Die neue Normalität: Wie Corona den Schulunterricht verändert hat
Die Zahl der Corona-Infektionen steigt. Trotzdem bemühen sich alle um Normalität – auch im Kindergarten und in der Schule. Doch ist ein normaler Unterricht überhaupt möglich? Und wie ist es für die Schüler nach der langen Schulschliessung im Frühling wieder im Klassenzimmer zu sitzen? Unser Experte Michael Berger, Lernberater und Heilpädagoge, berichtet aus seinem beruflichen Alltag.

Wie sind Sie gestartet nach den Sommerferien, Herr Berger? Alles wie gehabt oder gibt es grössere Änderungen aufgrund des Corona-Risikos?
Bei uns läuft der Betrieb wieder fast normal. Natürlich werden die geltenden Schutzkonzepte eingehalten: Abstand halten, Hände waschen, allenfalls eine Maske tragen. Aber an diese Vorsichtsmassnahmen haben wir uns ja mittlerweile gewöhnt. Sie werden bei uns auch von allen akzeptiert und umgesetzt. Das mit dem Abstand ist je nach Räumlichkeiten schwierig, weshalb auch jedes Schulhaus eigene Bestimmungen hat.
Wie nehmen die Eltern die Schule und die Kinder wahr?
Da der Schulbetrieb wieder wie gewohnt läuft, erlebe ich die meistens Eltern positiv gestimmt. Viele haben während der Schulschliessung ihr Kind besser kennengelernt und gemerkt, was es alleine kann und wo es allenfalls Unterstützung braucht. Das hat auch für uns positive Aspekte: Das Verständnis an Elterngesprächen ist gewachsen. Das wiederum stärk unsere Arbeit. Manche Eltern haben durch das Homeschooling aber auch erlebt, wie belastend der Schulbesuch sein kann für ihr Kind und dass ihm der Fernunterricht mehr entspricht. Es gibt Kinder, die während der Schulschliessung aufgeblüht sind und grössere Fortschritte gemacht haben. Diese Eltern befinden sich nun in einer Zwickmühle, da der Alltag zurück ist.
Wie ist es in Zeiten von Corona zu unterrichten?
Das von Kanton zu Kanton verschieden: Jeder Kanton hat seine eigenen Regeln, was ich persönlich ungünstig finde. Gerade wenn man an der Grenze zu einem anderen Kanton wohnt oder arbeitet. Das betrifft aber nicht nur die Schulen, sondern allgemein das gesellschaftliche Leben – Einkaufen, Versammlungen und so weiter. Diese ganzen Unterschiede und Diskussionen empfinde ich als belastender, da es auch unter den Lehrpersonen und Eltern unterschiedliche Meinungen und Ansprüche zu den Schutzkonzepten und Massnahmen gibt. Gerade wenn es um den ersten Kindergartentag, den ersten Schultag, Elternabende oder Klassenlager geht, wird die Einschränkung greifbar und führt zu grossen Diskussionen.
Haben Sie Angst, dass auch bei Ihnen schon bald ganze Klassen oder Schulen in die Isolation geschickt werden müssen?
Ich würde nicht von Angst sprechen, aber das Risiko ist allen bewusst. Es gab ja auch bereits schon wieder Schulen, die das tun mussten. Deshalb wollen wir uns auch an die Schutzkonzepte halten. Ich glaube die wenigsten haben nochmals Lust auf Fernunterricht über einen längeren Zeitraum, da nicht alle dafür bereit waren.
Es ging halt doch sehr schnell damals...
Ja, wie sich jetzt zeigt, fehlte es in vielen Familien und Schulen an der technischen Ausrüstung – also an Geräten wie einem Computer –, aber auch an Knowhow. Wir als Schule sind nun gefordert, so rasch wie möglich nachzurüsten. Sodass im Falle einer erneuten Schulschliessung alle die Chance haben, dem Unterricht bestmöglichst zu folgen von zu Hause aus.
Hat die Zeit im Fernunterricht bei den Kindern Spuren hinterlassen, die nun im normalen Schulbetrieb spürbar werden?
Ich finde schon. Man merkt wie unterschiedlich die Ressourcen in den Schulen und auch in den Familien waren. Die Eltern wurden stark beansprucht – einige konnten das leisten, andere weniger. Nun gilt es bereit zu sein, sollte nochmals eine ähnliche Situation eintreffen. Wir müssen Lehren aus dieser Zeit ziehen! Die Chancengleichheit war in diesem Zeitraum nicht gegeben und diese Nachwirkungen spüren wir nun im beruflichen Alltag deutlich.
Wie motiviert sind die Schüler nach einer langen Schulschliessung sowie Fernunterricht überhaupt wieder im Klassenzimmer zu sitzen?
Viele haben sich auf die Schule und den Alltag gefreut. Nicht gerade auf die einzelnen Fächer oder Inhalte, aber auf die Klassenkameraden und den gewohnten Alltag. Der bringt ja neben Einschränkungen auch Freiheiten mit sich.
Hat sich das Lernverhalten der Kinder verändert?
Grundsätzlich würde ich sagen, dass das vorherige Lernverhalten verstärkt wurde. Egal, in welche Richtung. Wer vorher wenig gemacht hat, macht jetzt leider meist noch weniger. Wer motiviert war, ist jetzt noch eifriger am Werk. Überraschungen gab es aus meiner Sicht wenige. Aber einzelne Kinder blühten wie schon gesagt mit den Freiheiten richtig auf, sie genossen es, die Abfolge der Fächer selber zu wählen oder länger an einem Thema dran bleiben zu können.
Was ist mit den Kindern, denen der Fernunterricht nicht lag und die nun leider hinterherhinken? Wie können Eltern Kinder unterstützen, die den Anschluss verpasst haben?
Die grosse Frage ist: Welcher Weg ist optimal für mein Kind? Diese gilt es mit den zuständigen Fachpersonen zu klären. Die Lehrpersonen sind sich der Situation bewusst, weshalb es auch Bestimmungen für diesen Zeitraum gab, die nicht den gängigen Regeln entsprechen. Die Schule berücksichtigt, dass das letzte Schuljahr besonders war. Wichtig scheint es mir, dass Sie als Eltern selber aktiv werden, wenn Sie unsicher sind. Sprechen Sie mit den Lehrpersonen über die Schwierigkeiten! Diese können Ihnen passende Hilfsangebote aufzeigen. In Einzelfällen kann auch eine Repetition ratsam sein. Das wird aber eher die Ausnahme bleiben, glaube ich. Und der Grund wird dann auch nicht der Fernunterricht sein. Wie bereits erwähnt, haben sich Muster, Lernverhalten und die Motivation in die Schule zu gehen nicht verändert durch das Homeschooling, sondern vielfach verstärkt.

Michael Berger ist Schulischer Heilpädagoge und Lernberater mit Erfahrung auf allen Schulstufen. Mit seinem Angebot gezielt-lernen.ch wendet er sich an Eltern, Lehrpersonen und Lehrlingsbetriebe und bietet Unterstützung bei Lernschwierigkeiten an.
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