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Wie sensible Jungen nicht untergehen

Wie wird aus einem Jungen ein Mann? Wenn er mit Lasterwagen spielt, Superhelden nacheifert und mit Werkzeugen umgehen kann? Mit welchen Rollenbildern Jungen schon als Kleinkind konfrontiert sind und wie Eltern ihre Söhne stärken, die diesem Bild nicht entsprechen, erklärt Prof. Dr. Franziska Vogt von der Hochschule St.Gallen.

Sensible Jungen gehen schnell unter. Wie Sie empfindsame Jungen stärken und vor Mobbing schützen.
Empfindsame Jungen werden häufiger gemobbt. Bild: Frank Mckenna - Unsplash

Darüber, dass man Mädchen starke Rollenbilder vermitteln soll, liest man oft. Welche Vorbilder Jungs brauchen, ist weniger häufig ein Thema. Warum das so ist und warum unsere Gesellschaft unbedingt neue Rollenbilder braucht, erklärt uns Franziska Vogt, Leiterin der Lehr- und Lernforschung und des Zentrum Frühe Bildung an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. 

Frau Vogt, Jungen werden oft ganz bestimmte typische Eigenschaften zugesprochen...

Männlichkeitsstereotypen sind mit körperlicher Stärke oder Härte verbunden. In einer aktuellen amerikanischen Studie befragten Wissenschaftler Erwachsene, welche Beschreibungen zu dreijährigen Jungen und Mädchen passen. Dabei wurden kleinen Jungen Eigenschaften wie «spielt mit Autos», «mag Superhelden» und «kämpft» zugeordnet. 

Positiv wahrgenommene Beschreibungen von Jungen. Wir Männlichkeitsklischees wirken.
Diese Beschreibungen von Jungen nehmen wir überwiegend positiv wahr. Quelle: Sullivan J, Moss-Racusin C, Lopez M, Williams K (2018) 

Manche Jungen entsprechen diesen Beschreibungen überhaupt nicht. Sie interessieren sich nicht für Autos und Superhelden – und statt kämpfen wollen Sie lieber basteln. Aber bis heute wird das nicht von allen akzeptiert.

In einem weiteren Experiment im Rahmen der Studie belegten die Wissenschaftler dreijährige Jungen oder Mädchen mal mit geschlechterstereotypen, mal mit untypischen Eigenschaften. Dann fragten sie die Teilnehmer der Studie, wie sie das beschriebene Kind einschätzen. Ergebnis: Jungen, die dem Geschlechterstereotyp nicht entsprechen, wurden negativer beurteilt als untypische Mädchen. Dies deckt sich mit Alltagsbeobachtungen: Ein Junge, der emotional oder sensibel ist, mit Puppen spielt oder sich schminkt, wird stärker abgewertet als ein Mädchen, das Fussball spielt, sich prügelt und sich durchsetzt. Jungen, die Männlichkeitsstereotypen nicht entsprechen, sind deshalb einer erhöhten Gefahr ausgesetzt, Opfer von Mobbing zu werden. 

Haben Jungen Eigenschaften, die man eher Mädchen zuschreiben würde, werden sie abgewertet.
Haben Jungen Eigenschaften, die man eher Mädchen zuschreiben würde, werden sie abgewertet. Quelle: © 2018 Sullivan et al

Hinter der Geschichte

Dieses Interview ist auf Anregung einer unserer Leserinnen entstanden. Sie wollte wissen: «Wie kann man Jungs stärken, die nicht so rüpelhaft sind? Viele meinen, sie müssen abgehärtet werden, aber ich weigere mich, meinen Sohn dazu zu erziehen, dass er anderen Jungs in der Umkleidekabine Turntaschen, Hosen und Turnschuhe ins Gesicht schmeisst. Stattdessen müssen doch die anderen dazu erzogen werden, das Gegenüber zu respektieren.» Das finden wir auch und nahmen diesen Vorschlag zum Anlass, unsere Rollenbilder und unsere Rollenerwartungen an Jungs und über Männlichkeit zu hinterfragen. 

Warum werden «untypische Mädchen» eher akzeptiert als «untypische Jungen»?

Möglicherweise versteckt sich hinter der Sorge um untypische Jungen eine Ablehnung von Homosexualität. In einem bewegenden Buch «Weit vom Stamm: Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind» beschreibt der amerikanische Journalist und Dozent für Psychiatrie Andrew Solomon, wie Eltern damit umgehen, dass ihr Kind anders ist. Er selber erlebte, wie seine sexuelle Orientierung nur schwer akzeptiert wurde. 

Zur Person

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Prof. Dr. Franziska Vogt leitet das Institut für Lehr- und Lernforschung und das Zentrum Frühe Bildung an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. 

Wie lassen sich «untypische» Jungen stärken und vor Mobbing schützen?

 

Jungen, die den Männlichkeitsstereotypen eher nicht entsprechen, haben zunächst kein Problem. Ein Problem entsteht oft erst durch die Sorge der Eltern, ihr Junge könnte kein typischer Junge sein. Wenn Eltern ihr Kind nicht akzeptieren, wie es ist, besteht die Gefahr, dass sie das Selbstwertgefühl des Kindes demontieren. Reaktionen wie «Heul nicht immer gleich!» oder Vorschläge wie «Geh doch in den Fussballverein, die anderen Jungs sind da auch alle drin!» zeigen die Ablehnung untypischen Verhaltens. 
Wichtig ist aber, dass Eltern ihr Kind so lieben und akzeptieren, wie es ist. So schaffen sie das Fundament für das Selbstwertgefühl des Kindes, das notwendig ist, um die eigene Persönlichkeit entfalten und leben zu können. Kurzum: Von Eltern ist das gefordert, was ohnehin das Wichtigste in der Erziehung ist: Respekt für die Persönlichkeit des Kindes, besonders dann, wenn das Kind unserem Bild nicht entspricht. 

Brauchen Jungen ein neues Rollenbild?

Wir brauchen nicht ein neues Rollenbild, sondern vielfältigere Rollenbilder – für Jungen, aber auch für Mädchen. Jungen haben sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, die durch Erfahrungen in der Familie, durch das Quartier oder das Dorf und durch kulturelle Zugehörigkeiten geprägt werden. Zum Glück sind Geschlechterrollen in unserer Gesellschaft zunehmend weniger rigide. Untypisches Verhalten wird eher akzeptiert als früher. Eltern und Erziehungsverantwortliche können ihre Erwartungen reflektieren und darauf achten, ihren Kindern vielfältige Angebote zu machen. Sinnvoll ist es also, auf die individuellen Vorlieben und Interessen der Kinder einzugehen und sie zu fördern, auch wenn sie nicht geschlechterstereotyp sind. Erziehung und Bildung ist der Chancengleichheit, ungeachtet des Geschlechts, verpflichtet.

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