Kinderwunsch

«Muss zum Kinderhaben wirklich alles perfekt passen?»

Welche Vorstellungen haben junge kinderlose Frauen und Männer von Familie? Das wollte die Soziologin Karin Schwiter in ihrer Dissertation herausfinden und befragte 24 junge Erwachsene nach ihren Lebensentwürfen. Im Interview erklärt sie, warum Kinder eine Lebensentscheidung und Kinderkrippen verpönt sind.

Kinderwunsch bei jungen Erwachsenen
Ein Kind ist für junge Erwachsene eine Lebensentscheidung. Foto: iStock, Thinkstock

Es erstaunt, dass Kinderkrippen bei jungen Erwachsenen verpönt sind. In Ihrer Studie bezeichneten Teilnehmende Vollzeit arbeitende Eltern, die ihre Kinder in die Krippe bringen, als «daneben», «ganz extrem» oder «krass». Wie erklären Sie sich das?

Karin Schwiter: Ich denke, das hängt damit zusammen, wie wichtig Kinder heutzutage genommen werden. Kinder sind nicht länger etwas, was einfach passiert, sondern eine ganz bewusste Lebensentscheidung geworden. Die jungen Erwachsenen sagen, wenn man sich für Kinder entscheide, dann solle man sich auch um sie kümmern und sie ins Zentrum stellen. Ausserdem stellt die heutige Gesellschaft hohe Anforderungen an die Eltern. Sie fordert von ihnen, dass sie ihrem Kind sehr viel Aufmerksamkeit und Förderung geben. Aus meiner Sicht sollte man sich aber die Frage stellen: Können Kinder nicht auch in der Kinderkrippe optimal gefördert werden? Es ist bereits ein Wandel zu erkennen. Forschungen zeigen, dass Kinder von der Betreuung in einer Gruppe stark profitieren können. Aber bei den jungen Erwachsenen steht diese Argumentation nicht im Vordergrund.

Die jungen Erwachsenen trauen den Erziehern in der Krippe nicht zu, die Kinder optimal zu fördern.

Nicht gleich gut. Die Kinderkrippe ist eine Option für allenfalls einen bis eineinhalb Tage pro Woche, oder zum Beispiel, wenn jemand alleinerziehend ist. Aber die jungen Erwachsenen sagen, ihr Kind sei so wichtig, dass sie es als Eltern primär selbst betreuen wollen. Das hat auch damit zu tun, dass das Kind zu einem Lebensprojekt geworden ist. Eltern haben den Wunsch, ihr Kind zu prägen und es nach den eigenen Vorstellungen zu formen.

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Mit modernen Familienvorstellungen hat das wenig zu tun. Kinderkrippen sind Voraussetzung dafür, dass Eltern Beruf und Familie besser vereinbaren können. Streben junge Menschen überhaupt diese Vereinbarkeit an?

Ja, schon. Diese fixen Zuständigkeiten vom Mann als Hauptverdiener und der Frau als Mutter und Hausfrau haben sich aufgeweicht. Es wird niemandem mehr qua Geschlecht eine Aufgabe zugeschrieben. Wenn man schaut, wie sich junge Erwachsene vorstellen, ihre Familie zu organisieren, zeigt sich, dass Männer und Frauen zwar noch unterschiedlich argumentieren. Männer fragen: Wie viel kann ich die Erwerbsarbeit reduzieren, um für das Kind da zu sein? Frauen fragen: Was braucht das Kind und wie viel kann ich nebenher noch erwerbstätig sein? Die Idee, den Rest des Lebens Familienfrau zu sein, ist aber nicht mehr existent. In dem Sinne ist Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowohl für Männer als auch für Frauen ein grosses Thema. Die jungen Erwachsenen sagen aber, dass jede Familie selbst schauen muss, wie sie das organisieren kann. Damit wird die Verantwortung auf das Paar delegiert. Das ist eine problematische Denkweise.

Warum?

Weil sie ein gesellschaftliches Problem dem Individuum zuweist. Es gibt viele junge Männer und Frauen, die Probleme haben Beruf und Familie zu vereinbaren. Dies hat nicht nur mit persönlicher Wahl zu tun, sondern mit den gesellschaftlichen Strukturen. Gibt es Tagesschulen oder geht die Schule davon aus, dass mittags jemand daheim ist und Mittagessen kocht? Gibt es Kinderkrippen und Teilzeitjobs auch in männerdominierten Berufen und auf höheren Hierarchiestufen? Die strukturellen Begebenheiten beeinflussen die Möglichkeiten, die Familien haben. Damit ist die Organisation der Familie nicht mehr eine Wahlfreiheit.

Vorhin haben wir ja aber davon gesprochen, dass Kinderkrippen bei jungen Erwachsenen verpönt sind. Warum sollte es Kinderkrippen geben, wenn die jungen Erwachsenen sie gar nicht nutzen würden?

Die jungen Erwachsenen sagen nicht, dass sie Krippen nicht nutzen würden. Sondern, sie sagen, es sei verhandelbar. Je nach den Bedingungen, die sie vorfinden, werden sie auch andere Modelle wählen. Wenn Tagesschulen normal sind, dann stellt sich die Frage, wie Kinder betreut werden, ganz anders. Es stimmt natürlich, dass sich junge Erwachsene für die Kinder in den ersten Jahren sehr viel Zeit nehmen wollen. Das Modell, dass beide Eltern Vollzeit weiter arbeiten, ist das Feindbild. Es ist aber sehr viel weniger ein Feindbild, wenn der Mann 80 Prozent arbeitet und die Frau 40 oder 60 Prozent. Und auch für diese Eltern stellt sich das Vereinbarkeitsproblem.

Frauen wollen sich um das Kind kümmern.
Frauen wollen nicht für den Rest des Lebens nur Hausfrau und Mutter sein.

Warum halten junge Menschen trotzdem an traditionellen Geschlechterrollen wie dem Mann als Hauptverdiener fest?

Ich interpretiere die gegenwärtige Situation nicht als ein Festhalten an traditionellen Geschlechterrollen, sondern zeige in meiner Arbeit auch auf, wo die Geschlechterverhältnisse in Bewegung geraten sind. Ich erachte es zum Beispiel als eine grundlegende Veränderung, dass Frauen und Männern nicht mehr qua Geschlecht eine Aufgabe zugeordnet werden kann. Arbeitsteilung ist zur Verhandlungssache geworden. Aber solche Geschlechterbilder sind nicht von heute auf morgen weg. Diese Bilder werden auch in den Medien nach wie vor reproduziert.

Wie lange wird es dauern, bis sich Männer und Frauen die Kindererziehung gleich aufteilen?

Man kann da keine Voraussagen machen. Meine Doktormutter Andrea Maihofer, Leiterin des Zentrums Gender Studies in Basel, spricht in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse von einer paradoxen Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz. Mir scheint diese Formulierung sehr treffend: Gewisse Bereiche verändern sich sehr schnell, andere verfestigen sich. Die Lohnschere zwischen Männern und Frauen beispielsweise hat sich nicht verringert. Ein grosser Wandel hat bei den Frauen bezüglich Erwerbskarriere stattgefunden. Heute gilt es als selbstverständlich, dass sie einen Beruf lernen und sich darin auch verwirklichen. Meines Erachtens deutet vieles darauf hin, dass sich die Geschlechternormen in Zukunft weiter auflösen werden. Treibende Kraft dahinter ist nicht zuletzt die Individualisierung. Die jungen Erwachsenen wollen sich nicht aufgrund ihres Geschlechts vorschreiben lassen, wie sie ihren Lebensweg planen.

Aber die gesellschaftlichen Umstände zwingen den jungen Menschen häufig den Lebensweg auf. Es lohnt sich für eine Familie nicht, dass der Mann zu Hause bleibt, weil er meist derjenige mit dem höheren Einkommen ist.

Ja, das ist die Schattenseite der Individualisierungsperspektive. Die jungen Erwachsenen sehen sich frei ihr Leben zu wählen. Aber sie blenden aus, dass es gesellschaftliche Strukturen gibt, die gewisse Wege schwierig machen. Nicht immer ist jede Option wählbar oder sie ist mit einem hohen Preis verbunden. Die Lohndiskriminierung bei gleichwertigen Berufen, Schulsysteme, das Kinderkrippenangebot: Das sind Dinge, die beeinflussen, welche Lösung gewählt wird. In der individualisierten Weltsicht der jungen Erwachsenen gerät aus dem Blick, dass für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch die Strukturen verändert werden müssen. Der gemeinsame Protest findet nicht statt.

Sind die jungen Erwachsenen viel zu egoistisch?

Nein, nicht egoistisch. Sie leben ja nicht auf Kosten von anderen. Sie sind individualistisch. Sie gehen davon aus, dass die Menschen verschieden sind und jeder für sich selbst Lösungen finden muss. Sie betonen ihre Einzigartigkeit stärker als das Gemeinsame.

Wer soll dann protestieren?

Ich denke, wir sollten der jungen Generation den Wunsch nach gesellschaftlichen Veränderungen nicht vorschnell absprechen. Es kann durchaus sein, dass sie ein stärkeres Problembewusstsein gegenüber diesen gesellschaftlichen Strukturen entwickeln, wenn sie Kinder haben und sehen, dass ihre Wahlfreiheit nicht so gross ist, wie sie sich gedacht haben.

Sie engagieren sich auch politisch als SP-Nationalratskandidatin. Was können Sie auf politischer Ebene tun?

Mir ist es ein wichtiges Anliegen als Forscherin und als Politikerin, veraltete gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen und zu verändern. Ich sehe vor allem ein Problem darin, dass heutzutage grosse Hürden bestehen, Kinder zu haben. Gemäss den jungen Erwachsenen braucht es für Kinder nicht nur eine abgeschlossene Ausbildung, eine geeignete Position im Beruf, genügend Geld und eine stabile Partnerschaft, sondern auch paarinterne Einigkeit bezüglich der Arbeitsteilung und die grundsätzliche Bereitschaft, das Kind an die erste Stelle im Leben zu stellen. Wenn die Hürden so hoch sind, werden viele junge Erwachsene nie an den Punkt kommen, Kinder zu haben. Da sehe ich in der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein grosses Potential. Die rechten Parteien sagen: Das Daheimbleiben muss sich für Frauen lohnen. Ich als Linke würde sagen, die Frauen wollen nicht daheim bleiben. Wir müssen es den Frauen erleichtern, Berufsfrauen und Mütter zu sein. Auch den Vätern müssen wir es erleichtern, beruflich tätig sein zu können und Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können.

Warum setzen sich junge Erwachsene derart hohe Hürden, bevor sie bereit für ein Kind sind?

Ich denke, die Gesellschaft hat hohe Anforderungen an Eltern entwickelt. Kinder werden stark gefördert und ins Zentrum gestellt. Man macht Eltern einen Vorwurf, wenn sie Kinder kriegen, obwohl sie nur wenig Zeit für sie haben oder ihnen in irgendeiner anderen Hinsicht nicht die optimalsten Bedingungen bieten können. Es ist eine gesellschaftliche Diskussion nötig, die fragt, ob Kinder wirklich all diese Dinge benötigen. Muss zum Kinderhaben wirklich alles perfekt passen? Kann ein Kind nicht ebenso glücklich werden, wenn es «nur» mit einem Elternteil aufwächst? Sind Kinder, die fünf Tage in der Woche in der Krippe betreut werden, schlechtere Kinder?

Könnte da die Forschung weiterhelfen?

Sie bringt zurzeit viele interessante Ergebnisse heraus. Neuere Studien zeigen beispielsweise auf, dass Kinder, die in Krippen betreut werden, bei Schuleintritt den anderen voraus sind oder dass eine Vielfalt von Familienformen wie Patchworkfamilien oder Einelternfamilien auch positiv für Kinder sein können. Wie sich zeigt, kommt es auf die Beziehungsqualität an, nicht auf die Familienform.

 

Karin Schwiter ist Soziologin und Geografin.

Die Soziologin und Geografin Karin Schwiter untersuchte in ihrer Dissertation «Lebensentwürfe. Junge Erwachsene im Spannungsfeld zwischen Individualität und Geschlechternormen» die Zukunftsvorstellungen junger Erwachsener. Dafür hat sie 24 junge kinderlose Erwachsene zwischen 24 und 26 Jahren aus der Deutschschweiz interviewt. Die Doktorarbeit ist bei Prof. Dr. Andrea Maihofer am Zentrum Gender Studies an der Universität Basel entstanden. Sie ist im Mai 2011 als Buch im Campus-Verlag erschienen und kann hier bestellt werden.

Karin Schwiter arbeitet an der Universität Zürich als Oberassistin in Wirtschaftgeografie. Neben ihrer Lehrtätigkeit forscht sie am Zentrum Gender Studies in Basel als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Nationalfondsprojekt «Geschlechterungleichheiten in Ausbildungs- und Berufsverläufen». Karin Schwiter kandidiert im Oktober für einen Nationalratssitz der SP Schwyz.

Weitere Informationen zu Karin Schwiter finden Sie unter www.geo.uzh.ch und www.spschwyz.ch

Foto: Angela Zimmerling

 

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