In immer mehr Familien reicht wegen Corona das Geld nicht mehr
Schon vor Corona gab das Haushaltsbudget vieler Familien keine neue Winterjacke für den Sohn und keinen Reitunterricht für die Tochter her. Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit haben die Probleme jetzt nochmals verschärft. Doch über das Thema Armut wird kaum gesprochen.

Armut in der Schweiz: Viele Menschen haben nur wenig Geld zur Verfügung und müssen beim Einkaufen stark auf die Preise achten. Bild: zoranm, Getty Images
660.000 Menschen in der Schweiz lebten laut Bundesamt für Statistik bereits in Armut. Dann kam Corona – und auf die Pandemie folgten Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit. Auch ein Grossteil der Nebenjobs fiel weg. So ist es kein Wunder, dass die Caritas Schweiz in den vergangenen Monaten doppelt so viele Sozialberatungen durchführen musste wie zuvor. «Viele der Betroffenen waren Familien mit minderjährigen Kindern, überdurchschnittlich häufig auch Alleinerziehende», so die Caritas Schweiz.
Was heisst «Armut»?
Als arm gilt, wer nicht genügend Einkommen hat, um den Lebensunterhalt zu bewältigen. Dann werden eine Wohnung in angemessener Grösse oder ein Zahnarztbesuch unerschwinglich. Die Armutsgrenze liegt laut Bundesamt für Statistik bei ca. 2.250 Franken pro Monat für eine Einzelperson und knapp 4.000 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren.
Armutsrisiko durch Kinder
Jörg Keim, Leiter der Medienstelle des Komitees für UNICEF Schweiz und Liechtenstein, kennt die Auslöser, die arm machen. «Oft führt ein ganz bestimmtes Lebensereignis zu Armut, etwa Jobverlust und eine daraus folgende Langzeitarbeitslosigkeit, eine schwere Krankheit oder ein schwerer Unfall, die Trennung von Eltern oder die Flucht in ein fremdes Land», sagt er. Armut hänge aber auch stark mit fehlender Bildung zusammen. «Je besser ausgebildet eine Person ist, desto geringer ist ihr Risiko, in die Armut abzudriften.»
Kinderreiche Familien sind besonders gefährdet zu verarmen. Ihr Anteil ist in der Gruppe derer, die nahe der Armutsgrenze leben, überdurchschnittlich hoch. Jörg Keim erklärt, warum das so ist: «Je nach Anzahl kostet ein Kind zwischen 7.000 und 14.000 Franken pro Jahr. Die grössten Kostenblöcke sind Betreuung, Wohnung und Bildung.» Das mittlere verfügbare Einkommen von kinderlosen Paaren sei um 40 Prozent grösser als das Einkommen von Eltern mit Kindern. «Eltern haben also nicht nur mehr Auslagen wegen des Kindes, sie verdienen auch noch weniger», resümiert er. Fehlende oder zu teure Kinderbetreuungsplätze sind für diese Familien ein grosses Problem.
Alleinerziehende besonders gefährdet
Besonders schwer fällt es Alleinerziehenden, über die Runden zu kommen. Denn sie können kaum Vollzeit arbeiten, weil sie viel Zeit in die Versorgung und Erziehung der Kinder stecken. Doch wer weniger arbeitet, verdient auch weniger Geld – oft zu wenig, um damit sorgenfrei leben zu können. Auch Immigranten und Flüchtlingsfamilien landen oft in der Armut. Jörg Keim: «Ihre Kinder sprechen nicht die Landessprache, ein Handicap, das von frühester Kindheit an überwunden werden muss, damit alle die gleichen Chancen auf Schulerfolg haben.»
Working Poor
Nicht immer ist Erwerbstätigkeit der Weg, der aus der Armut herausführt. Denn arm sein, heisst nicht, keine Arbeit zu haben. Tatsächlich sind viele Menschen erwerbstätig und trotzdem von Armut betroffen. Der Stundenlohn, den sie erhalten, ist zu gering, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. «Working poor» – so werden die Betroffenen genannt. Der Caritasverband Schweiz beziffert die Anzahl auf ca. 133.000 Personen.
Schwere Sorgen, Stress und Überforderung
Arm zu sein hat gravierende Folgen. Armut bedeutet nicht nur, selbst auf notwendige Dinge des Alltags verzichten zu müssen. Arm zu sein, heisst auch, mit schweren Sorgen zu leben. «Kann ich die Miete nächsten Monat zahlen?», «Wo bekomme ich eine preiswerte Winterjacke für mein Kind her?», «Hilfe, die Waschmaschine spinnt – sie wird doch nicht kaputt gehen?» Armut erzeugt daher Stress und Überforderung. «Keine Kraft mehr zu haben, ist meine grösste Angst. Denn wenn ich kippe, dann kippt alles!», ist ein typischer Gedanke von Eltern, die nur wenig Geld zur Verfügung haben.
Jedes zehnte Kind von Armut betroffen
Kinder leiden besonders unter Armut. Wenn sie an Freizeitaktivitäten nicht teilnehmen können, fühlen sie sich ausgegrenzt. Das nagt am Selbstwertgefühl. Jedes zehnte Kind sei der Schweiz ist arm, erklärt Jörg Keim. Und jedes fünfte Kind lebe in einer Familie, die in Armut abrutschen könnte. «Dies sind alarmierende Zahlen für ein so reiches Land wie die Schweiz.»
All diese Kinder haben schlechtere Startbedingungen. Denn Eltern, die kaum das Nötigste zum Leben beschaffen kann, können ihren Kindern keine Förderungen bezahlen – Musikunterricht, Sportkurs, Kletterpark, Nachhilfe. Jörg Keim: «Kinder aus armen Haushalten haben nachweislich schlechtere Bildungschancen. Vor allem Kinder mit einem Migrationshintergrund leiden in frühen Bildungsphasen unter Integrations- und Lernproblemen, die wegen fehlenden finanziellen Mitteln nicht gelöst werden können.» Die Sprache sei nach wie vor der Schlüssel für alle Bildungswege.
«Die Schweiz muss handeln»
«Sozialleistungen dürfen nicht gekürzt werden. Subventionen für Krippen und Integrationsprogramme sollen erhöht werden», folgert Jörg Keim. «Die Schweiz muss handeln.» Vor allem Subventionen von Tagessstätten und Kinderkrippen seien in der Schweiz sehr tief, obwohl die frühkindliche Förderung ein zentraler Schlüssel zur Reduktion von Kinderarmut ist. Wenn der Staat Kinderbetreuung stärker unterstützen würde, könnten Eltern ihr Erwerbseinkommen vergrössern. «Dies wiederum hilft Eltern, der Armutsfalle zu entkommen.»
Hier gibt es Hilfe
Schuldenberatungsstellen helfen bei Geldproblemen. Adressen in der Deutschschweiz finden sich beim Dachverband der Schuldenberatungsstellen.
Der Dachverband Budgetberatung Schweiz informiert über Adressen von Budgetberatungsstellen.
Eine kostenlosen Schuldenberatung bietet die Caritas.