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Deutsch und Schweizerdeutsch? Ausländer durch Sprache integrieren

«Wie ticken die Schweizer?» Das fragen sich viele ausländische Familien, die in die Schweiz ziehen. Das Zurechtfinden in der neuen Heimat und die feinen Unterschiede zwischen Deutsch und Schweizerdeutsch zu lernen, fällt oft schwer. Doch die kulturelle Integration läuft vor allem über die Sprache.

Deutsch Schweizerdeutsch: Integration durch Verständigung
Deutsch Schweizerdeutsch: Viele kleine Unterschiede, die Einwanderer erst lernen müssen. Kulturelle Integration kommt vor allem über die Sprache zustande.

Im Zunftsaal am Rümelinsplatz in Basel sitzen rund 80 Menschen an Gruppentischen zusammen. Die Kulisse ist typisch schweizerisch, die Personen darin nach eigenem Empfinden weniger. Eine heitere Stimmung liegt in der Luft, als die erste Aufgabenstellung bekannt wird: «Malen Sie eine Situation, die Sie in der Schweiz erstaunt hat.» Und die Teilnehmenden der Abendveranstaltung «Wie ticken die Schweizer/innen?» der Ausländerberatung GGG scheinen sich einig zu sein: Das Teilen einer Waschmaschine im Mietshaus mit striktem Waschplan stösst auf allgemeines Unverständnis. Nur alle zwei Wochen einen Tag waschen können? «Schweizer und Schweizerinnen leben gerne nach Prinzipien», kommentiert Patrycja Sacharuk, Referentin des Abends und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ausländerberatung.

Allerdings sind die Teilnehmenden aus den unterschiedlichsten Ländern wie beispielsweise Deutschland, den Niederlanden oder der Türkei nicht nur zur Veranstaltung gekommen, um etwas über Waschregeln zu lernen. Sie sind neu in der Schweiz und stellen sich der Herausforderung, in der Fremde Fuss zu fassen. Ob im Arbeits- oder Alltagsleben: Vieles an der Schweizer Mentalität ist für Migranten auf den ersten Blick noch unverständlich. Die Zurückhaltung, das Qualitätsdenken und die Genauigkeit. In der Schweiz zu leben bedeutet für die meisten nicht nur eine gute Arbeitsstelle und eine Wohnung zu finden, sondern auch in die neue Kultur einzutauchen. Patrycja Sacharuk erklärt deshalb zuerst, welche historischen Ereignisse die Eidgenossen bis heute prägen. Rütlischwur, Wiener Kongress und Gründung des Bundes – alle wichtigen Wegmarken müssen die Auswanderer verstehen lernen. Dies kann zum Verständnis der kulturellen Unterschiede beitragen.

Doch nicht nur die Geschichte prägt die Bevölkerung der Schweiz. Da die Alpen einen Grossteil des Landes einnehmen, kommen etwa 450 Personen im nichtgebirgigen Drittel pro Quadratkilometer zusammen. «Dass die Schweizer und Schweizerinnen so eng aufeinander wohnen, kann auch eine Erklärung dafür sein, dass sie gerne mal Abstand halten», erklärt Sacharuk.

Deutsch und Schweizerdeutsch: Unterschiedlicher als die Einwanderer denken

Besonders die Deutsch-Schweizerdeutsch-Unterschiede interessieren die Teilnehmenden. So müssen sich alle in einem Quiz über Schweizerdeutsche Ausdrücke wie schnädere (schwatzen), Guetzli (Plätzchen), Finken (Hausschuhe), Schofsseggel (ein Trottel) oder pfuuse (schlafen) beweisen. Patrycja Sacharuk erklärt die Rolle des Dialekts, den viele Teilnehmende noch nicht verstehen können: «Die Deutschen unterschätzen oft, dass doch ein grosser Unterschied zwischen Deutsch und Schweizerdeutsch besteht. Wir verbinden mit Hochdeutschen immer Seriosität, während der Dialekt sehr emotional ist. Hochdeutsch ist eine Fremdsprache, die wir nicht sehr gerne sprechen. Lernen Sie also Schweizerdeutsch verstehen, das hilft uns Schweizern sehr. Wenn Sie es lernen wollen, ist das toll. Geben Sie nicht so schnell auf!» Allerdings sind die Meinungen zu diesem Thema zwiespältig: Viele Einheimische finden es toll, wenn ein Zugezogene Schweizerdeutsch lernen würde, andere finden es befremdlich. Am besten solle jeder so sprechen, wie er kann. Schliesslich sprechen ja auch nicht alle Schweizer wie beispielsweise Romands oder Tessiner Dialekt, so die Meinung von anwesenden Schweizern.

Einzig das Grüssen auf Schweizerdeutsch ist unerlässlich: Brav üben die Neulinge «Grüezi» und «Uf Wiederluege». «Hallo» und «Tschüss» sind immer kleine Fettnäpfchen, da sie in der Schweiz Freunden vorbehalten sind. Patrycja Sacharuk meint: «Sie können nie genug grüssen und Adieu sagen. Wenn Sie das Grüezi noch nicht so gut aussprechen können, dann reicht auch ein ’zi.» Sich den Namen des Gegenübers dabei noch zu merken, drückt eine grosse Wertschätzung aus.

Indirekte Kommunikation und Streitkultur

Wie ticken die Schweizer? Zwischen Deutsch und Schweizerdeutsch gibt es viele Unterschiede
An der Veranstaltung der GGG Ausländerberatung lernten die Teilnehmer nicht nur einiges über ihr neues Heimatland, sondern tauschen sich auch rege aus.

Besonders ecken die deutschen Einwanderer bei der indirekten Kommunikation an. Ein Deutscher erzählt von einer Situation mit seinen Nachbarn: Er wollte seine Badetasche vom Rheinschwimmen im Treppenhaus trocknen. Gleich am nächsten Tag prangte ein Beschwerdezettel an seiner Tür. Er solle doch seine schmutzige Wäsche nicht im Hausflur trocknen. Der Deutsche wunderte sich darüber, warum niemand bei ihm geklingelt oder direkt das Gespräch gesucht hatte. Er spielte mit und schrieb zurück, er hätte nur eine Badetasche trocknen wollen, nicht die Wäsche. Am nächsten Morgen hing die Hausordnung an seiner Tür, mit markiertem Absatz zur entsprechender Regel. «Für mich war diese Situation symbolisch. Man ist in unangenehmen Situationen nicht so direkt und versteckt sich hinter der schriftlichen Kommunikation», meint er. Patrycja Sacharuk erklärt dieses Verhalten mit der Mühe der Schweizer auf die Menschen zuzugehen und direkt zu kommunizieren. «Brechen Sie das Eis und gehen Sie auf die Schweizer und Schweizerinnen zu. Wir schätzen das und haben weniger Angst vor Konfrontation», rät sie.

Wenn Schweizer Zugezogenen ihre Meinung sagen, sind diese oft nicht sicher, ob ein mildes Urteil gut oder schlecht war. Sacharuk erklärt dies auch mit der Mentalität der Einheimischen und dem Streben nach Harmonie: «Wir passen sehr darauf auf niemanden zu verletzen. Wir reden oft im Konjunktiv, den Befehlston mögen wir gar nicht. Dass wir subtil oder indirekt kommunizieren, merken wir oft nicht. Mein Tipp: Fragen Sie nach. Das ist immer erlaubt.»

Duzis machen beim Apéro

Privatleben und Arbeitsleben sind oft strikt getrennt. Der Apéro ist die perfekte Gelegenheit das Du anzubieten und auch mal über Privates zu reden. Viele Teilnehmende loben während der Veranstaltung das freundliche Arbeitsklima, dennoch muss man sich als Neuer erst beweisen. «Wir sind im täglichen Miteinander schnörkelloser, pflegen eine höfliche Alltagssprache und unkomplizierte Umgangsformen. Auf der anderen Seite gibt es eine gewisse Igel-Mentalität. Die Gene des Bergbauern, der allem Neuen mit Skepsis oder Ablehnung begegnet, stecken heute immer noch in den Schweizerinnen und Schweizern», erklärt Sacharuk.

Kulturelle Integration: Freundschaften schliessen

Sie ticken also eigen aber herzlich, die Einheimischen. Wie schliesst man mit ihnen als Zugezogener Freundschaften? Patrycja Sacharuk rät: «Gehen Sie in einen Verein. Dort treffen sie auf Schweizerinnen und Schweizer. Erwarten Sie nicht, dass sie auf Sie zukommen. Das machen sie meistens nicht, ausser sie waren mal im Ausland und wissen, wie es ist irgendwo neu zu sein.»

Ebenso schwierig wie Kontakte zu finden, sind spontane Treffen: Lieber plant der Schweizer seine Termine ein paar Wochen im Voraus, ist dann aber pünktlich und gut vorbereitet.

Patrycja Sachajuk erinnert an die Fruchtmetapher von Margaret Oertig- Davidson: Schweizer sind Kokosnüsse, Amerikaner sind Pfirsiche. Hat man die Eidgenossinnen und Eidgenossen einmal geknackt, gibt es viel Fruchtfleisch. Bei den Amerikanern sei es leichter Kontakte zu finden, aber der Kern ist sehr klein. Einen bestehenden Freundeskreis pflegen Herr und Frau Schweizer auch. Da wird es für Zugezogene schwieriger hineinzukommen. Ein Teilnehmer kommentiert: «Während Sie in einem anderen Land einen Freund in zwei Tagen finden können, braucht man hier ein bis zwei Jahre. Man muss ständig dran bleiben und nicht aufgeben.»

GGG Ausländerberatung in Basel

Die Ausländerberatung der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige ist die älteste und grösste Anlaufstelle für Migrantinnen und Migranten im Kanton Basel-Stadt. Seit 1962 baut sie Brücken zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sprachen. Sie gliedert sich in eine Beratungsstelle, eine Informationsstelle Integration und einen Übersetzungsdienst. Beratungen können von Firmen, Fach- als auch Privatpersonen in 15 verschiedenen Sprachen bezogen werden. Daneben gibt es Willkommensveranstaltungen, Stadtrundgänge, Deutsch- und Integrationskurs und Hilfe bei Behördengängen. mehr

Text und Bilder: Michèle Graf.

Jens-Rainer Wiese lebt mit seiner Familie seit über zehn Jahren in der Schweiz. Auf seinem Blog blogwiese.ch nimmt er die kleinen und grossen Unterschiede zwischen Schweizern und Deutschen humorvoll unter die Lupe. Besonders die sprachlichen Eigenheiten und Kuriositäten reizen ihn: Über die Jahre ist er zu einem Deutsch-Schweizerdeutsch-Experten geworden. Im Interview verrät er, warum gerade eine sprachliche Integration für Zugezogene entscheidend ist.

Deutsch Schweizerdeutsch: Kulturelle aufmerksam sein hilft bei der Integration
Fondue essen reicht nicht: Blogger Jens Wiese rät Zuwanderern kulturell aufmerksam zu sein und sich ins Schweizerdeutsche einzuhören. Bild: iStockphoto, Thinkstock.

Herr Wiese, Sie leben mit Ihrer Familie seit über zehn Jahren in der Schweiz: Welches war das grösste Problem am Anfang?

Jens-Rainer Wiese: Die Sprache. Sie haben keine Ahnung was es bedeutet, wenn wirklich alle Dialekt im Alltag sprechen. Wir haben uns da schnell reingehört, da wir schon vorher in Süddeutschland lebten. Für einen Norddeutschen ist das oft schwieriger.

In Ihren Blog schreiben Sie: «Wer sich nicht anpasst, kommt in der Schweiz nicht zum Ziel». Wie sieht Anpassung für Sie konkret aus?

Das beste Beispiel ist die Übernahme der anderen Kommunikationskultur bei Begegnungen, am Telefon, bei Kontakt mit Behörden und vielem mehr. Wenn Sie da auf direkt deutsch und stur schalten, kommen Sie mit Sicherheit nicht zum Ziel.

Was haben Sie und Ihre Familie gemacht, um in der Schweiz Anschluss zu finden?

Unser Kind ging in die Primarschule, was ungemein integriert. Wir engagierten uns ausserdem in der Kirche, in einem Chor und waren einfach nett und offen zu den Schweizer Nachbarn. Einen Hund zu haben und viel mit ihm ausgehen hilft auch, viele andere «Hündeler» kennenzulernen.

Was behindert in Ihren Augen die kulturelle Integration in der Schweiz?

Die Unfähigkeit sein Hörverständnis für Schweizerdeutsch zu verbessern. Das passiert aber nur selten bei Deutschen, die kein gutes Sprachgefühl haben oder sich nicht zutrauen sich einzuhören. Es geht hier nicht um das aktive Erlernen von Schweizerdeutsch, sondern um das reine Verstehen.

Über welche Kleinigkeiten stolpern Sie im Umgang mit Schweizern immer wieder?

Ich beginne immer noch gern spontan direkte Kommunikation ohne Einleitung und renne dabei gegen eine Mauer. Auch Ironie kommt bei manchen Schweizern nicht immer gut an.

Würden Sie sich heute als integriert bezeichnen?

Ich bleibe wohl immer Deutscher, «verschweizere» aber langsam. Zu 40 Prozent bin ich es vielleicht.

Wer fand schneller in die neue Kultur: Sie oder Ihre Kinder?

Ich denke, wir gewöhnten uns gleich schnell oder langsam an die andere Kultur. Wir hatten ja quasi keine andere Wahl.

Was sollte man als Neuzugezogener auf keinen Fall machen?

Laut sein, alles kritisieren und mit Deutschland vergleichen. Und glauben, nur weil es in Deutschland «ein Pils» gibt in der Kneipe, gibt es das auch in der Schweiz. Man sollte kulturell auf «aufmerksam» schalten, beobachten und lernen.

Was sollte man sich abgewöhnen, wenn man in die Schweiz kommt?

Nach Schwarzbrot oder Graubrot in der Migros zu suchen und Tschüss am Ende eines Telefongesprächs mit Geschäftspartner zu sagen. Und man sollte nicht laut «Guten Tag» entgegnen, wenn der Schweizer «Grüezi» sagt. Auf die Frage am Telefon «Sind sie noch da?» sollten Zuzügler nicht antworten: «Nein, ich bin explodiert» oder «Nein, sie sprechen nur noch mit meinem Beantworter.»

Welches ist das grösste Schweizer Fettnäpfchen?

Meiner Meinung nach ist es nicht zu wissen, wie die derzeitige, letzte und vorletzte Miss Schweiz heisst. Ein Fettnäpfchen, in das Schweizer häufig selbst treten ist, das merkwürdige Verhalten, auf «rüder» und «ungehobelter» schalten, wenn sie mit Deutschen kommunizieren. Sie denken, das würden die Deutschen so wollen oder besser verstehen.

Interview: Michèle Graf.

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