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Anstrengender Lehrerberuf: «Eltern sollten mehr erziehen»

Jede fünfte Lehrperson fühlt sich im Schulalltag überfordert. Jede dritte läuft Gefahr, an Burnout zu erkranken. Dies zeigt eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Anisa Egger, Buchautorin und Lehrerin, berichtet von ihren Erlebnissen im Schulalltag.

Anisa Egger spricht im Interview über ihre Erfahrungen als Lehrerin und wünscht sich mehr Verständnis von Eltern
Nicht nur schwierige Schüler, auch fordernde Eltern stellen Lehrpersonen auf die Probe. (Foto: william87/iStock, Thinkstock)

In Ihrem Buch «Die Lehrerin» schildern Sie Ihre Erfahrungen aus 11 Jahren an der Volksschule. Sie erzählen von schönen, aber auch vielen negativen Erlebnissen im Lehrerberuf. Die schwierigsten hatten Sie mit Eltern: Was war das schlimmste Erlebnis?

Anisa Egger: Die schlimmsten Erlebnisse waren der erste und der letzte Anruf von Eltern. Als ich den ersten Anruf von einem Vater bekam, war ich neu im Beruf und nicht darauf vorbereitet. Es ging um einen einzigen Fehler im Diktat, den ich angeblich falsch korrigiert hatte. Der Fehler war von mir angestrichen worden, jedoch wurde bei der Verbesserung – die Hausaufgabe war – gekillert. Das Telefonat war ein einziger Monolog, der Vater wurde laut und drohte zur Schulleitung zu gehen, was er auch tat. Die Art und Weise, wie manche Eltern kommunizieren, habe ich nicht gekannt. Der letzte Anruf einer Mutter war der härteste an Emotionen, sodass ich den Hörer vom Ohr nehmen musste. Sie war ausser sich vor Wut, weil ihre Tochter eine schlechte Note im Test hatte. Auch diese Frau wurde laut, liess mich nicht zu Wort kommen. Sie beschimpfte mich und den Unterricht – ganze 20 Minuten lang. Schwierig war zudem die Quantität, die Anhäufung aller Ereignisse.

Warum waren diese Anrufe so schlimm?

Zum einen ist der Konflikt mit Eltern im Studium nie gross thematisiert worden. Zum anderen bin ich sensibel, mir gehen die Sachen nahe. Der dritte Punkt ist die Entwicklung in der Erziehung. Man spricht von Kuschelpädagogik, weil die Eltern immer weniger erziehen. Die meisten Eltern haben ein bis zwei Kinder zuhause und in der Schule habe ich 20 Kinder. Eltern fehlt oft diese Perspektive.

Haben Eltern zu hohe Erwartungen an Lehrpersonen?

Sie sind wirklich sehr hoch. Und sie sind gestiegen, insbesondere in den letzten Jahren. Das habe ich immer wieder feststellen können, als ich mich mit anderen Lehrkräften ausgetauscht habe. Vor allem die Erziehungsstile haben sich deutlich verändert. Das Kind ist heute oftmals das Zentrum von Eltern. Früher hatten die Eltern mehrere Kinder, da konnten sie den Fokus nicht nur auf ein Kind legen. Ausserdem hatten sie die finanziellen Mittel nicht und es gab weniger Scheidungen. Von den Lehrpersonen erwarten sie, dass sie ihr Kind optimal behandeln und in jeder Situation fördern, am liebsten in jedem Fach und auf jedem Level. Und da muss man sich eine sechste Klasse vor der Selektion in die 7. Klasse vorstellen: Es herrscht eine so grosse Heterogenität, bei der manche Kinder nicht einmal die Grundanforderungen erfüllen, andere sind hochbegabt. Es ist schwierig diese Heterogenität im Schulalltag zu bedienen.

Was hätten Sie sich von den Müttern und Vätern der Schüler gewünscht?

Es gibt verschiedene Aspekte, die ich mir gewünscht hätte und die ich mir heute für Lehrpersonen, die noch im Beruf sind, wünsche. «C’est le ton qui fait la musique» zum Beispiel, die Art und Weise wie kommuniziert wird. Wenn Eltern wütend sind, sollten sie den Emotionen nicht freien Lauf lassen. Ausserdem sollten sie berücksichtigen, dass eine Lehrperson abends ihren Freiraum braucht, als Erholungs- und Regenerierungsphase. Bevor Mütter oder Väter zum Telefonhörer greifen oder eine Email schreiben, sollten sie eine Nacht darüber schlafen. Etwas mehr Verständnis für Lehrpersonen wäre schön.

Sollten Eltern auch wieder mehr erziehen?

Ich wünsche mir, dass sie mehr erziehen und ihre Verantwortung wahrnehmen. Es sollte keine Extreme geben, das heisst, Eltern sollten nicht vernachlässigen und auch nicht überbehüten. Und sie sollten Schulden- und Alkoholprävention oder Sexualkunde wieder übernehmen. Ich will allerdings darauf hinweisen, dass es auch gute Seiten hat, dass sich Eltern mehr einmischen. Früher wurden Kinder geschlagen oder Lehrkräfte waren parteiisch.

Warum wollten Sie Lehrerin werden?

Ich musste mich zwischen dem 14. und 15. Lebensjahr entscheiden. Ich mochte Kinder, Sprachen, Musik und Sport – die Vielseitigkeit. Viele aus meiner Familie waren Lehrer, was mich geprägt hat. Der Lehrerberuf ist ein schöner, abwechslungsreicher, verantwortungsvoller und so sinnvoller Beruf.

Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem Sie zum ersten Mal merkten, dass sich Ihre romantische Vorstellung vom Lehrerberuf änderte?

Ich glaube das war bei dem ersten sehr emotionalen Anruf eines Vaters. Mit dem Tonfall und der Androhung der Schulleitung konnte ich kaum umgehen. Ich zitterte und legte auf. Das war ein sehr einschneidendes Erlebnis. Und es gab noch ein Erlebnis in der ersten Schulwoche, als ich den Auftrag hatte, mit Dritt- und Viertklässlern zu stricken. Die Knaben hatten so kleine Fingerchen und sollten mit Nadel und Faden umgehen. Natürlich hatten sie damit grosse Probleme. Disziplinarisch war das für mich nicht einfach und da habe ich mich gefragt: Ist das mein Beruf?

Sie sagen, als Lehrer müsse man ein «Allrounder» sein. Wie meinen Sie das?

Ein Lehrperson macht die ganze Palette. Zumindest als Grundstufenlehrerin musste ich Sprachen, Gestalten, Sport, Musik und Naturwissenschaften unterrichten. Ausserdem müssen sich Lehrer mit PC-Support auskennen, äusserst teamfähig sein, Beurteilungen schreiben und diverse Projekte planen, durchführen und evaluieren können. Sie besitzen Kompetenzen wie das Projektmanagement oder Human Ressource Fähigkeiten.

In welchen Aufgaben könnte man Lehrkräfte entlasten?

Das wichtigste für einen gut funktionierenden Schulalltag ist neben den Eltern die Schulleitung. Sie muss führen und Grenzen setzen können. Es muss eine klare Kompetenzverteilung geben: Was sind die Aufgaben der Eltern und was die der Lehrer? Das muss unmissverständlich kommuniziert werden und zwar immer wieder, zum Beispiel in einem Elternbrief. Vielleicht muss es auch von der Politik her noch einmal definiert werden, was die Kompetenzen von Lehrpersonen sind.  Politisch braucht es klare Richtlinien, klare Aufträge. Wichtig ist auch, dass nicht immer neue Präventionsaufgaben in die Schule delegiert werden wie IT- und Social Media-Prävention. Diese gesellschaftspolitischen Anliegen belasten die Schule zusätzlich. Auch sollte das Übertrittsverfahren in die 7. Klasse vereinfacht werden. Die grösste Entlastung aber sind die Eltern – indem sie wieder vermehrt Erziehungsaufgaben wahrnehmen.

Wie könnte man das Image des Lehrers in der heutigen Gesellschaft aufbessern?

Mit eben dieser Kompetenzaufteilung, mit klarer Abgrenzung, was der Auftrag der Lehrpersonen ist. Auch mit der Kleidung könnte man das Image schon etwas aufwerten. Sobald ein Polizist beispielsweise eine Uniform oder ein Arzt einen weissen Kittel trägt, hat er mehr Respekt. Auf diese Frage weiss ich aber eigentlich keine Antwort.

Wie könnten angehende Lehrer besser auf den Beruf vorbereitet werden?

Die Bürokratie in Schulen und sowieso allgemein sollte aufhören. Dafür sollte die Ausbildung künftiger Lehrkräfte praxisorientierter sein. Der Kern des heutigen Lehrerberufs muss mehr in den Studiengang eingebaut werden. Konkret heisst das: Kommunikationskompetenzen vermitteln und lernen, Konflikte mit Steakholdern und allen Beteiligten der Schule (Kollegen, Schulleitungen, Eltern, Schulpädagogen) anzugehen und zu verarbeiten. Eine neue Nationalfondsstudie zeigt, dass jeder dritte Lehrer Gefahr läuft, an Burnout zu erkranken. Es ist also wichtig, Abgrenzungstaktiken zu lernen: Wie gehe ich mit der Verantwortung um oder wie erhole ich mich?

Würden Sie sich wieder für den Beruf entscheiden?

Diese Frage kann ich nicht mit Ja oder Nein beantworten. Ich habe so viel Schönes erlebt. Ich habe so viele liebe Kinder sowie Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, mit denen ich teilweise noch heute befreundet bin. Für mich waren die 11 Jahre Tätigkeit als Lehrerin eine gute Lebensschule.

Im Buch «Die Lehrerin» schildert Anisa Eggert ihre Erlebnisse aus 11 Jahren an der VolksschuleAnisa Egger war 11 Jahre als Lehrerin an der Volksschule tätig. Ihre Erfahrungen hat sie in einem Tagebuch aufgeschrieben und veröffentlicht. Das Buch «Die Lehrerin» gibt einen authentischen Einblick in den Schulalltag einer Lehrerin der 3.-9. Klasse, mit subjektivem Charakter. Es soll bestehenden Lehrern Mut machen und das Tabu brechen, über Schwierigkeiten zu sprechen, sowie das Verständnis zwischen Schule und Eltern fördern. Das Buch richtet sich auch an angehende Lehrer, Interessierte und Politiker, die wohl keinen ehrlicheren Einblick in den Alltag der Bildungslandschaft bekommen könnten. Heute hat die Autorin ein zusätzliches Studium der BWL absolviert und arbeitet im Projekt- und Prozessmanagement einer Bildungsinstitution.

Buch «Die Lehrerin»: www.adoniashop.ch

Weitere Informationen zur Nationalfondstudie der Fachhochschule Nordwestschweiz:

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