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Inklusion: Ein Plädoyer für ein ungefiltertes Zusammenleben

84 Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung verbringen eine gemeinsame Woche auf dem Campingplatz Eichholz in Bern – willkommen beim Inklusionsprojekt «Cooltour» von Blindspot. Wir durften die Kids einen Tag lang begleiten.

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Ein Plädoyer für ein ungefiltertes Zusammenleben

Die Freundinnen Tatiana und Lilly geniessen eine kurze Verschnaufpause miteinander. Foto: Gabi Neuhaus

Eine Gruppe Mädchen und Jungen läuft kreuz und quer auf dem betonierten Schulhausplatz im Berner Lorrainequartier umher. Die eine Hälfte der Jugendlichen bewegt sich roboterartig vorwärts, die andere rennt ihnen hinterher und klopft ihnen auf die Schulter. Bei jeder Berührung wechseln die Angeklopften die Richtung um 90 Grad und gehen weiter. «Hey Programmierer, dein Roboter läuft gleich in die Wand!», ruft ein Junge lachend einer Mitspielerin zu.

Auf den ersten Blick scheint diese Szene eine ganz normale Aufwärmübung in einem Sportlager zu sein. Doch beim genaueren Betrachten fällt auf, dass ein Teil dieser Kinder und Jugendlichen Menschen eine Behinderung haben.

Für die Kids scheint es keinen Unterschied zu machen, wer eine Behinderung hat und wer nicht. Während einer Verschnaufpause sitzen die Freundinnen Lilly und Tatiana vertraut beieinander und unterhalten sich übers Skateboarden. Während dem Gespräch der beiden Mädchen kommt das Thema der Behinderung gar nicht erst zur Sprache. Lilly erzählt, dass ihr vor dem Lager vor allem eines Sorgen bereitete: dass Sie Heimweh haben könnte – und nicht etwa der Kontakt mit Menschen mit einer Behinderung. «Wenn ich mit Tatiana und den anderen skate und Zeit verbringe, vergesse ich das Heimweh», erzählt die aufgestellte 10-jährige.

Mehrwert durch Vielfalt

Berührungsängste durch Durchmischung abzubauen ist das Ziel des Sommercamps «Cooltour». Das von Blindspot organisierte Inklusionsprojekt findet bereits zum neunten Mal statt. Dieses Jahr zelten 84 Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung eine Woche auf dem Campingplatz Eichholz in Bern. Die Aktivitäten, die Kurse wie Skateboarden, Kochen oder Boxen beinhalten, werden gemeinsam durchgeführt. «Wir schätzen die Vielfalt und sind überzeugt, dass diese einen grossen Mehrwehrt für die Jugendlichen mit und ohne Behinderung bringt», sagt Jonas Staub, Geschäftsführer von Blindspot. «Schliesslich haben alle ihre Themen, die sie beschäftigen und an denen sie arbeiten müssen – Behinderung hin oder her.»

Die Organisation Blindspot setzt sich dafür ein, dass Menschen mit und ohne Behinderung in der Gesellschaft gleichgestellt sind. Staub ist davon überzeugt, dass das nur funktioniert, wenn man Menschen mit Behinderung selbstbestimmt am Sozialleben teilhaben lässt. Um das zu erreichen, brauche es den Mut, die bestehenden, separativen Strukturen zu hinterfragen und durch positive Beispiele Veränderung zu schaffen. «Denn das eigentliche Ziel der Pädagogik ist es, jemanden zu unterstützen und zu befähigen, ohne gleichzeitig Abhängigkeiten zu schaffen», so der ausgebildete Pädagoge. Dafür dürfe man sich als Betreuer nicht ins Zentrum stellen und keine Angst vor Niederlagen haben.

Der Traum vom Kochen

Auch der 12-jährige Mattias hat sich mit der Lagerteilnahme seinen Ängsten gestellt. Bevor er das erste Mal bei der «Cooltour» dabei war, befürchtete er, keine Freunde zu finden. «Ich bin sehr scheu gegenüber Menschen, die ich nicht kenne», erzählt er. Seine Sorgen waren aber unbegründet: «Die anderen Kinder haben mich sehr schnell aufgenommen. Wir akzeptieren uns hier so, wie wir sind.» Die abendlichen Feuerrunden mag Mattias am Liebsten. Dann sitzen alle Kinder und Leiter ums Lagerfeuer herum und erzählen sich Geschichten, tragen Gedichte vor oder stimmen gemeinsam ein Lied an. Dass Mattias daran teilnehmen kann ist nicht selbstverständlich: Er sitzt in einem schweren, elektrischen Rollstuhl. Dies stellt jedoch kein Hindernis dar, um Mattias nicht wie alle anderen Kinder im Zelt übernachten zu lassen. «Das Ziel dieses Lagers ist es, das Unmögliche möglich zu machen», sagt eine Mitarbeiterin von Blindspot.

Der aufgestellte Junge besucht die öffentliche Schule. Er habe sich aufgrund seiner Behinderung nie benachteiligt oder schlecht behandelt gefühlt. «Die Kinder in der Schule sind immer sehr nett zu mir», sagt er mit Überzeugung. Mattias besucht das Sommerlager im Camping Eichholz schon zum zweiten Mal. Wie im letzten Jahr ist er beim Kurs «Cook & Eat» mit dabei. Das passt, denn Mattias’ Wunsch ist es, Koch zu werden. «Am Liebsten koche und esse ich italienische Küche wie Pizza und Pasta», sagt er strahlend.

Das heutige Menu ist aber amerikanisch: Die Koch-Crew bereitet frische Hotdogs zu. Gekocht wird nicht nur für die Teilnehmer des Lagers, denn heute ist Tag der offenen Türe. Eltern, Freunde und Bekannte versammeln sich auf den Festbänken unter dem mit Fähnchen dekorierten Zelt. Die Hotdogs scheinen allen wunderbar zu schmecken.

«Hier halten alle zusammen»

Zurück zu den Skatern am anderen Ende der Stadt. Die Geübteren drehen nach dem Aufwärmen schon selbstbewusst im hügeligen Skaterpark ihre Runden, die noch etwas Unsicheren üben auf dem ebenen Betonboden neben dem Park, mit den Schuhsohlen zu bremsen und auf dem Rollbrett «z’küürvle». Dass einige von den Jugendlichen in diesem Lager das erste Mal auf dem Skateboard stehen, sieht man ihnen mittlerweile nicht mehr an.

Die 15-jährige Gioya ist bereits zum fünften Mal bei der «Cooltour» dabei und hat jedes Jahr verschiedene Kurse ausprobiert. Die blondhaarige Jugendliche mit Behinderung freut sich immer wieder aufs Neue, ihre Kollegen im Feriencamp zu treffen. Gioya strahlt viel Energie aus und die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus. Sie erzählt stolz, dass sie schon nach einem Nachmittag ohne umzufallen skaten konnte. Trotz ihrer aufgeweckten Art möchte sie nicht, dass ein Foto von ihr gemacht wird.

Wie auch Mattias befürchtete Gioya, im Lager keine Freunde zu finden oder sogar ausgeschlossen zu werden. Diese Angst ist aber längst verflogen und aus einigen Lagerteilnehmern sind mittlerweile feste Freunde geworden. «Mir gefällt es, dass hier alle zusammenhalten, egal ob sie Menschen mit oder ohne Behinderung sind.» In der Freizeit passiere es nicht so oft, dass Kinder ohne Behinderung mit ihr sprechen. «Das ist schade», meint sie nachdenklich.

Programmierfehler gibt es nicht

Auch Gioya möchte Köchin werden und hat den Wunsch, eine vollwertige Lehre absolvieren zu können. Freundin Lilly antwortet darauf sofort: «Ich komm’ dann immer zu dir essen!» Auch Tatiana nickt zustimmend. «Ihr wisst ja gar nicht, wo ich einmal arbeiten werde», entgegnet Gioya. «Dann rufe ich dich halt an und frage dich», sagt Lilly mit einer Selbstverständlichkeit, die Gioya zum Strahlen bringt.

Die ungezwungene Art und Weise, wie die Mädchen miteinander umgehen, zeichnet ein positives Bild der Inklusion und zeigt, dass ein ungefiltertes Zusammenleben möglich ist. Wenn wir Menschen Roboter wären, wäre wahrscheinlich auch jeder von uns etwas anders programmiert. Aber wen kümmert es, welche Art der Programmierung das ist? Und wer bestimmt, welche Programmierung «normal» ist? Schliesslich würden wir alle zur gleichen Gruppe angehören – der Spezies des Roboters.

Was ist Blindspot?

Blindspot ist eine Schweizer Nonprofit-Organisation, die seit 2005 Inklusions-Projekte für junge Menschen mit und ohne Behinderung fördert. Blindspot strebt durch die verschiedenen Projekte, die Aktionen in Freizeit, Schule oder Arbeit umfassen, eine im Alltag gelebte Inklusion an. Hier gibt es mehr Informationen zu Blindspot.

 

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