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Schweizer Gesundheitssystem ist nicht familienfreundlich

Familien fühlen sich beim Thema Gesundheit immer mehr allein gelassen. Das Schweizer Gesundheitssystem benachteiligt die Familie. Das stellten Referenten am «Forum Familienfragen» in Bern fest. Sie glauben, dass die Gesundheit der Familie stärker gefördert werden sollte.

Gesundheit muss für Familien stärker gefördert werden.
Das Gesundheitssystem in der Schweiz ist nicht besonders familienfreundlich. Foto: iStock, Catherine Yeulet, Thinkstock

Die Gesundheit der Gesellschaft wird wesentlich von der Familie geprägt. Sie kann dazu beitragen, dass sich Eltern und Kinder wohlfühlen. Am «Forum Familienfragen» der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen, das am 21. Juni 2011 in Bern stattfand, beschäftigten sich die Referenten und Teilnehmenden mit der Gesundheit. Das Ergebnis der Tagung: Eltern und Kinder brauchen mehr Unterstützung vom Staat und der Gesellschaft. Denn das Schweizer Gesundheitssystem ist nicht familienfreundlich.

Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung fühlt sich zwar gemäss der Gesundheitsbefragung des Bundesamtes für Statistik von 2007 gesund. Aber mehr als ein Drittel ist übergewichtig. Und nur zwei von fünf Personen bewegen sich in ihrer Freizeit ausreichend. 43 Prozent klagen über Rückenschmerzen, 42 Prozent über allgemeine Schwäche. Viele haben Kopfschmerzen oder leiden an Einschlafstörungen.

Familiensituation prägt Gesundheit und Krankheit

Ein Blick auf die Familien zeigt, dass besonders die Familiensituation den Gesundheitszustand prägt. «Das Krankheitsrisiko der Kinder ist in alleinerziehenden Familien am grössten», sagte der deutsche Gesundheitswissenschaftler Peter-Ernst Schnabel. Er erklärte am Forum, dass die veränderten Rahmenbedingungen die Eltern unter Druck setzen. Steigt dieser Druck, werden die Familienmitglieder krank.

Zu den veränderten Rahmenbedingungen gehört, dass heute immer weniger Personen zu einer Familie gehören. Die Grossfamilie von früher, bei der Eltern, Grosseltern, Tante oder Onkel gleichermassen die Betreuung der Kinder übernahmen, ist nur noch sehr selten zu finden. Folglich kümmern sich immer weniger Personen um die Kinder. Die Zahlen der Eineltern- und Patchworkfamilien steigen an. Ausserdem werden immer mehr Ehen geschieden. Das beeinflusst die Gesundheit der Eltern und Kinder stark. Hinzu kommt, dass diese Familien, vor allem Alleinerziehende, stärker von Armut betroffen sind und sich eine ausreichende Gesundheitsvorsorge und –versorgung nicht leisten können.

Migrantenfamilien klagen über chronische Schmerzen

Eine weitere benachteiligte Gruppe sind die Migrantenfamilien. Sie klagen häufig über chronische Schmerzen. Denn viele haben den Verlust der Heimat noch nicht überwunden und können sich in der Schweiz nicht gut integrieren. Hinzu kommt, dass sie das Schweizer Gesundheitspersonal oft nicht verstehen.

Dolmetscher, welche die Sprachhürden beseitigen könnten, werden aber von der Krankenversicherung nicht bezahlt. Das kritisierte Béatrice Despland, Professorin an der Schule für Gesundheitswissenschaften HECVSanté Lausanne. «Die Finanzierung stellt viele Familien vor Probleme, die für einige von ihnen sogar so weit gehen können, dass sie keinen Zugang zu Pflegeleistungen haben oder darauf verzichten», sagte sie am Forum.

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Gesundheitssystem ist nicht familienfreundlich

Ihre Bilanz nach 15 Jahren Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) fiel durchwachsen aus. Sie plädierte dafür, dass Kinder von der Prämienzahlung auszuschliessen sind. Denn das System der einkommensunabhängigen Kopfprämien berücksichtigt die finanzielle Situation der Familien nicht gut genug. Vor allem die mittlere Bevölkerungsschicht, die nicht oder nur teilweise von den Prämienverbilligungen profitieren kann, hat zum Teil Schwierigkeiten die Prämien zu bezahlen.

Ausserdem kritisierte Despland, dass bestimmte Leistungen wie zahnärztliche Behandlungen oder Brillen nicht vergütet werden. «Diese Kostenüberwälzung auf die Familien schafft Probleme», gab sie zu bedenken. Familien mit niedrigem Einkommen würden auf diese Leistungen gänzlich verzichten.

Die Professorin störte sich an weiteren Ungleichheiten: Bei der Behandlung von Schwangerschaftskomplikationen und bei einer Risikoschwangerschaft muss die Frau eine Franchise zahlen, während bei einer normalen Schwangerschaft kein Selbstbehalt fällig wird. Betagte Personen müssen sich seit dem 1. Januar selbst an den Kosten der Pflegeleistungen beteiligen. Gewisse Leistungen werden bei der Pflege zu Hause nicht bezahlt, im Pflegeheim aber schon.

Dominique Spumont und Anna Sax sprachen sprachen über Gesundheit und Familie.
Professor Dominique Spumont und Gesundheitsökonomin Anna Sax sprachen am Forum Familienfragen in Bern über Gesundheit und Familie. Foto: Zimmerling

In der Schweiz mangelt es an Hausärzten

Ein weiterer Referent der Tagung, Peter Tschudi, Vorsteher am Institut für Hausarztmedizin in Basel, stellte einen anderen Mangel im Gesundheitssystem fest. «Viele Eltern werden mit ihren Problemen allein gelassen. Hier könnte der Hausarzt eingreifen und helfen», sagte er. Das Problem: Es gibt einen Mangel an Hausärzten in der Schweiz. Um den Bedarf zu decken, müssten doppelt so viele Hausärzte wie heute ausgebildet werden, schätzte der Hausarzt. Das würde die Gesundheitsprävention für Familien stärken.

Staat soll Familien stärker unterstützen

So plädierten denn auch an der Podiumsdiskussion die Experten dafür, dass der Staat die Familien stärker unterstützen sollte. Professor Dominique Spumont von der Universität Neuchâtel sagte: «Die Familie sollte die Rolle der Prävention übernehmen. Da sich der Staat aber immer mehr zurück zieht, fühlen sich die Familien allein gelassen. Wenn wir eine gesund Politik haben wollen, sollten wir Familien bei der Prävention unterstützen.» Ähnlich argumentierte die Gesundheitsökonomin Anna Sax: «Das Sparen im Gesundheitswesen ist nicht gesund.» Vor allem bei der Langzeitpflege sieht sie ein grosses Finanzierungsproblem.

Professorin Elisabeth Zemp Stutz vom Schweizerischen Tropen- und Public-Health Institut in Basel sieht Nachholbedarf bei der Unterstützung zur Familiengründung. «Heute ist der Beginn als Familie eine grössere Herausforderung als früher», erklärte sie. Sie würde sich zum Beispiel wünschen, dass das Stillen des Babys nicht durch den Wiedereinstieg der Mutter in den Beruf aufgegeben wird. Dafür sei Unterstützung notwendig.

Der Präsident der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen Jürg Krummenacher wies zudem noch einmal auf die besondere Situation der Migrantenfamilien hin. Es sollte für die Finanzierung von interkulturellen Dolmetschern gesorgt werden.

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