Kind > Neue MedienWenn der beste Freund deines Kindes das Handy istDein Kind spricht von einem Influencer, als wäre es ein guter Freund? Das ist heutzutage keine Seltenheit. In Zeiten von Social Media entstehen enge Bindungen zu Menschen, denen wir noch nie begegnet sind – oft ganz unbewusst. Der Medienforscher Prof. Dr. Andreas Fahr erklärt, was es mit diesen sogenannten parasozialen Beziehungen auf sich hat, warum sie so stark wirken – und was Eltern wissen sollten. Vanessa Gygax InhaltsverzeichnisDas Konzept der parasozialen BeziehungenBeispieleProblem und ChancenTipps für Eltern Das Handy eröffnet durch die Sozialen Medien eine neue Welt. Das begünstigt die Entstehung von parasozialen Beziehungen. © SeventyFour / iStock / Getty Images Plus Hast du früher deinem Plüschtier deine Sorgen anvertraut oder deine Barbie überallhin mitgenommen? Heute wachsen unsere Kinder in einer digitalen Zeit auf – und sprechen nun mit Chatbots oder Influencern. So haben bereits 71 % Erfahrungen mit ChatGPT und ähnlichen Tools gemacht.1 Same same – but different? Vereinfacht gesagt, sind diese neue Art Beziehung nichts anderes als imaginäre Freunde. Trotzdem bereiten sie vielen Eltern Sorge. Wir klären dich mit dem Experten Andreas Fahr von der Universität Fribourg zu parasozialen Beziehungen auf. Der Begriff parasoziale Beziehung Das Wort «parasozial» besteht aus dem griechischen Präfix «para», was neben oder nebenbei bedeutet, und dem lateinischen Wort «socius», was für Gemeinschaft und Gesellschaft steht. Nähe auf Distanz: Das Konzept der parasozialen Beziehungen Wie auch bei Freundschaften im realen Leben braucht es bei einer parasozialen Beziehungen Zeit: Zuerst lernt man sich kennen – etwa bei einem Konzert oder beim Scrollen durch den Insta-Feed – oder Freunde stellen einem die Person vor. Kurzfristig entsteht eine parasoziale Interaktion, bei der man sich angesprochen fühlt und meint, die Person langsam wirklich kennenzulernen. Dauert dies über längere Zeit an, entsteht eine Beziehung. Bei dieser einseitigen Beziehung investiert eine Person emotionale Energie, Interesse und Zeit, während die andere Person nicht zwingend von der Existenz der anderen erfährt. Kein neues Phänomen Obwohl das Konzept parasozialer Beziehungen durch Social Media und Künstliche Intelligenz neue Dimensionen erreicht, wurde es bereits 1956 von den US-amerikanischen Psychologen Donald Horton und R. Richard Wohl definiert.2In ihrer Arbeit untersuchten sie, warum Fernsehmoderatoren für Zuschauer:innen eine Art vertraute Bezugsperson werden. Dabei stellten sie fest, dass insbesondere wiederkehrende Interaktionen wie die regelmässigen TV-Auftritte oder die direkte Ansprache dazu führen, dass das Publikum eine emotionale Bindung zu den Medienschaffenden entwickelt. Zur Person: Prof. Dr. Andreas Fahr © zVg Seit über 10 Jahren ist Andreas Fahr Professor für Mediennutzung und Medienwirkung an der Universität Fribourg. Hier erforscht er die Beziehungen von den Mediennutzer:innen und Medienpersonen sowie die Psychologie dahinter. Heutzutage haben wir alle mindestens eine parasoziale Beziehung Von Swifties bis zu den Cruelers vom FC Barcelona: Durch die Sozialen Medien sind wir unseren Idolen so nah, wie noch nie zuvor. «Heute sind parasoziale Beziehungen in allen Altersgruppen und Bildungsschichten zu finden – sei es die Faszination für Influencer:innen, Sportler:innen, Schauspieler:innen oder sogar fiktive Charaktere aus Serien und Filmen», erklärt Andreas Fahr. Dabei führen diese fünf Faktoren zu einer intensiveren Wahrnehmung der Beziehung: Direktere und interaktivere Erlebnisse: «Influencer:innen und Content Creator:innen interagieren über Kommentare, Livestreams oder DMs direkt mit ihrem Publikum. Dadurch fühlt sich die Beziehung weniger einseitig an – selbst wenn sie es, objektiv betrachtet, weiterhin ist», betont Andreas Fahr. Authentischer Content: Täglich sehen wir Inhalte aus dem «echten» Leben von Personen, die uns das Gefühl geben, so zu sein, wie wir selbst. «Diese Creator wirken authentischer und nahbarer als klassische Medienpersonen, weil sie aus dem Alltag berichten, persönliche Erfahrungen teilen und sich weniger inszeniert präsentieren», bringt es Andreas Fahr auf den Punkt. Dadurch entstehe eine Illusion von Vertrautheit und Authentizität, die das parasoziale Band verstärkt. Natürliche Sprache: KI-Chatbots nutzen die Natural Language Processing (NLP), um Gespräche möglichst menschlich klingen zu lassen. Einige sind speziell darauf ausgelegt, freundschaftliche oder sogar romantische Bindungen zu simulieren. Das kann dazu führen, dass Nutzer:innen emotional abhängig werden und Chatbots als echte Bezugspersonen betrachten. Personalisierte Inhalte: Durch die Algorithmen in den Sozialen Medien, die uns Inhalte nach unseren Interessen liefern, finden wir schnell Personen, die uns vertraut sind. Andreas Fahr beobachtet: «Während früher Massenmedien ein begrenztes Angebot an Beziehungspartner:innen lieferten, können Zuschauer:innen heute gezielt jene auswählen, die ihre Interessen, Werte oder Lebensstile widerspiegeln.» Verschwimmende Grenzen: Die Möglichkeit, direkt mit Influencer:innen oder dem ChatBot zu interagieren, verstärkt das Gefühl einer persönlichen Beziehung und Nähe. «Während früher Zuschauer:innen eher passive Konsument:innen von medial vermittelten Persönlichkeiten waren, ermöglichen Plattformen wie Instagram, TikTok oder YouTube heute eine scheinbare Nähe, die über das hinausgeht, was in der Ära des Fernsehens oder Radios möglich war», hält Andreas Fahr fest. Durch tägliche Posts und Stories entsteht ein alltäglicher Austausch – also in etwa so wie bei Freunden, denen man aus seinem Leben erzählt. Der positive Einfluss der neuen Medien «Wer im Alltag nur wenige qualitativ hochwertige oder befriedigende enge Freundschaften oder familiäre Bindungen hat, findet in parasozialen Beziehungen eine Art Ersatz für soziale Interaktion», merkt Andreas Fahr an. KI-gestützte Chatbots übernehmen diese Rolle: Sie sind immer verfügbar, hören aufmerksam zu und können das Gefühl vermitteln, verstanden zu werden. Gerade für junge Menschen und Jugendliche, die sich in der Identitätsfindung befinden, können diese engen, parasozialen Beziehungen helfen, ihre Werte, Interessen und Zugehörigkeitsgefühle zu entwickeln – vor allem dann, wenn man sich in der analogen Welt nicht gesehen oder verstanden fühlt. «Menschen in schwierigen Lebensphasen, die an Stress, Einsamkeit oder Trauer leiden, können parasoziale Beziehungen als stabilen Anker nutzen», hält Andreas Fahr fest. «Solange solche Bindungen das eigene Leben bereichern und nicht den Bezug zur Realität verzerren, sind sie eher unproblematisch.» Auf diese Warnsignale solltest du achten Ein 17-Jähriger aus den USA soll durch einen Chatbot ermutigt worden sein, seine Eltern zu töten und sich selbst zu verletzen. Ein anderer Jugendlicher verliebte sich so sehr in eine KI, dass er den Sinn im eigenen Leben verlor und Suizid beging. Was klingt wie eine Folge der dystopischen Serie Black Mirror, ist aber Realität. Diese extremen Fälle zeigen, wie parasoziale Beziehungen nicht nur zu Influencer:innen oder Promis entstehen können, sondern auch zu Künstlicher Intelligenz – insbesondere zu Chatbots, die als persönliche Gesprächspartner:in und beste:r Freund:in fungieren. Auch bei Social Media gibt es Gefahren: «Manche Medienfiguren nutzen die starke Bindung ihrer Follower:innen bewusst aus – etwa durch überteuerte Produktverkäufe, emotionale Erpressung oder sektenartige Dynamiken in geschlossenen Communities», warnt Andreas Fahr. Du merkst, dass dein Kind exzessiv Medien konsumiert und keine andere Meinung mehr zulässt? Was anfangs noch als «typisch Pubertät» angeschaut werden kann, kann sich zu Warnsignalen einer toxischen parasozialen Beziehung entwickeln. Andreas Fahr erläutert: «Eine enge parasoziale Beziehung kann dann problematisch werden, wenn sie zu einem Verlust der Selbstbestimmung führt oder das reale Leben negativ beeinflusst.» Dazu gehören: Wenn die Beschäftigung mit einer Medienfigur so intensiv wird, dass soziale Kontakte, Arbeit oder Schule sowie Hobbys vernachlässigt werden. Wenn das eigene Wohlbefinden stark von der Interaktion oder dem Verhalten einer «fremden» Person abhängig gemacht wird, kann es zu einem emotionalen Kontrollverlust kommen. Wenn man denkt, dass die Beziehung real und wechselseitig ist – etwa in extremen Fällen von Stalking oder übermässigen Fantasien über eine mögliche Zukunft mit der Person. Wenn andere soziale Kontakte vernachlässigt werden und man kaum noch mit Gleichaltrigen interagiert und sich lieber in der Welt des Influencers oder Stars aufhält. Wenn eine emotionale Abhängigkeit entsteht, also das eigene Wohlbefinden stark davon abhängt, was die Medienfigur sagt oder tut. Wenn Frust, Wut oder Trauer über das reale Leben überhandnimmt und man sich durch den ständigen Vergleich mit den Mediencharakteren unzulänglich fühlt oder das echte Leben als enttäuschend empfindet. Insbesondere Kinder spiegeln unser Verhalten. Was wir machen, kopieren sie. «Dabei werden parasoziale Beziehungen auch im Erwachsenenalter oft unterschätzt, sei es in der übermässigen Identifikation mit Prominenten, politischen Kommentatoren oder Influencern, die vermeintlich die Wahrheit aussprechen», hält Andreas Fahr fest und rät auch zur Selbstreflexion. Wie können Eltern mit der parasozialen Beziehung ihres Kindes umgehen? Sobald das Wohlbefinden deines Kindes erheblich beeinflusst wird oder das soziale Leben einschränkt, solltest du eingreifen. Du musst aber nicht überbesorgt sein: «Parasoziale Beziehungen sind ein normales und oft positives Phänomen. Denke nur an das weithin akzeptierte Fandom von Harry Potter-Figuren oder Taylor Swift: Sie können Halt geben, Orientierung bieten, inspirieren und das soziale Leben ergänzen», sagt Andreas Fahr. Entscheidend ist, dass sie nicht zur einzigen oder dominanten Form sozialer Interaktion werden. «Wer merkt, dass er sich von einer Medienperson emotional abhängig fühlt oder das eigene Leben stark davon beeinflusst wird, sollte kritisch hinterfragen, ob die Beziehung gesund ist. Eine gesunde Balance zwischen Faszination und Distanz ist der Schlüssel», rät Andreas Fahr. Der Experte hat sieben Tipps bereitgestellt: Neugierig bleiben statt abwerten: Es ist wichtig, die Gefühle des Kindes ernst zu nehmen. Ein abwertender Kommentar wie «Das ist doch nur ein YouTuber!» sorgt oft nur für Widerstand. Stattdessen sollten Eltern fragen: «Was fasziniert dich an dieser Person?» oder «Was findest du besonders spannend an ihren Inhalten?» Offen über Medieneinflüsse sprechen: Erkläre deinem Kind, dass Influencer:innen oft eine inszenierte Version ihres Lebens präsentieren. Ihr könnt gemeinsam hinterfragen: «Denkst du, das ist immer so perfekt, wie es gezeigt wird?» oder «Glaubst du, es gibt Dinge, die dieser Influencer nicht zeigt?» Die Mechanismen hinter Social Media erklären: Wir sollten verstehen, dass Algorithmen Inhalte so gestalten, dass wir möglichst lange dranbleiben. Zudem verdienen auf Social Media viele Geld damit, dass sie Produkte oder Firmen bewerben – das ist leider oft nicht transparent gekennzeichnet. Selbstwertgefühl stärken: Ermutige dein Kind, seine eigenen Stärken zu erkennen und nicht nur nach medialen Vorbildern zu leben. Ermutige dein Kind für eigene Hobbys, neue Freundschaften und reale Erlebnissen. Vielfalt in den Medienkonsum bringen: Wenn dein Kind sich extrem auf eine einzige Medienperson fixiert, kann es hilfreich sein, wenn ihr gemeinsam alternative Inhalte entdeckt. So kann dein Kind sehen, dass es viele verschiedene Perspektiven gibt. Gemeinsam Medien konsumieren: Du kannst dir mit deinem Kind zusammen Influencer:innen oder Stars anschauen und im Anschluss darüber sprechen: «Was hat dir gefallen?», «Was denkst du über diese Botschaft?» Das hilft deinem Kind – aber auch dir –, eine kritischere Haltung zu entwickeln. Klare Medienzeiten und Auszeiten festlegen: Wenn der Medienkonsum deines Kindes überhandnimmt, kann es euch helfen, klare Zeiten für Offline-Aktivitäten zu setzen. Mach das nicht als Strafe, sondern als Chance für andere schöne Erlebnisse. Andreas Fahr rät, dass man offen mit seinem Kind über den Medienkonsum redet und nicht zu schnell urteilt. «Eltern sollten nicht mit Verboten reagieren, sondern mit Verständnis und Reflexion. Indem sie mit ihrem Kind über Medien sprechen, Neugier zeigen und kritisches Denken fördern, helfen sie ihm, gesunde und bereichernde Medienbeziehungen», so Andreas Fahr abschliessend. 5 Filme & Serien über parasoziale Beziehungen Her (2013): Joaquin Phoenix spielt einen introvertierten Mann, der sich in ein KI-Betriebssystem (gesprochen von Scarlett Johansson) verliebt. Eine moderne, emotionale Auseinandersetzung mit Einsamkeit, Technik und der Sehnsucht nach Verbindung. The Truman Show (1998): Bei diesem Film-Klassiker dreht sich alles um einen Mann, der unwissentlich der Star einer Reality-TV-Show ist – und um ein Publikum, das eine intensive parasoziale Beziehung zu ihm entwickelt. Tau (2018): Der Sci-Fi-Thriller dreht sich um eine Frau, die von einem Technologen entführt und in einem smarten, KI-gesteuerten Haus festgehalten wird. Sie beginnt, mit der KI «Tau» eine Beziehung aufzubauen – dabei vermenschlicht sie die Maschine, die gleichzeitig Gefängnis und Gesprächspartner ist. Black Mirror: In «Be Right Back» (Staffel 2, Episode 1) lässt eine Frau ihren verstorbenen Partner mithilfe einer KI «wiederauferstehen», die sich aus seinen Online-Daten speist. Was als Trost beginnt, wird zunehmend verstörend. Travelers: In der Serie steuert eine künstliche Intelligenz aus der Zukunft das Schicksal der Menschheit – und gibt Zeitreisenden jeden Schritt vor. Für viele wird sie zur unantastbaren Autorität, fast wie eine Gottheit. Die Folge: Eine einseitige Beziehung zu einer allwissenden Maschine, die nie wirklich antwortet – aber alles entscheidet. Quellen JAMES-Studie 2024 ZHAW Angewandte PsychologieMass Communication and Para-Social Interaction Donald Horton & R. Richard Wohl, 1956