Kind > Betreuung

Kinderbetreuung in Wettingen: «Das Angebot ist nicht lebbar»

Die Zukunft der Kinderbetreuung in Wettingen ist ungewiss. Nachdem der Einwohnerrat mit Einführung der Blockzeiten die Betreuungszeiten drastisch reduzierte, erklärte sich  der zuständige Verein Tagesstrukturen nicht mehr bereit, die neue Leistungsvereinbarung mit der Gemeinde zu unterschreiben. Jetzt soll eine Volksinitiative für ein durchgehendes Betreuungsangebot sorgen. Wie es dazu kam, erklärt Vereinspräsidentin Marianne Rüegg.

Kinderbetreuung: Nicht überall ist sie selbstverständlich.
Die Tagesstrukturen Wettingen garantieren einen betreuten Mittagstisch und Randstundenbetreuung - doch nicht zu den Bedingungen des Einwohnerrats. Foto: iStock, Thinkstock

Tagesstätten, Krippen, Horte – Frühkindliche Bildung und familienergänzende Betreuung werden in der Schweiz immer mehr zur Selbstverständlichkeit. In den letzten acht Jahren erfolgte dank eines Impulsprogramms des Bundes ein Ausbau des Angebots um 60 Prozent. Die jüngsten Begebenheiten rund um die «Tagesstrukturen Wettingen» zeigen jedoch ein anderes Bild. Die Einführung von Blockzeiten nahm der Einwohnerrat zum Anlass, das Betreuungsangebot an schulfreien Nachmittagen massiv zu streichen. Eine Entscheidung, die der Leistungsträger der Betreuung, der Verein Tagesstrukturen Wettingen, für falsch hält. Mit der Reduzierung der Betreuungszeiten von 22 auf 13 Stunden sei keine sinnvolle ausserschulische Betreuung möglich, so der Verein.

Der Verein Tagesstrukturen engagiert sich seit 1996 für ein umfassendes und kostengünstiges Kinderbetreuungsangebot in der Aargauer Gemeinde Wettingen. An allen drei Primarschulen wird je ein Mittagstisch und Randstundenbetreuung angeboten. Trotz steigender Nachfrage erlebte der Verein vor wenigen Wochen einen Misserfolg. Der Einwohnerrat lehnte die Motion zur Verbesserung des durchgehenden Betreuungsangebotes ab, weshalb der Verein um Präsidentin Marianne Rüegg sich nicht mehr bereit erklärte, die neue Leistungsvereinbarung  der Gemeinde weiterzuführen. Wer sich kommendes Schuljahr in Wettingen um die Kinderbetreuung kümmern wird, bleibt unklar. Die Ablehnung der Motion zwang den Verein «Tagesstrukturen Wettingen» jedoch nicht in die Knie. Innerhalb von wenigen Wochen wurde ein Komitee gegründet und am 1. Dezember eine Volksinitiative lanciert. Jetzt könnte womöglich bald das Volk die Betreuungsfrage in der Gemeinde Wettingen entscheiden.

Kinderbetreuung in Wettingen: Wie kam es zum Bruch?

Im vergangenen Juni erteilte der Einwohnerrat Wettingen grünes Licht für die neuen Blockzeiten in der Primarschule. Alle Kinder sollen künftig von acht bis zwölf Uhr Schule haben – nicht wie gehabt nur von neun bis elf Uhr. Die Gemeinde ist in dieser Beziehung eindeutig eine Spätzünderin: Die Stadt Zürich führte die Blockzeiten bereits vor zehn Jahren ein. Auch Wettingens Nachbargemeinden zogen vor wenigen Schuljahren mit und erhielten von den Eltern positive Rückmeldungen. Erwerbstätigkeit und Familie waren so deutlich einfacher zu vereinbaren.

Marianne Rüegg, Vorstandsvorsitzende der «Tagesstrukturen Wettingen», war es nach diesem Entscheid wichtig, dass sich auch das Betreuungsangebot an die neuen Blockzeiten anpasst. Die zuvor morgens beanspruchten Stunden sollten auf den frühen Nachmittag verlegt und das Nachmittagsangebot bis 17.30 Uhr verlängert werden. Zudem würden die Kinder jetzt vermehrt schulfreie Nachmittage haben. Das Angebot sollte auch ihnen offen stehen und nicht wie bisher nur denjenigen, die in den Randstunden nach dem Schulnachmittag die Tagesstrukturen besuchten. Marianne Rüegg erarbeitete mit ihrem Verein ein Konzept, das diese Umstellung kostenneutral zu tragen vermochte.

Im vergangenen November legte Rüegg ihre Motion dem Einwohnerrat vor – der sie mit 19 von 29 Stimmen deutlich ablehnte. Ein für den Verein «Tagesstrukturen Wettingen» unbefriedigender Gegenvorschlag des Gemeinderats wurde angenommen. Die anschliessenden Diskussionen wurden laut. So laut, dass sich der Verein entschied, die neue Leistungsvereinbarung mit der Gemeinde nicht mehr zu unterschreiben und eine Volksinitiative zu starten. Marianne Rüegg erklärt im Interview mit familienleben.ch, weshalb sich der Verein zu diesem drastischen Schritt gezwungen sieht.

Frau Rüegg, warum braucht Wettingen ein intensiveres Kinderbetreuungsangebot?

Wettingen ist die bevölkerungsreichste Gemeinde des Kantons Aargau. Es darf nicht sein, dass sie kein durchgehendes, schulergänzendes Betreuungsangebot hat, auf das man sich verlassen kann. Viele ansässige Familien haben in diesem Bereich ein grosses Bedürfnis.

Tagesstrukturen Wettingen

Das Departement Gesundheit und Soziales des Kantons Aargau definiert den Begriff der Tagesstrukturen als modul- und wohnortorientiertes, familienergänzendes Betreuungsangebot, das freiwillig und flexibel genutzt werden kann. So grenzt es sich deutlich vom Begriff der Ganztagsschule ab. «Die Tagesstruktur als Betreuungsform ermöglicht den Kindern ab dem Schuleintrittsalter Gruppenerfahrungen, fördert die Fähigkeiten zum Aufbau sozialer Beziehungen und zu kreativer Freizeitgestaltung», so das Departement.
Der Verein Tagesstrukturen Wettingen hat sich 1996 gegründet. Gemeinsam mit den drei Wettinger Primarschulen Altenburg, Dorf und Margeläcker bietet er während der Schulwoche an schulnahen Standorten je 22 Betreuungsstunden pro Woche an. Die Kosten sollen möglichst gering gehalten werden. Derzeit kostet die Kinderbetreuung von «Tagesstrukturen Wettingen» neun bis 15 Franken pro Betreuungseinheit inklusive Mittagessen und drei bis neun Franken pro Randstundenbetreuung.

 

Den Unterschriftenbogen für die Volksinitiative «Für ein freiwillig nutzbares und umfassendes Betreuungsangebot für unsere Kinder» können Sie hier herunterladen.

Was läuft derzeit mit der Kinderbetreuung in Wettingen falsch?

Der Wettinger Einwohnerrat unterscheidet anscheinend zwischen betreuungsberechtigten und nicht-betreuungsberechtigten Kindern. Das schafft für viele Eltern eine unannehmbare Lage, da nur die Kinder am Nachmittag betreut werden dürfen, die auch Schule haben. Wenn nun ein Kind am Nachmittag schulfrei hat und seine Schwester oder sein Bruder in der Schule ist, so darf nur das Geschwister die schulergänzende Betreuung in Anspruch nehmen.
Mit der Einführung der Blockzeiten im nächsten Schuljahr haben insbesondere die jüngeren Primarschulkinder mindestens an drei Nachmittagen schulfrei. Selten sind Arbeitgeber so flexibel, dass Eltern genau dann arbeiten können, wenn per Zufall beide Kinder am gleichen Nachmittag Schule haben. Das Angebot der Gemeinde Wettingen ist aus diesen Gründen nicht lebbar. Es basiert auf einem unrealistischen Zufallsprinzip und behandelt Familien ungleich.

Die Tagesstrukturen Wettingen wollen ein Zeichen setzen.
Dem Verein Tagesstrukturen Wettingen ist es auch wichtig, die soziale Zusammengehörigkeit der Kinder zu fördern. Foto: privat

Welche Gemeinden sind in Sachen Kinderbetreuung Ihr Vorbild?

In den umliegenden Gemeinden Baden, Ennetbaden, Ehrendingen und Würenlos existieren bereits durchgehende Betreuungsangebote. Als eindeutiges Vorbild kann die Gemeinde Ennetbaden genannt werden. Dort werden die Kinder sowohl in den frühen Randstunden am Morgen betreut als auch beim Mittagstisch und am Nachmittag sowie während den acht schulfreien Wochen. Das Angebot wird in enger Zusammenarbeit zwischen Gemeinde, Tagesstrukturen und Schule organisiert. Aber auch die Stadt Baden bietet mit ihren Tagesstrukturen in den Aussenquartieren und dem Tageshort in der Altstadt eine gute, durchgehende Betreuung während der Schul- und Ferienzeit an. 

Der Wettinger Einwohnerrat hat Ihre Motion «durchgehende Tagesstrukturen machen Sinn» abgelehnt. Warum gibt es so viel Widerstand für ein Tagesbetreuungsangebot, das in anderen Gemeinden selbstverständlich ist?

Leider ist es mir bis heute unverständlich, weshalb die Gemeinde Wettingen sich derart gegen ein verlässliches und durchgehendes Tagesstrukturangebot wehrt. Das Angebot ist ja völlig freiwillig und diejenigen Eltern, die es nutzen, können aus den verschiedenen Modulen wählen.
Auf politischer Ebene wurde das Argument vorgebracht, dass es Kindern nicht zuzumuten sei, montags bis freitags von 7.00 Uhr morgens bis 18.00 Uhr abends in der Schule bleiben zu müssen. Aber erstens ist das Angebot kein Muss, zweitens brauchen Eltern in der Regel lediglich ein bis drei Tage schulergänzende Betreuung. Selten beanspruchen Eltern von Montag bis Freitag die Betreuung in den Tagesstrukturen. In anderen Gemeinden zeigt sich, dass oft nur einzelne Module gewählt werden. Wer zum Beispiel seine Kinder für den Mittagstisch einschreibt, belegt nicht unbedingt auch die Nachmittagsstunden.
Hätte der Einwohnerrat die Motion angenommen, wären die bereits bestehenden Betreuungsstunden den neuen Stundenplänen entsprechend umgestellt worden. So hätten wir ein durchgehendes, verlässliches Betreuungsangebot gewährleisten können.  Und dies zudem kostenneutral.

Sie haben nach der Ablehnung Ihrer Motion beschlossen, die neue Leistungsvereinbarung mit dem Gemeinderat nicht mehr weiterzuführen. Warum dieser drastische Entschluss?

Der Vorstand der Tagesstrukturen Wettingen Die Mitgliederversammlung hat an seiner Versammlung  beschlossen, dass der Verein die neue Leistungsvereinbarung nicht unterzeichnen wird, wenn die gemeinderätliche Abspeck-Variante mit betreuungs- und nicht-betreuungsberechtigten Kindern angenommen wird. Wir hoffen sehr, dass wir hiermit ein Zeichen setzen, damit in Zukunft die Gemeinde mit ihren Partnern einen besseren Umgang pflegt. Unser Verein ist in den ganzen politischen Prozess nicht eingebunden worden. Niemand hat sich unsere Argumente ernsthaft angehört. 
Obwohl es schmerzt, eine über Jahre aufgebaute Organisation loszulassen, mussten wir diesen Schritt unternehmen, da wir  eine solche Abspeck-Variante nicht weiter mit gutem Gewissen gegenüber den Eltern vertreten können.

Wer wird sich dann ab kommendem Schuljahr um die Betreuung der Schulkinder kümmern?

Im Moment ist das noch völlig unklar. Der Gemeinderat wird die Leistungsvereinbarung im neuen Jahr ausschreiben. Ob sich dann eine Organisation finden lässt, steht in den Sternen.

Sie haben nun eine Volksinitiative gestartet. Warum versuchen Sie es auf diesem Weg?

Ein überparteiliches Komitee hat eine Initiative lanciert, die weit über die Forderungen meiner ursprünglichen Motion hinausgeht. Die Initiative fordert eine Frühbetreuung, einen Mittagstisch und  eine Nachmittagsbetreuung - auch an schulfreien Tagen, sowie eine Ferienbetreuung während acht Wochen. Dadurch soll der Handlungsdruck auf den Gemeinde- und Einwohnerrat von Wettingen verstärkt werden.

Was kann diese Initiative erreichen?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Für uns wäre es am besten, wenn der Einwohnerrat die Initiative annimmt und es damit gar nicht erst zu einer Volksabstimmung kommt. Eine zweite Möglichkeit ist ein Gegenvorschlag des Gemeinderats. Die dritte und letzte Variante wäre die Volksabstimmung. Zur Zeit sind wir dabei, Unterschriften zu sammeln – und dies erfolgreich. Sollte die Initiative wider Erwarten nicht angenommen werden, bleibt das vom Gemeinde- und Einwohnerrat im November 2011 verabschiedete abgespeckte Angebot bestehen.

Sollte Ihre Volksinitiative nicht angenommen werden, wird womöglich auf private Alternativen umgeschwenkt. Wird die Kinderbetreuung in Wettingen überhaupt noch bezahlbar sein?

Ein durchgehendes Angebot auf privater Ebene aufzubauen, ohne jegliche Unterstützung  der Gemeinde und des Kantons, ist fast unmöglich. Dann könnten sich nur noch finanziell gutsituierte Familien eine Betreuung leisten.

Wäre es besser, wenn der Bund das Betreuungsangebot regeln würde, weil die Gemeinden nicht in der Lage sind, ein geeignetes Betreuungsangebot zu schaffen?

Klar, eine Regelung auf Bundesebene würde natürlich einen positiven Druck auf die Kantone und Gemeinden ausüben. Der Bund und die Kantone müssten einen klaren, gesetzlichen Auftrag formulieren. Die Umsetzung sollte jedoch den Gemeinden überlassen werden, damit diese entsprechend der Situation vor Ort flexible Formen von familien- und schulergänzenden Kinderbetreuungsangeboten berücksichtigen können. 

Ist das denn momentan nicht so?

Leider nicht. Doch ein Hoffnungsschimmer ist durchaus da: Im Kanton Aargau wird voraussichtlich per Schuljahr 2013/14 mit dem revidierten Sozialhilfe- und Präventionsgesetz (SPG) festgehalten, dass die Gemeinden ein den Bedürfnissen der Familien entsprechendes Betreuungsangebot bereitstellen müssen. Zur Zeit ist dies noch freiwillig. In Anbetracht dieser Tatsache macht es erst recht keinen Sinn, dass die Gemeinde Wettingen ihr Angebot ein Schuljahr vor einer entscheidenden Gesetzesänderung reduziert. Vor diesem Hintergrund ist der Beschluss des Einwohnerrats an der Unterscheidung zwischen betreuungsberechtigten und nicht-betreuungsberechtigten Kindern festzuhalten, überaus fragwürdig.


 

Tipps für Eltern, die keinen Hortplatz finden können: www.drs3.ch

Neueste Artikel

Beliebte Artikel