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Kindesmisshandlung erkennen und helfen

Wenn das Baby dauernd schreit, das Schulkind nicht gehorchen will und der Jugendliche seinen eigenen Kopf hat, sind Eltern schnell überfordert. Manche so sehr, dass ihr einziger Ausweg in einer Kindesmisshandlung endet. Was darunter zu verstehen ist und an wen sich Eltern und  Angehörige wenden können, erfahren Sie hier.

 
Wenn es zur Kindesmisshandlung kommt, sollten Angehörige schnell reagieren.
Etwa 10 bis 20 Prozent der Kinder erleiden eine Form der Kindesmisshandlung. Foto: © Jane - Fotolia.com

Für den normalen Menschen sind Bilder von Kindesmisshandlungen nur schwer ertragbar. Als Ulrich Lips, Leiter der Kinderschutzgruppe im Kinderspital Zürich, am 13. Zürcher Forum Prävention und Gesundheitsförderung zum Thema Kindesmisshandlung Fotos von misshandelten Kindern zeigt, müssen viele Zuhörer schlucken. Auf einem Foto ist der Rücken eine Kindes abgebildet, auf dem sich die Abdrücke eines Auto-Zigarettenanzünders abzeichnen. Bei einem anderen Foto ist der Abdruck einer Hand auf der Wange eines Kindes zu sehen.

Dass Eltern ihren eigenen Kindern solche Schmerzen zufügen können und was diese Kinder erlebt haben, ist kaum vorstellbar. Dennoch sind diese Kinder keine Einzelfälle. «Kindesmisshandlung ist häufig», schreibt Kinderarzt Ulrich Lips in einem Leitfaden zu Früherfassung und Vorgehen in der ärztlichen Praxis. 10 bis 20 Prozent der Kinder erleiden gemäss Schätzungen bis zu ihrem 18. Geburtstag eine Form der Kindesmisshandlung.

Die Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich verzeichnete im Jahr 2010 die grösste Zahl der gemeldeten Fälle von Kindesmisshandlung seit Beginn der Datenerhebung 1969. Insgesamt 487 Fälle von Kindesmisshandlungen wurden der Kinderschutzgruppe gemeldet, 16 Prozent mehr als im Jahr davor. Der Anstieg kann zum einen auf die tatsächlich erhöhte Anzahl von Kindesmisshandlungen zurückzuführen sein oder aber darauf, dass Fälle besser erkannt werden. «Niemand weiss, wie häufig Kindesmisshandlungen sind», erklärt Lips. «Die Dunkelziffer ist hoch.»

Formen der Kindesmisshandlung

Damit Kinderärzte die Formen der Kindesmisshandlung und auch Verdachtsfälle frühzeitig erkennen, hat Ulrich Lips von der Kinderschutzgruppe einen Leitfaden für Ärzte und Praxishelfer verfasst. Er beschreibt die wichtigsten Formen der Kindesmisshandlung.

Körperliche Misshandlung

Unter körperlicher Misshandlung fallen Schläge, Verbrennungen oder Verbrühungen, Quetschungen und das Schütteln eines Kindes. Die Eltern der Kinder, die mit diesen Verletzungen ins Spital oder zu einem Arzt kommen, erzählten meist nicht die Wahrheit. «Die Eltern erfinden Geschichten. Sie sagen: Keine Ahnung, was passiert ist. Das Kind war allein im Zimmer. Das Kind ist gefallen und gestürzt», sagt Lips. Daher müssten die Ärzte selbst herausfinden, was passiert ist.

Das Schütteln eines Kindes ist besonders gefährlich. Wenn ein Baby viel schreit, fühlen sich manche Eltern so stark überfordert, dass sie ihr Kind schüttelt, damit es aufhört zu schreien. Babys können aber ihren Kopf noch nicht stabilisieren. Das führt zu Atemstörungen, Krampfanfällen oder zu Bewusstlosigkeit. 20 – 25 Prozent der Kinder sterben laut Kinderarzt Lips unmittelbar nach dem Trauma. Diejenigen, die überleben, sind meist behindert.

Sexuelle Ausbeutung

Die sexuelle Ausbeutung umfasst Exhibitionismus, Pornografie mit Kindern, Berührungen im Intimbereich, Masturbation mit dem Kind und die Penetration (vaginal / anal / oral). Viele dieser Formen hinterlassen beim Kind keine sichtbaren Spuren und sind daher schwierig zu erkennen. In 90 Prozent der Fälle stammt der Täter aus dem sozialen Umfeld des Kindes. Es ist nicht der Fremde, sondern der Freund der Eltern, der Onkel oder andere Bekannte, welche das Kind sexuell misshandeln.

Psychische Misshandlung

Unter psychischer Misshandlung ist die langfristig negative Einstellung der Eltern zum Kind zu verstehen. Das Kind wird ständig herabgesetzt. Die Eltern vermitteln beispielsweise Schuldgefühle: Wegen dir können wir nicht in den Ausgang, sagen sie. Sie beschimpfen ihr Kind, entwürdigen und demütigen es. «Die aktuell häufigste Form der psychischen Misshandlung ist die häusliche Gewalt, bei der die Kinder die verbalen, psychischen oder physischen Auseinandersetzungen ihrer Eltern miterleben müssen», schreibt Kinderarzt Lips im Leitfaden.

Vernachlässigung

Wenn Kinder vernachlässigt werden, bedeutet das, das ihre kindlichen Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Dazu gehören die Ernährung, die Hygiene und die Kleidung. Ein Kind wird aber auch vernachlässigt, wenn es nicht betreut und beaufsichtigt wird.

Münchhausen Stellvertreter-Syndrom

Beim Münchhausen Stellvertreter-Syndrom erwecken Eltern, meist sind es Mütter, bei Ärzten ein sehr positives Bild. Sie wirken bemüht und kooperativ. Meist erfinden sie Symptome, die ihr Kind haben soll wie Fieber, Krämpfe oder Blutungen oder sie erzeugen diese durch Manipulationen. Das hat zur Folge, dass das Kind untersucht wird. Weil aber niemand herausfinden kann, warum das Kind diese Symptome zeigt, rückt die Mutter als «besorgte Betreuungsperson», wie Lips schreibt, ins Zentrum.

Neben diesen von der medizinischen Fachwelt etablierten Formen der Kindesmisshandlung, gibt es weitere Formen von Misshandlungen, die im Zivilrecht oder den Sozialwissenschaften eine Rolle spielen. Das sind beispielsweise Misshandlungen durch einen Erwachsenenkonflikt um das Kind wie es bei Scheidungen und Trennungen der Fall sein kann oder strukturelle Misshandlung, die unter anderem durch Umweltprobleme ausgelöst werden kann.

Kinder brauchen Hilfe, wenn sie misshandelt wurden.
Nachbarn, Bekannte, und Freunde sollten nicht wegsehen, wenn es zur Kindesmisshandlung gekommen ist. Foto: © Miredi - Fotolia.com

Nicht wegsehen bei Kindesmisshandlung

Ausser den Kinderärzten sollten auch andere die Augen offen halten. «Nicht wegsehen!» sagte Kathie Wiederkehr, Geschäftsleiterin der Stiftung Kinderschutz Schweiz am Zürcher Forum. Denn «Kinderschutz geht uns alle an». Wenn Nachbarn, Bekannte, Verwandte, Lehrer, Trainer oder andere dem Kind nahestehende Personen bemerken, dass etwas mit dem Kind nicht stimmt, sollten sie handeln. Allerdings nicht aus dem Bauch heraus. Sie sollten sich an Fachpersonen wie Kinderärzte, Kinderschutzgruppen oder den Elternnotruf wenden. Eltern, die merken, dass sie an Grenzen stossen und überfordert sind, sollten sich auch helfen lassen. Ansprechpartner sind beispielsweise der Elternnotruf, bei Babys die Mütterhilfe oder Kinderärzte.

Elternnotruf: Hilfe und Beratung für Eltern, Familien und Bezugspersonen

Der Elternnotruf bietet unter der Nummer 0848 35 45 55 (Festnetztarif) rund um die Uhr eine telefonische Beratung an. Ausserdem gibt es eine E-Mail-Beratung sowie die Möglichkeit sich vor Ort in Zürich beraten zu lassen. Die Psychologen, Sozialarbeiter und Pädagogen des Elternnotrufs helfen in Krisensituationen, bei Überforderung oder bei Erziehungsfragen. Gemeinsam mit den Eltern oder anderen Personen versuchen sie, Lösungen zu finden. «Viele Anrufende sind sehr empfänglich für Hilfe», sagt Andrea Bütikofer vom Elternnotruf. «Denn meist sind sie gerade in dem Moment in einer Notsituation.»

Kindesmisshandlung: Anlaufstellen und Beratungen

  • Elternnotruf: Beratung für Eltern und Bezugspersonen
  • Lilli: Online-Beratung für Kinder und Jugendliche zu sexueller Gewalt
  • Schau hin: Online-Beratung zum Thema sexuelle Gewalt
  • SODK: Adressen der Opferhilfe-Beratungsstellen nach Kantonen sortiert zum Download

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