwalt schätzt, dass das gemeinsame Sorgerecht nur einen bescheidenen Einfluss auf die gelebte Nachscheidungssituation der Eltern ausüben wird. Denn das Sorgerecht sei nur eine von vielen möglichen Ursachen elterlicher Konflikte. Um eine partnerschaftliche Betreuung anzustreben, braucht es beispielsweise nicht nur die gemeinsame Sorge, sondern tiefgreifende sozialpolitische Massnahmen. Linus Cantieni denkt dabei an mehr Kinderbetreuungsstätten oder mehr Teilzeitjobs für Männer.

Mädchen mit streitenden Eltern im Hintergrund
Bei einer Trennung oder Scheidung steht das Wohl des Kindes oft nicht im Mittelpunkt. Bild: g-stockstudio/iStock, Thinkstock

Hinter der Idee des gemeinsamen Sorgerechts steht der Gedanke, das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu stellen. «Die gemeinsame elterliche Sorge wird unabhängig vom Zivilstand der Eltern in Zukunft zur Regel. Im Zentrum dieser neuen Regelung steht das Kindswohl», heisst es in der Mitteilung des Bundesrates von 2011. Aber «für das Kind ist nicht die Regelung der elterlichen Sorge entscheidend, sondern die Regelung des Alltags», sagt die Psychologin Heidi Simoni in einem Beitrag von Schweizer Radio DRS. Das Kind sollte wissen, wo es zu Hause ist oder wie es seine Freizeit gestalten kann. Simoni, unter deren Leitung die bereits erwähnte Nationalfondsstudie entstand, plädiert dafür, Kinder einzubeziehen. Sowohl Eltern als auch Gerichte sollten Kinder anhören.

«Die Beteiligung der Kinder an der Reorganisation des Familienlebens wird in der Praxis von Gerichten und im Alltag von Familien noch kaum sinnvoll umgesetzt», schreibt Simoni zusammen mit der Privatrechtsprofessorin Andrea Büchler im Faktenblatt zur Nationalfondsstudie. Die Expertinnen empfehlen, dass auf eine Anhörung der Kinder im Scheidungsverfahren nicht verzichtet werden darf. Bislang wird nur etwa jedes zehnte Kind angehört. Wenn Kinder angehört werden, sollten Erwachsene bereit sein, eigene Meinungen von den Kindern in Frage stellen zu lassen. «Selbstverständlich darf es dabei nicht darum gehen, die Last der Entscheidung den Kinder zu übergeben», sagen Simoni und Büchler.

Die Psychologin und die Rechtsprofessorin haben die Erfahrung gemacht, dass eine Scheidung für viele Kinder mit einer grossen Unsicherheit verbunden ist. Kinder stellen sich viele Fragen. Deshalb ist es wichtig, dass eine «echte Auseinandersetzung mit den Interessen des Kindes stattfindet», schreibt Simoni in einem Beitrag zur «Alltags- und Beziehungsgestaltung mit getrennten Eltern». Das setze voraus, dass sich das Kind selber mit seinen Fragen, seinem Erleben und seinen Vorschlägen einbringen kann. Eltern sollten gemeinsam mit den Kindern nach Lösungen suchen. Zudem sollten sie die Signale ihres Kindes feinfühlig beachten, sie richtig einordnen und Antworten darauf suchen.

Weitere Informationen zum gemeinsamen Sorgerecht

  • Ratgeber für Eltern in Trennung oder Scheidung zum Einbezug ihrer Kinder: www.mmi.ch
  • Hilfe und Beratung für Eltern: www.elternnotruf.ch und www.143.ch
  • Fachbeiträge zur elterlichen Sorge des Marie Meierhofer Instituts für das Kind finden Sie hier.

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