Gesundheit

Kinderspital: In der Notaufnahme steht die Zeit still

Rückenprellungen, Brechdurchfall und Hirnhautentzündung: Auf der Notaufnahme des Kinderspitals Zürich landen viele besorgniserregende Fälle. Die zweifache Mutter und Bloggerin Rita Angelone hat einen Blick in die Notfallstation gewagt. Mit diesem Bericht möchte sie zeigen, dass viele Fälle am Schluss gut kommen. Kinder hätten so viele Schutzengel, sagt sie. Zum Glück. Und unsere Ärzte täten wirklich ihr Bestes.

In der Notaufnahme des Kinderspitals wird eine Wunde genäht.
Der Leiter der Notfallstation im Kinderspital Zürich Georg Staubli näht eine Wunde. Fotos (5): Rita Angelone

Es gibt diesen besonderen Begriff der Parallelwelt, der vor allem aus der Science-Fiction bekannt ist und eine Welt bezeichnet, die ausserhalb der bekannten Realität existiert. An diesen Begriff musste ich denken, als ich kürzlich an einem lauen Donnerstagnachmittag in Richtung Kinderspital Zürich unterwegs war, um den Leiter der Notfallstation eine Schicht lang zu begleiten. Nichts deutete in der Stadt darauf hin, dass in diesem Augenblick an einem anderen Ort Menschen keine Lust auf Glacé oder Kaffee haben.

Die Notaufnahme des Kinderspitals Zürich ist eine Art Parallelwelt, ein Perpetuum Mobile ausserhalb unseres Alltages, eine besorgniserregende Realität, die wir aus unserem Alltag verbannen. Befindet man sich einmal inmitten dieser Realität, stellt man fest, dass die Welt draussen keine Rolle mehr spielt: Wetter und Zeit sind unbedeutend, selbst Hunger, Durst und Müdigkeit scheinen inexistent. Alles, was an diesem Ort zählt, ist das Wohlergehen der jungen Patienten.

Notaufnahme im Kinderspital Zürich: Rekord bei 166 Patienten an einem Tag

Noch ist es ruhig an diesem Donnerstagnachmittag. Das Wartezimmer ist bis auf eine kleine Patientin in Begleitung seiner Mutter leer. «Nichts ungewöhnliches», erklärt mir Georg Staubli, Leiter der Notfallstation im Kinderspital Zürich, «die Besucherfrequenz steigt erst gegen Abend und am Wochenende teils stark an, so dass es an den immer selben Feierabend- und Wochenendstunden zu regelrechtem Andrang kommt. Schon bald wird es hier deutlich anders aussehen!»

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Die Notaufnahme des Kinderspitals hat erst kürzlich an einem Sonntag mit 166 Patienten einen neuen Rekord verzeichnet. «Einerseits führt die Infektsaison zu solchen Peaks», so Staubli, «andererseits hat die Neuorganisation des kinderärztlichen Notfalldienstes ganz generell zu einer Erhöhung der Patientenzahlen in der Notaufnahme geführt.» «Umso wichtiger ist es deshalb, dass es wegen des nicht planbaren Patientenaufkommens nicht zu einer Überschreitung der Behandlungskapazitäten in der Notaufnahme kommt. Schwerkranke Patienten sollen nicht mit leichter Erkrankten in Konkurrenz um unsere Ressourcen stehen.»

Im Kinderspital Zürich wird auch ganz kleinen Patienten geholfen.
Die einjährige Lea hat eine Bindehautentzündung.

Die kleine Lea und ihre Mutter stürmen ja auch gar nicht. Sie sind zum Notfall gekommen, weil Lea Fieber, Schnupfen und stark gerötete Augen hat und ihr Kinderarzt keinen Dienst hat. Morgen wird Lea ein Jahr alt und es wäre schön, wenn sie ihren 1. Geburtstag mit ihren Gspänli in der Krippe feiern könnte. «Dies wird kaum möglich sein», muss Staubli die Mutter enttäuschen. Die Bindehautentzündung, die Lea aufgelesen hat, kann zwar ganz ohne Antibiotika durch Auswaschen mit Schwarztee behandelt werden, aber die Infektion ist stark ansteckend. «Ich glaube nicht, dass die Krippe Lea damit aufnehmen wird», so Staubli. Verständlich, dass die Mutter ob der Diagnose zwar beruhigt, aber dennoch wegen der unnötigerweise bereits getätigten Geburtstagsvorbereitungen doch gefrustet ist.

Notfälle sind immer nervenaufreibend

Ähnlich wie der kleinen Lea geht es an diesem Donnerstag weiteren Kindern mit Mittelohrentzündung, Brechdurchfall oder Infekt der Atemwege: Keines dieser Kinder, die heute Nachmittag den Notfall beziehungsweise die Notfallarztpraxis besuchen, ist lebensbedrohlich krank. Dennoch sind Besuche im Notfall nervenaufreibend und auch beängstigend. «Meist werden die Kinder unter starken Schmerzen eingeliefert, die Eltern nicht deuten können, was diese wiederum weiter verunsichert. Manchmal liegen die Nerven der Eltern blank, weil die Einlieferung in den Notfall unmittelbar vor einem grossen Ereignis, wie zum Beispiel Ferienbeginn, stattfindet», weiss Staubli aus seiner Erfahrung.

Bei der 13-jährigen Jay steht nichts an. Weder will sie in die Ferien fahren, noch ein besonderes Fest feiern. Ihr Vater hat einfach die Geduld verloren: Jays Hautausschlag am ganzen Körper, den sie seit bald 4 Monaten hat, bessert einfach nicht. Der Hausarzt vertröstet ständig, Jays Vater will nun endlich wissen, was das ist. Staubli macht Fotos von Jay. «Die Aufnahmen verwenden wir zur Dokumentation und zur Weiterleitung an den Dermatologen. Auch können wir diese für interne Schulungszwecke verwenden», erklärt Staubli die Aufnahme von Fotos. Mit einem Termin beim Dermatologen und einer indizierten Salbe wird Jay vorerst wieder nach Hause entlassen.

In der Notfallaufnahme im Kinderspital Zürich wird eine Lumbalpunktion durchgeführt.
Pfleger und Ärzte entnehmen der siebenjährigen Maha mittels einer Lumbalpunktion am Rücken Gehirnflüssigkeit.

Die siebenjährige Maha weint bei ihrer Einlieferung nicht wirklich. Eher tönt es, wie ein müdes, trauriges Wimmern. Sie wirkt abwesend, hat seit Tagen starke Kopfschmerzen und hat sich auch mehrmals übergeben. Der Verdacht: eine Hirnhautentzündung. Eine Lumbalpunktion am Rücken, mit welcher Gehirnflüssigkeit aus dem Rückenmark entnommen wird, soll Klarheit schaffen. Bei Maha wird die Lumbalpunktion im Liegen, in der Embryonalhaltung durchgeführt. Damit sich das verängstigte Kind während der Punktion nicht bewegen kann, wird es durch eine Pflegerin regelrecht fixiert. «Was grob scheint und für die Eltern kaum aushaltbar ist zu sehen, dient der Wirksamkeit unserer Eingriffe und letztlich dem Schutz der kleinen Patienten», beruhigt Staubli.

Patric muss zur Kontrolle in die Notaufnahme im Kinderspital Zürich.
Der zehnjährige Patric kommt wegen Bauchschmerzen in die Notfallaufnahme des Kinderspitals.

Bis zum Erhalt der Resultate aus der Lumbalpunktion widmet sich Staubli dem zehnjährigen Patric, der nach seiner kürzlichen Blinddarmoperation mit Komplikationen, die einen zweiten Eingriff nötig machten, nun wieder unter starken Bauchschmerzen leidet. «Es ist nachvollziehbar, dass sowohl Patric als auch seine Eltern – die seit den beiden Operationen zum Verbandwechsel täglich das Kispi besuchen mussten – spitalmüde und frustriert sind», sagt Staubli. Ein Ultraschall schafft Klarheit: der Junge leidet nur unter einer schmerzlichen Verstopfung. Ein Einlauf bringt rasche Linderung.

Notfall im Kinderspital: Fabio hat Schmerzen und Herzrasen

Unterdessen wartet auch schon der zehnjährige Fabio auf Bescheid. Er ist während des Turnens nach einer Kollision mit der Tür zum Geräteraum in Ohnmacht gefallen. Seither verspürt er Schmerzen und Herzrasen. Weil ihm dies nicht zum ersten Mal passiert ist, will seine Mutter nun endlich Klarheit. Zur Abklärung wird Fabio ein EKG gemacht.

Währenddessen widmet sich Staubli der ersten Fraktur an diesem Nachmittag. Die siebenjährige Karuya wurde am Vortag auf dem Pausenplatz geschubst und ist darauf auf ihre zierliche Hand gefallen. Einen ganzen Tag hat sie die höllischen Schmerzen ausgehalten, aber heute Nachmittag konnte sie nicht mehr, ihr Vater hat sie nun zum Notfall gebracht: Der gebrochene kleine Finger muss zurecht gerückt werden. «Lachgas nimmt ihr sowohl den Schmerz als auch die Angst und die Kleine wird sich an nichts mehr erinnern», so Staubli. Karuyas zierliche Hand wird nach der Korrektur eingegipst. Den Gips wird sie drei Wochen lang tragen müssen.

Unterdessen liegen die Resultate der Lumbalpunktion bei der kleinen Maha vor. Der Verdacht hat sich bestätigt, das Mädchen hat eine Hirnhautentzündung. «Positiv ist, dass es sich um eine virale Entzündung handelt, negativ hingegen, dass es sich um einen nicht ganz harmlosen Herpes-Virus handeln könnte. Das Mädchen muss zur Überwachung stationär aufgenommen werden», erklärt Staubli ihren Eltern, die nun entscheiden müssen, wer bei der Kleinen die Nacht verbringen wird.

Ein gesundes Kinderherz kann auch mal stoplern

Unterdessen wurde bei Fabio ein EKG gemacht, das allerdings keine Unregelmässigkeiten aufweist. Auch der beigezogene Kardiologe kann im Augenblick nichts Aussergewöhnliches diagnostizieren. Meist sind solche «Fehlzündungen» harmlos, denn auch ein gesundes Kinderherz kann einmal stolpern oder sehr schnell schlagen. «Treten die Störungen allerdings immer wieder ein, müssen sie genauer untersucht werden. Doch dafür müssen Eltern und Kind eine erneute Störung abwarten und möglichst beim Eintretensfall untersuchen lassen. Diese Antwort ist für die verängstigte Mutter unbefriedigend, das ist mir bewusst», gibt Staubli zu.

Längst ist es Abend und auch Simonas Eltern suchen den Notfall auf. Das zweijährige Mädchen hat eine sogenannte Grünholzfraktur, die bei Kindern und Jugendlichen mit noch biegsamen Knochen auftritt. «Diese Fraktur muss regelrecht mechanisch zurecht gebogen werden. Dank Lachgas wird auch Simona allerdings weder etwas spüren, noch sich daran zurück erinnern.»

Ein Kind wird nach einem Velounfall in die Notaufnahme des Kinderspitals Zürich eingeliefert.
Der achtjährige Stefan hatte einen Velounfall. Der Arzt Georg Staubli ordnet Ultraschall und Röntgenaufnahmen an.

Während die Grünholz-Fraktur eingegipst wird, wird der achtjährige Stefan per Ambulanz eingeliefert. Er wurde beim Überqueren der Strasse mit dem Velo von einem Auto angefahren. Noch ist unklar, welche Verletzungen Stefan davon getragen hat. Ein Ultraschall und Röntgenaufnahmen werden Klarheit schaffen.

Unterdessen ist es 20 Uhr, das Wartezimmer ist voll: Unfälle mit Rückenprellungen und Kopfverletzungen, Neugeborene mit Fieberkrämpfen und Gelbsucht, geschwollene Lymphknoten, Blutplättchenerkrankung, Infekt in einem Gelenk und eine Augenverletzung stehen an. Doch erste Priorität hat jetzt der 15-jährige Manuel, der sich während des Unihockey-Trainings verletzt hat und darauf das Bewusstsein verloren hat. Die Ambulanz hat ihn soeben eingeliefert, er ist jetzt bei Bewusstsein. Auch bei Manuel wird als Erstes ein Ultraschall gemacht.

In der Zwischenzeit ist es 21.30 Uhr. Der Ultraschall und die Röntgenaufnahmen haben ergeben, dass Stefan weder innere Verletzungen aufweist, noch sein Bein gebrochen ist. «Nun werde ich also die Wunde zunähen, vielleicht geben wir dem Jungen auch etwas Lachgas.» Und tatsächlich: Ohne Lachgas geht es nicht. Das Zunähen dauert dann auch eine halbe Stunde und Stefan muss sich am Ende übergeben. «Das Erbrechen ist eine bekannte mögliche Nebenwirkung von Lachgas, da aber unter Lachgas die Schutzreflexe erhalten sind, ist dies für den Patienten zwar unangenehm, aber völlig ungefährlich», so Staubli. Stefans Bein wird eingeschient. Mit Stöcken ausgestattet wird er noch in der selben Nacht mit seiner Mutter nach Hause entlassen.

An diesem Donnerstag wurden in der Zeit zwischen 16 und 24 Uhr 59 Patienten in der Notaufnahme registriert, davon 15 in der kinderärztlichen Notfallpraxis. Stationär aufgenommen wurden während dieser Zeit fünf Kinder.

Weitere Fotos vom Tag in der Notaufnahme des Kinderspitals finden Sie hier: www.flickr.com

Waren Sie mit Ihren Kindern auch schon auf der Notaufnahme im Kinderspital? Was haben Sie erlebt? Schreiben Sie uns! Hier geht es zum Kommentarbereich.

Im Wartezimmer: Wer kommt zuerst?

Der Schweregrad der Erkrankung von Notfallpatienten wird mittels eines Triagesystems festgelegt und die Behandlungsreihenfolge entsprechend priorisiert. «Wir kennen eine 5-stufige Triagierung: Priorität 1 muss sofort angeschaut werden, Priorität 5 innert 2 Stunden. Es liegt in der Natur der Sache, dass zwischen der Pflegefachfrau, welche die Triage vornimmt und den Eltern, welche die Kinder einliefern, meist verschiedene Auffassungen herrschen. Die Eltern sind verunsichert und auch die minimalste Wartezeit erscheint ihnen wie eine Ewigkeit. Es ist nicht immer einfach, fundierte Erfahrungswerte und Emotionen in Einklang zu bringen. Auch ist es von aussen kaum beurteilbar, welche Leistungen in der Notaufnahme tatsächlich geleistet werden und dass beispielsweise alleine das Anlegen einer Infusion an einem zweimonatigen Baby enorm viele personelle Ressourcen und Zeit absorbieren.»

Autor: Rita Angelone im April 2012, der Beitrag ist auch auf Rita Angelones Blog erschienen

Rita AngeloneRita Angelone ist mit dem Familienoberhaupt verheiratet, hat zwei Kinder – der Grosse (5 1/2) und der Kleine (3 1/2) – und schreibt jede Woche im «Tagblatt der Stadt Zürich» unter der Rubrik «Die Angelones» über den ganz normalen Wahnsinn ihres Familienalltags. Sie führt zudem den gleichnamigen Familienblog und gibt unverblümt zu, dass das Schwangersein viel einfacher war als das Kinderhaben. Und nicht selten ärgert sie sich, dass niemand offen zugeben will, dass eine Familie zu haben wahrlich alles andere als ein Zuckerschlecken ist. Rita Angelone bloggt wöchentlich auch für den wir eltern-Blog. Mehr infos unter www.dieangelones.ch

 

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