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Zwangsstörung bei Kindern: Computerspiel kann helfen

Rund zwei Prozent aller Kinder leiden an einer Zwangsstörung. Sie müssen Rituale wie das Kontrollieren der Kleidung ständig wiederholen. Ohne eine Behandlung kann die Erkrankung bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Die Psychologin Veronika Brezinka hat deshalb an der Universität Zürich ein Computerspiel entwickelt, das Kinder in der Therapie unterstützt.

Kinder die unter einer Zwangsstörung leiden, müssen sich beispielsweise ständig beim Anziehen kontrollieren.
Kinder, die beim Anziehen wiederholt kontrollieren müssen, ob alles richtig sitzt, könnten an einer Zwangsstörung leiden. Foto: iStock, Thinkstock

Leiden Kinder, die ihre Schulsachen im Rucksack wiederholt kontrollieren müssen, schon an einer Zwangsstörung?

Veronika Brezinka: Wenn ein Kind das ein- oder zweimal macht, ist das völlig in Ordnung. Aber wenn Kinder innerhalb kurzer Zeit beispielsweise achtmal nachschauen müssen und sich nicht beruhigen können, obwohl sie gesehen haben, dass sie alles eingepackt haben, dann besteht der Verdacht auf eine Zwangsstörung.

Woran erkennen Eltern, ob es sich nur um einen Tick oder um eine Störung handelt?

Zum einen an der Häufigkeit. Zum anderen an der Intensität. Reagiert das Kind sehr aufgebracht, wenn man es von der Zwangshandlung abhalten will, sollten bei den Eltern die Warnlampen angehen. Das heisst noch nicht, dass das Kind eine Zwangserkrankung hat, aber man sollte sich das näher anschauen. Bei Zwangserkrankungen ist es in der Regel so, dass sie sich immer mehr ausbreiten. Sie sind selten nur auf einen einzelnen Bereich beschränkt. Das könnte für Eltern auch ein Hinweis sein.

Welche Bereiche sind das?

Bei Kindern haben Zwangshandlungen oft mit Tabus zu tun. Es gibt Kinder, die haben die Zwangsvorstellung jemandem Gewalt antun zu müssen, den sie eigentlich sehr gern haben. Sie müssen beispielsweise immer daran denken, dass sie ihren Vater ermorden möchten, obwohl sie das gar nicht wollen. Andere Zwänge sind die so genannten «Just Right Zwänge». Damit meint man, dass Kinder etwas bestimmtes so lange tun müssen, bis es sich für sie gerade richtig anfühlt. Häufig ist das beim Anziehen und Ausziehen der Fall. Es kann dazu führen, dass ein Kind 40 bis 60 Minuten braucht, um sich anzuziehen, weil es zum Beispiel immer kontrollieren muss, ob die Socken gleich hoch sind oder ob alle Falten auf der Strumpfhose symmetrisch sind. Es kann auch sein, dass das Kind beim Essen auf bestimmten Ritualen besteht. So darf nur ein bestimmtes Geschirr verwendet werden, alle Rosinen müssen aus dem Müesli raus sein und die Milch darf nur in diesem Glas serviert werden.

Wann werden diese Zwangshandlungen gefährlich?

Es wird problematisch, wenn die Zwangshandlungen so viel Zeit kosten, dass ein Kind nicht mehr in die Schule gehen kann oder jeden Tag zu spät kommt, weil es für das Anziehen oder das Frühstück so lange braucht.

Warum entwickeln Kinder Zwangshandlungen?

Vermutlich nicht durch zu strenge Erziehung. Vor allem durch Sigmund Freud und die Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ein Zusammenhang zwischen einer zu strengen Sauberkeitserziehung und der Entwicklung einer Zwangsstörung propagiert. Das konnte man aber nicht nachweisen. Es gibt allerdings einen genetischen Zusammenhang. Bei Kindern von Eltern, die selbst eine Zwangserkrankung haben, besteht ein höheres Risiko für eine Erkrankung. Was die eigentliche Ursache der Störung ist, weiss man letztlich nicht. Eltern sollten sich jedenfalls keine Vorwürfe machen. Wenn das Kind eine Zwangserkrankung hat, heisst das nicht, dass sie die Kinder falsch erzogen haben.

Die deutschen Psychologinnen Dr. Kristina Hennig-Fast und Petra Michl haben in einem eltern.de Interview aber gesagt, dass Eltern, denen Werte wie Rücksicht, Höflichkeit und Disziplin wichtig sind, gefährdet seien, in ihrer Erziehung Kinder nicht mit dem nötigen Selbstwertgefühl auszustatten und eine Zwangsentwicklung zu fördern. Würden Sie dem zustimmen?

Nein. Ich finde keine Belege in der wissenschaftlichen Literatur, dass das Achten auf Rücksicht, Höflichkeit oder Disziplin eine Zwangserkrankung fördert. Wenn ein Elternteil eine Zwangserkrankung hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass dieser Elternteil Disziplin, die korrekte Erledigung von Aufgaben oder das Befolgen bestimmter Rituale sehr hoch schätzt. Kinder, die so aufwachsen, lernen, dass alles ordentlich sein muss. Es ist aber dann ganz schwer zu trennen, ob genetische Ursachen oder das Lernen am Modell verantwortlich dafür sind, dass diese Kinder eventuell selbst auch eine Zwangserkrankung entwickeln.

Videoausschnitt aus dem Computerspiel Ricky und die Spinne

Video: © Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Zürich, Schweiz

Sie haben am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich das verhaltenstherapeutische Computerspiel «Ricky und die Spinne» entwickelt. Warum soll gerade ein Computerspiel den Kindern helfen?

Ich hoffe, dass es helfen kann. Mir war wichtig, damit komplexe Zusammenhänge auf kinderfreundliche Art zu erklären. Ich wollte die Kinder damit in ihrer Wirklichkeit abholen. Bisher wurden Computerspiele noch kaum in der Therapie verwendet. Für jüngere Kinder mit einer Zwangserkrankung gibt es überhaupt wenig Behandlungsmaterial, und alles ist in Papier- oder Buchform. Ich habe vor drei Jahren ein Computerspiel zur Unterstützung der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Kindern mit verschiedenen Problemen entwickelt und gute Erfahrungen damit gemacht. Die Kinder schätzen das Spiel sehr und auch Therapeuten finden es gut, weil sie die Kinder damit für die Therapie motivieren können. Grundsätzlich ist ein therapeutisches Computerspiel ohne begleitende Psychotherapie kein ausreichendes Mittel, eine psychische Erkrankung zu behandeln. Es gibt aber die Möglichkeit, das Kind einzubeziehen, ihm die Zwangserkrankung auf zeitgemässe Art zu erklären und es so für eine Behandlung zu motivieren.

Das Computerspiel Ricky und die Spinne will Kindern mit einer Zwangsstörung helfen.
Das verhaltenstherapeutische Computerspiel «Ricky und die Spinne» hilft dabei, Kindern ihre Zwangserkrankung zu erklären. Foto: UZH

Computerspiele können süchtig machen. Ist das wirklich ein geeignetes Instrument für eine Therapie?

Kommerzielle Spiele und der uneingeschränkte Zugang dazu haben ein Suchtpotential, ja. Aber sie sind anders aufgebaut als unsere therapeutischen Computerspiele. Mir war es wichtig, das Potential von Computerspielen positiv zu nutzen.

Was passiert in Ihrem verhaltenstherapeutischen Computerspiel?

Das Spiel hat acht Level und handelt von Ricky, dem Grashüpfer und Lisa, dem Marienkäfer. Der Zwang wird durch eine Spinne symbolisiert, die den Tieren merkwürdige Aufgaben erteilt. Ricky darf zum Beispiel nur in einem bestimmten Muster über die Wiese springen. Lisa muss jeden Abend vor dem Zubettgehen ihre Punkte zählen. Ricky erkennt, dass die Spinne immer mehr von ihm verlangt und bittet Dr. Eule um Rat. Die Eule schlägt vor, dass Ricky ein Kind findet, das bereit ist ihm zu helfen. Hier kommt das Kind als Helfer von Ricky und Lisa ins Spiel. Es muss mit Ricky und Lisa Aufgaben lösen wie zum Beispiel einen Spitznamen für die Spinne finden. Das hilft dem Kind, sich vom Zwang zu distanzieren und sich über ihn lustig zu machen. Im weiteren Verlauf wird das Kind aufgefordert, der Spinne beziehungsweise dem Zwang immer weniger zu gehorchen. Am Ende jedes Levels bekommt das Kind ein Blatt mit therapeutischen Hausaufgaben.

Woher kam Ihnen die Idee für die Geschichte mit den Tieren?

Ich habe etwas gesucht, was für Buben und Mädchen geeignet ist. In der klassischen Therapie werden bei Kindern häufig Puppen eingesetzt. Das ist ab einem gewissen Alter nichts für Buben. Ich wollte etwas finden, womit sie sich identifizieren können. Deshalb bin ich auf die Idee mit dem Computerspiel und der Tiergeschichte gekommen.

Das Spiel wurde unter anderem für die Spezialsprechstunde für Zwangsstörungen des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie entwickelt. Wie setzen Sie es dort ein?

Zunächst muss die Diagnose feststehen. Wir setzen es als Teil der verhaltenstherapeutischen Therapie ein, wenn ein erkranktes Kind zwischen 6 und 12 Jahren zu uns kommt. Bei schweren Zwängen kommen Medikamente hinzu. Pro Therapiestunde wird nur ein Level gespielt. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, die Inhalte des Spiels mit der spezifischen Situation des Kindes zu verbinden.

Können Eltern das Spiel kaufen?

Das Spiel ist kein Selbsthilfespiel. Es ist nicht anzuraten, dass Eltern das Spiel kaufen, denn man kann nicht erwarten, dass das Spiel allein eine Zwangsstörung heilt. Daher sollte es nur von einem Therapeuten für die Behandlung eingesetzt werden.

Veronika Brezinka

Veronika Brezinka hilft Kindern mit Zwangsstörungen.Dr. Dr. Veronika Brezinka ist Psychologin und Verhaltenstherapeutin und arbeitet an der Spezialsprechstunde für Zwangserkrankungen des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich. Ausserdem ist sie als Supervisorin in der Ausbildung von Verhaltenstherapeuten tätig.

Foto: privat

 

Weitere Informationen zum Computerspiel und zu Zwangsstörungen

  • Weitere Informationen zum Computerspiel «Ricky und die Spinne» finden Sie unter www.rickyandthespider.uzh.ch
  • Für Kinder und Jugendliche mit Zwangs- und Ticstörungen wird in der Poliklinik des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich eine Spezialsprechstunde angeboten. Eltern erhalten unter der Telefonnummer 043 499 26 26 Auskunft.
  • Allgemeine Informationen zu Zwangsstörungen bietet die Schweizerische Gesellschaft für Zwangsstörungen unter www.zwaenge.ch

 

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