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«Pflegeeltern wird nicht genug Gehör geschenkt»

Pflegeeltern haben es schwer. Sie müssen häufig ein traumatisiertes Pflegekind betreuen. Das ist keine leichte Aufgabe. Hinzu kommt, dass ihnen bei Problemen zu selten Gehör geschenkt wird. Zudem fehlt oftmals die fachliche Begleitung. Das müsse sich ändern, fordert Barbara Raulf von der Pflegekinder-Aktion Schweiz im Interview.

Wer Pflegeeltern werden will, muss viel Zeit mit dem Pflegekind verbringen.
Bevor Pflegeeltern ein Pflegekind aufnehmen, sollten sie sich über ihre Rechte informieren. Foto: Ingram Publishing, Thinkstock

Ein Pflegekind aufzunehmen, ist häufig mit Herausforderungen verbunden. Gibt es in der Schweiz genug Pflegeeltern, die diese Hürden auf sich nehmen wollen?

Das lässt sich nicht mit ja oder nein beantworten. Mehr als die Hälfte der Pflegeeltern kommt aus dem sozialen Umfeld des Kindes. Es sind Nachbarn, Bekannte, Freunde oder Verwandte. Der andere Teil sind fremde Pflegeeltern. Da wird die Vermittlung schwieriger, weil der Pflegekinderbereich kommunal organisiert ist. Es gibt Gemeinden, die Pflegekinder platzieren, also vermitteln müssen, aber keine Pflegefamilie kennen, obwohl vielleicht in der Nachbarsgemeinde genügend Pflegeeltern wären. Eine regionale Pflegekinderstelle wäre an dieser Stelle sinnvoll. Dann könnte man gemeinsam nach einer Familie suchen. Manche Gemeinden greifen auf Platzierungsorganisationen zurück, weil sie selber mit der Platzierung überfordert sind.

Der Beobachter berichtete kürzlich davon, dass private Platzierungsorganisationen unprofessionell arbeiten. Ist es ein Problem, dass man die privaten Platzierungsorganisationen nicht kontrollieren kann?

Das Problem ist, dass der Staat seine Verantwortung, für das Kind zu sorgen, nicht mehr wahrnimmt. Die Verantwortung wird an eine Organisation abgegeben, die auch wirtschaftliche Interessen verfolgt. Natürlich gibt es Organisationen, die das sehr gut machen. Es gibt aber auch solche, die weniger sorgfältig arbeiten. Da braucht es viel mehr Qualitätskontrolle und Verantwortung, dass der Kindesschutz gewährleistet ist.

Mit welchen belastenden Vorgeschichten kommen die Kinder zu Pflegeeltern?

Viele Kinder stammen heute aus mehrfach belasteten Familien. Oft sind die Eltern Alleinerziehende, die überfordert sind. Es sind Familien, in denen die Eltern Suchtprobleme haben, physisch oder psychisch krank sind. Die Kinder haben nicht die nötige Förderung und Aufmerksamkeit für ihre  Bedürfnisse erhalten, die für ihre Entwicklung wichtig ist. Oft haben die Kinder Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch erlebt, das heisst traumatische Erfahrungen gemacht.

Können sich Pflegeeltern auf ein traumatisiertes Pflegekind vorbereiten?

Es gibt keine obligatorische Ausbildung für Pflegeeltern. Aber es ist wichtig, dass sie über ihre Aufgaben, Rechte und Pflichten informiert werden. Dafür gibt es in verschiedenen Regionen auch Informationsveranstaltungen und Einführungskurse. Wenn Pflegeeltern ihr Wissen vertiefen möchten, gibt es Qualifizierungsangebote. Ich glaube aber, dass eine kontinuierliche Begleitung noch wichtiger ist als eine Schulung. Die Eltern müssen auch in Krisenzeiten die Möglichkeit haben, auf Unterstützung zurückgreifen zu können. Diese Begleitung bieten die Fachpersonen der Pflegefamiliendienste an. Es gibt aber auch Gemeinden, in denen es das nicht gibt. Da sind die Pflegeeltern ziemlich allein gelassen. Da kann eine Pflegeelterngruppe, also eine Selbsthilfegruppe, helfen.

Wer bietet diese Qualifizierungsangebote an?

Wir von der Kinder-Aktion Schweiz bieten Seminare an, aber es gibt auch noch andere Anbieter.

Könnte das auch ein Therapeut übernehmen?

Es braucht nicht in jedem Fall therapeutische Unterstützung. Das muss man je nach Situation und Problem entscheiden. Manchmal braucht das Pflegekind keinen Therapeuten. Wichtig ist, dass die Eltern, wenn sie in eine Problemsituation kommen, wissen, an wen sie sich wenden können.

Mehr als die Hälfte der Pflegeverhältnisse entsteht, wie Sie vorhin schon sagten, in der Verwandtschaft oder im nahen sozialen Umfeld der Familie. Diese Eltern können sich gar nicht auf die Notsituation vorbereiten.

Der Prozess in diesen Familien läuft etwas anders ab. Verwandte Pflegeeltern kennen das Kind oder seine Eltern und sind mit der Problematik vertraut. Solche Pflegeverhältnisse wachsen meist langsam. Oft bieten diese Familien Entlastung in Krisensituationen. Aber auch für diese Familien ist es wichtig, Begleitung zu bekommen.

Wie können Pflegeeltern eine Bindung zu einem fremden Kind aufbauen, das traumatisiert ist?

Eigentlich müsste man die Frage vom Kind aus stellen: Wie können Kinder, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, neue Bindungen zu den Pflegeeltern eingehen? Das hängt von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel von der Persönlichkeit des Kindes, von der Vorgeschichte, von der Dauer des Missbrauchs oder der Vernachlässigung und vom Alter. Babys werden zu den Pflegeeltern leichter eine Bindung aufbauen können, wenn diese sehr feinfühlig auf die Bedürfnisse eingehen. Die Pflegefamilie kann sehr viel bewirken. Gerade weil sie immer für das Kind da ist. Es braucht aber sehr viel Zeit und Geduld bis die Kleinen die fremden Eltern als Bindungspersonen annehmen. Pflegeeltern müssen sich in das Kind hineinversetzen, um verstehen zu lernen, warum es vielleicht nicht sofort auf ihre offenen Arme zugehen kann.

Das scheint mit sehr viel Geduld und Mühe verbunden zu sein. Was müssen Pflegeeltern, die ein traumatisiertes Kind aufnehmen, aushalten können?

Sie müssen vor allem zuverlässige und liebevolle Erwachsene sein. Sie müssen dem Kind Sicherheit und Geborgenheit geben. Sie brauchen mehr Geduld mit dem Kind und müssen es stärker unterstützen. Kinder ohne ein gesundes Selbstwertgefühl brauchen oft für die banalsten Dinge im Alltag ständige Ermutigung. Pflegeeltern müssen aushalten können, dass ihr Pflegekind in der Entwicklung nicht so schnell ist wie eigene Kinder und nicht so viel Nähe und Vertrauen aufbauen kann. Aushalten ist meiner Meinung nach aber nicht das richtige Wort dafür. Die Pflegefamilie braucht Unterstützung und Begleitung von Fachpersonen und anderen Pflegeeltern, damit sie eben die Situation nicht alleine aushalten müssen, sondern gemeinsam tragen können.

Häufig gibt es ja noch Kontakt zu den leiblichen Eltern. Was können Pflegeeltern tun, wenn das Kind völlig durcheinander von einem Besuch zurückkommt, weil beispielsweise die suchtkranke Mutter ihm versprochen hat, es wieder zu sich zu holen?

Solche Situationen sind sicher nicht einfach. Eigentlich möchte man als Pflegeeltern das Kind vor solchen belastenden Besuchen schützen. Andererseits ist die Auseinandersetzung mit der Herkunft wichtig. Manchmal können Kontakte zu den Eltern beruhigend wirken, weil das Kind erlebt, dass die Eltern es nicht vergessen haben. Nicht immer sind die Besuche förderlich. Bei Kindern, die in ihrer Familie misshandelt wurden, führen sie zu Verunsicherung. Besuche sollten sorgfältig geregelt und begleitet werden. Wenn Pflegeeltern merken, dass die Situation fürs Pflegekind nicht stimmt und das Kindeswohl gefährdet ist, haben sie das Recht eine Änderung zu verlangen. Sie sollten sich an die Beistände der Pflegekinder wenden, die für das Wohl des Kindes zuständig sind.

Werden die Interessen der Pflegeeltern von den Beiständen in der Praxis berücksichtigt?

Sicher ist es der Idealfall, wenn sich alles sorgfältig regeln lässt. In der Praxis sieht es aber oft so aus, dass den Pflegeeltern und den Kindern nicht genug Gehör geschenkt wird. Vor allem die Kinder vergisst man oft. Es ist ein Anliegen, auch Kinder  anzuhören und in die Entscheidungen mit einzubeziehen. Selbst wenn die Kinder noch klein sind, ist das durchaus möglich und auch von der Kinderrechtskonvention her ein verankertes Recht der Kinder. Leider sind die Beistände der Kinder auch für die Anliegen der leiblichen Eltern zuständig. Sie versuchen beide Interessen unter einen Hut zu bekommen, aber das geht nicht immer auf. Da können Interessenskonflikte entstehen.

Können Sie als Pflegekinder-Aktion Schweiz weiterhelfen?

Wir können als Fachstelle aus fachlicher Sicht Empfehlungen geben. Wichtig ist uns dabei, vom Kind aus zu argumentieren.

Gibt es keine Beschwerdestelle?

Nein, die gibt es nicht. Pflegeeltern, die von einer Organisation angestellt sind, können von dieser Hilfe erhalten. Pflegeeltern, die von der Gemeinde ein Kind vermittelt bekommen haben, sollten Unterstützung bekommen. Hier fehlen aber an vielen Orten Fachpersonen. Kinder haben die Möglichkeit, sich, wenn sie urteilsfähig sind, von einem Kinderanwalt vertreten zu lassen.

Die mangelnde Unterstützung ist sicher etwas, was in der Schweiz verbessert werden müsste, damit die Arbeit von Pflegeeltern besser anerkannt wird.

Ja, Pflegeeltern sollten besser begleitet werden – das sollte ein allgemeiner Standard sein. In der heutigen Verordnung über die Aufnahme von Kindern zur Pflege und zur Adoption steht, dass die Kantone die Pflegeverhältnisse fördern sollen. Die Kantone setzen minimale Standards aber oft nicht um. Es braucht hier verbindlichere Regelungen.

Ist das Pflegegeld eine angemessene Form der Anerkennung?

Es ist sicher eine Anerkennung, aber das Pflegegeld ist nicht besonders hoch, wenn man bedenkt, wie viel Erziehungsarbeit Pflegeeltern leisten.

Trotz dessen engagieren sich viele als Pflegefamilien.

Ja, das mag erstaunen. Pflegeeltern sind wirklich hochmotivierte Eltern, die etwas Gutes für das Kind machen wollen. Das ist der Antrieb. Nicht das Pflegegeld. Die Pflegeeltern sehen in vielen Fällen, wie gut es dem Kind bei ihnen geht, welche Entwicklungsfortschritte es macht. Das kann viel geben. Deshalb muss man die Arbeit der Pflegefamilien sehr wertschätzen und soweit es geht unterstützen.

 

Zur Person: Barbara Raulf

Barbara Raulf ist Mitarbeiterin der Pflegekinder-Aktion Schweiz.

Barbara Raulf ist seit zehn Jahren Fachmitarbeiterin der Pflegekinder-Aktion Schweiz. Sie hat Sozialpädagogik studiert. In einem Nationalfondprojekt forschte sie zum Thema Hilfeplanung in Platzierungsprozessen in Pflegefamilien und Heimen.
Die Pflegekinder-Aktion Schweiz setzt sich in der Öffentlichkeit für die Interessen von Pflegekindern ein. Die Organisation beinhaltet eine Fachstelle für den Pflegekinderbereich und eine öffentliche Bibliothek. Für Pflegeeltern und Fachpersonen werden Weiterbildungen angeboten. Für weitere Informationen: www.pflegekinder.ch
Foto: Zimmerling
 

 

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