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Jesper Juul: «Kinder und Jugendliche brauchen kaum Regeln»

Im Interview erklärt Jesper Juul, Familientherapeut und gebürtiger Däne, warum Regeln eine sehr primitive Art der Führung sind, wie Eltern vermeiden, dass ihr Kind sturzbetrunken in der Bushaltestelle liegt und warum Kinder insgeheim nach Lernen gieren.

Jugendliche brauchen in der Erziehung kaum Regeln, sagt Jesper Juul.
Jesper Juul plädiert dafür, Jugendlichen Freiräume zu lassen. Foto: Edu Lauton, Unsplash

Der bekannte Erziehungsexperte Jesper Juul ist gestorben

Im Juli 2019 ist Jesper Juul, Erziehungsexperte und Familientherapeut aus Dänemark, gestorben. Er hat mit zahlreichen Ratgebern und in vielen Kolumnen Eltern bei den unterschiedlichsten Fragestellungen geholfen. Mit uns sprach er darüber, weshalb Eltern ihren Kindern und Jugendlichen Freiräume zugestehen sollten.

Herr Juul, in Ihrem Unternehmen «familylab» machen Sie Familien bereit für die Zukunft. Wie wird denn die Familie der Zukunft aussehen?

Jesper Juul: Davon habe ich keine Ahnung. Klar ist jedoch, es muss sich eine komplett neue Beziehung zwischen Mann und Frau, Eltern und Kind entwickeln.

Was ist denn an den jetzigen Beziehungen so falsch, dass sie sich verändern müssen?

Nichts. Beziehung und Erziehung befinden sich lediglich in einem frühen Stadium. Wir alle experimentieren in der Erziehung momentan und versuchen, das Beste zu geben. So muss es weiter gehen, es gibt ja heute kein generelles Erziehungskonzept mehr wie früher. Stattdessen gibt es Prinzipien, Wertvorstellungen und ein Verhalten, das gesünder und besser für alle Beteiligten ist.

Erziehungsratgeber wie Sie haben Hochkonjunktur. Warum suchen Eltern Hilfe bei Experten? Sind sie überfordert?

Ich weiss nicht, ob die Eltern überfordert sind. Aber die meisten sind unsicher. Sie wissen nicht genau, wie sie sich im Umgang mit ihren Kindern verhalten sollen. Sie suchen Informationen und den Dialog. Da kommen wir sogenannten Experten ins Spiel.

Seit es Menschen gibt, erziehen sie ihren Nachwuchs. Warum sind Eltern dann überhaupt noch unsicher?

Im letzten Jahrhundert waren wir noch daran gewöhnt, dass es in der Gesellschaft einen sehr starken moralischen Konsens gibt: So macht man etwas, und so macht man es nicht. Diese Einigkeit gibt es aber nicht mehr. Eltern sind auf sich alleine gestellt, das allgemeingültige Wertesystem fehlt.

Bernhard Bueb, der langjährige Leiter der Eliteschule Schloss Salem, lobt die Disziplin. Michael Winterhoff, Kinderpsychiater und Autor von «Warum unsere Kinder Tyrannen werden», rät, Kinder nach ihrem Entwicklungsstand zu erziehen. Sie wiederum empfehlen den Eltern, ihren Kindern auf gleicher Ebene zu begegnen und ihnen Respekt entgegenzubringen. Wem soll der Erziehungsberechtigte Glauben schenken?

Gott sei Dank sind sich die Experten nicht einig. Die Eltern müssen ihre eigenen Antworten finden. Wir bieten keinen neuen kollektiven gemeinsamen Konsens an. In den Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern brauchen wir vor allen Dingen Authentizität und persönliche Verantwortung: Ich bin für mein Handeln verantwortlich. Wir können oder müssen sogar wie nie zuvor in unserer Geschichte persönlich wählen. Es gibt keine Autorität mehr, die sagt: Dieses und jenes musst du tun. In diesem Dilemma befinden sich auch die Kinder. Da nützen, meiner Meinung nach Disziplin- und Gehorsamsgeschichten nichts mehr.

Brauchen Kinder und Jugendliche keine Werte, an denen sie sich orientieren können?

Das Ziel oder das Endergebnis der Erziehung soll die optimale seelische und soziale Gesundheit eines Kindes und Erwachsenen sein. So gesehen, war die bisherige Erziehung eine absolute Katastrophe.

Stimmen Sie mit Immanuel Kant überein, der sagte: Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung?

Jesper Juul: Ja, absolut. Denn eine Art von Erziehung muss der Mensch erfahren. Diese Naturkinder, die ohne äussere Einflüsse und ohne Druck aufwachsen, gibt es nur als romantische Illusion. Führung ist in der Erziehung generell sehr wichtig. Nur muss diese Führung sich beim Kind und beim Jugendlichen sehr unterscheiden. Kinder brauchen Eltern, die als Leuchttürme fungieren, also mehr oder weniger regelmässig klare Signale schicken. So können sich Kinder orientieren. Jugendliche brauchen Eltern, die maximalen Widerstand anbieten und dabei minimalen Schaden anrichten.

Was heisst das konkret?

Eltern sollten ihren Kindern gegenüber verantwortlich und treu sein. Sie müssen zu ihren Ansichten und Erfahrungen stehen – aber dabei nicht ihre Kinder zwingen, wie sie selbst zu sein. Sie dürfen gerne machtvoll sein und auch grossen Eindruck auf ihre Kinder machen – doch sie dürfen ihre Überlegenheit ihrem Kind gegenüber nie missbrauchen. Die Erziehung nach dem Motto «Wenn du nicht machst was ich sage, dann . . .» hat weder in der Vergangenheit funktioniert, noch tut sie es heute.

Dennoch brauchen Jugendliche doch Regeln?

Warum brauchen Jugendliche Regeln?

Ich möchte zum Beispiel nicht, dass meine Tochter mit dreizehn Jahren mal volltrunken um Mitternacht an der örtlichen Bushaltestelle herumhängt.

Sehen Sie, da haben wir schon das Dilemma. Sie können Verbote aufstellen und gleichzeitig mit Sanktionen drohen. Oder Sie führen stattdessen einen Dialog. Sie erklären Ihrer Tochter, warum Sie dagegen sind. Was Ihre Gründe und Ängste sind. Wenn Sie Regeln aufstellen, fängt der ganze Zirkus an. Dann werden die Kinder unterwürfig oder kriminell.

Welche Handlungsmöglichkeiten haben Eltern überhaupt noch?

Von der Pubertät an muss sich der Mensch selber finden. Seine eigenen Grenzen, Wertvorstellungen und Potenziale erkennen. Und das dauert eben sieben bis acht Jahre – in dieser Zeit brauchen sie den Widerstand der Eltern. Und die Jugendlichen müssen lernen, diesen Widerstand der Eltern auszuhalten. Ein 15-Jähriger kommt sturzbetrunken nach Hause. Seine Freunde finden Alkohol macht Spass, die Eltern halten das für gefährlich. In diesem Spannungsfeld muss er selber sich und seine Position finden.

Sind Regeln generell schlecht?

Regeln sind eine sehr primitive Art der Führung. Jede Familie braucht zwar eine Handvoll Regeln, um angenehm zusammenzuleben. Aber Regeln als Problemlösung oder Problemvorbeugung funktionieren nicht.

Eltern von kleineren Kindern möchten nicht, dass diese bis spätnachts aufbleiben oder Unmengen von Süssigkeiten konsumieren. Wie bringe ich denn meinen persönlichen Wunsch dem Kind nahe?

Da muss die Mutter oder der Vater klar sagen: Das möchte ich nicht. Da wird es eine Auseinandersetzung geben, bei der die Eltern ihre persönliche Autorität aufbauen müssen. Wenn man sich stattdessen stur auf Regeln beruft, erlangt man nie diese Art von Autorität. Man ist nichts weiter als ein Polizist, der die Einhaltung der Regeln kontrolliert. Als ich Kind war, hat dies noch annähernd funktioniert, weil es damals noch erlaubt war, Gewalt in der Erziehung einzusetzen. Gewalt ist das einzige Mittel, um Regeln durchzuboxen. Deshalb plädiere ich für den Dialog. Das bedeutet nicht endloses Diskutieren, sondern heisst schlichtweg: Hier bin ich, hier bist du. Ich bin bereit, deine Wünsche und Bedürfnisse ernst zu nehmen, dann werde ich entscheiden. Das ist neu – diesen Versuch des gegenseitigen Umgangs haben wir noch nie versucht. Kinder werden durch das Verhalten ihrer Eltern erzogen, dadurch, wie diese ihren Alltag gestalten, wie sie sich zu ihren Mitmenschen verhalten.

Sie schreiben, Dreizehnjährige brauchen nur ein oder zwei Menschen, die ihnen das Gefühl geben: Es ist richtig und gut, so wie du bist. Bei aggressiven oder drogenabhängigen Kindern ist dies aber eine grosse Anforderung für ihre Eltern!

Genau das ist es. Aber die Eltern sind ja auch dafür verantwortlich, dass ihre Kinder in diese Situation geraten sind. Die lieben, braven Teenager brauchen ihre Eltern kaum noch. Aber die Schulverweigerer, Drogenabhängigen umso mehr.

Welche Rolle spielt die Schule im pädagogischen Alltag?

Jesper Juul: Die Schule ist, allgemein formuliert, eine Katastrophe – eine akademische, pädagogische und menschliche Katastrophe. Aber nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Lehrer. Überall in Europa herrscht ja die grosse Pisa-Angst: Leistung geht über alles. Leider wurde noch nicht verstanden, dass Leistung und gute Beziehungen nicht gegeneinander, sondern füreinander arbeiten. Die Schüler werden heute behandelt wie vor 50 Jahren die Industriearbeiter – was du erlebst, wie es dir sonst geht, ist uns nicht wichtig. Du musst nur pünktlich hier sein und tun, was wir dir sagen. Ich habe in Kroatien und Bosnien Familienarbeit in Flüchtlingslagern geleistet.

Was haben Sie dort erlebt?

Die kroatischen Fachleute und ich wurden von internationalen Studenten, Sozialarbeitern und Psychologen unterstützt. Wir wollten den Kindern Gutes tun und haben ihnen alles Denkbare angeboten: ein Fussballcamp, ein Zirkusprojekt und so weiter. Nach drei Monaten wollten die Kinder all das überhaupt nicht mehr, sie bestanden auf Unterricht. Ihr ausdrücklicher Wunsch war: «Wir möchten lernen». Lernen ist ein natürliches Verlangen von Kindern, und dieser Wissensdrang muss in den Schulen gefördert und begünstigt werden.

Wurden Sie dort nicht mit wesentlich härteren Problemen konfrontiert als in Ihren hiesigen Seminaren?

Natürlich ist es furchtbar, wenn die halbe Familie tot ist und man seine Heimat verloren hat. Aber die Probleme hier sind deshalb nicht weniger schlimm. Jedes Problem, das als ernsthaft empfunden wird, ist belastend. Ob der Vater an der Front ist und das Kind nicht weiss, wo er ist, oder ob der Vater an seinem Kind kein Interesse hat und es nie besucht – die Empfindungen eines Kindes sind die gleichen. Wenn man die Summe von Schmerz kalkulieren könnte, käme in beiden Fällen wohl dasselbe heraus.

Jesper Juul

Jesper Juul, geboren 1948 und gstorben am 25. Juli 2019, war einer der innovativsten Familientherapeuten Europas. Der dänische Psychologe war der Gründer von «familylab – die Familienwerkstatt» und arbeitete viele Jahrzehnte lang mit Familien. In Kroatien und Bosnien leistete Juul therapeutische Familienarbeit in Flüchtlingslagern.

Seine Bücher über Familienbeziehungen und Erziehung wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Die deutsche Ausgabe seines Buchs «Pubertät – wenn erziehen nicht mehr geht» (Kösel Verlag, München 2010) wurde in Deutschland zum Sachbuch-Bestseller.

Mehr zu Jesper Juul und den Familylabs erfahren Sie unter www.familylab.ch

Foto: privat

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