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Mit Kindern über Krieg sprechen: «Kinder haben ein Recht auf Antworten»

Papa ist nicht der Vater. Die Grossmutter stirbt. Im Fernsehen wird über einen Amoklauf berichtet. Alle reden vom Krieg, der gerade ausgebrochen ist. Eltern wollen ihre Kinder nicht mit schwierigen Themen belasten. Entwicklungspsychologin Dr. Barbara Zollinger findet, Kinder verdienen, dass wir ehrlich zu ihnen sind. Im Gespräch mit Familienleben erklärt sie, wie Sie schwierige Fragen kindgerecht beantworten.

Kinder haben die Wahrjeit verdient, sagt die Entwicklungspsychologin Dr. Barabara Zollinger.
Eltern sollten versuchen, einfache und klare Worte zu finden - auch bei schweren Themen. Bild: Caroline Hernandez - Georgijevic

Frau Dr. Zollinger, bereits ab dem dritten Lebensjahr beginnen Kinder, sich aus dem Hier und Jetzt zu lösen. Sie blicken über den Tellerrand und wollen die Welt verstehen. Dabei berühren sie auch schwierige und traurige Themen wie Verbrechen und Kriege, Krankheiten und Tod. Eltern tun sich aber schwer diese Themen zu erklären. Sie wollen ihren Kindern die Wahrheit nicht zumuten.

Ja, viele Eltern sagen: «Das kann mein Kind noch nicht verstehen! Wir sprechen später mit ihm darüber, wenn es älter wird.» 

Was passiert, wenn Eltern schwierige Themen vermeiden?

Das Kind spürt, da ist etwas, da liegt etwas in der Luft. Aber es kann nicht lernen, mit dem Problem umzugehen und es zu verarbeiten, weil es unsichtbar bleibt und ein Tabu ist. So können im Kind massive Unsicherheit und Angst entstehen. 

Wie äussert sich das?

Ein Beispiel aus unserer Praxis: Ein Kind kam im Alter von dreieinhalb Jahren zu uns, weil es nicht gesprochen hat. Erst nach längerer Zeit stellte sich in einem Gespräch mit den Eltern heraus, dass es eine Totgeburt in der Familie gab, die tabuisiert worden war. Die Eltern hatten dem Kind den Namen des verstorbenen Bruders gegeben, aber ihm nichts von ihm erzählt. Sie glaubten, nicht über die Trauer und den Tod des Bruders zu sprechen, sei ein Weg, das Kind unbelastet aufwachsen zu lassen. Aber Tod und Trauer waren ja trotzdem da. 

«Ich glaube, wer sein Kind schonen will, will meist sich selbst schonen.»

Wann ist der richtige Zeitpunkt, um schwierige Themen aufzugreifen?

Der richtige Augenblick ist jetzt. Eltern sollten immer offen sein. Stellen Sie sich eine Mutter vor, die mit einem neuen Partner zusammenlebt. Und stellen Sie sich weiter vor, dass sie ihrem Kind nicht erklärt hat, dass dieser Mann nicht sein biologischer Vater ist. Sie will auf den richtigen Moment warten, aber der wird nie kommen. Je länger sie wartet, umso unverständlicher wird die Wahrheit für das Kind werden. Weiss es aber von Anfang an darüber Bescheid, dass Papa der Papa ist, der stets an seiner Seite ist, wenn er gebraucht wird, er aber seinen Samen nicht gegeben hat, dann wird das keine grosse Sache. Ich glaube, wer sein Kind schonen will, will meist sich selbst schonen.

Müssen Eltern immer bei der Wahrheit bleiben? 

Kinder haben immer ein Recht auf Wahrheit.

Erwachsene sollten Kinder nicht ausschliessen. Früher oder später finden Sie die Wahrheit ja doch heraus, nur dann wird sie schwerer zu verdauen sein.
Erwachsen sollten Kinder nicht von den wichtigen Fragen ausschliessen. Bild: Cristina Gottardi - Unsplash

Dann sollten Kinder auch Nachrichten sehen?

Kinder bekommen die grossen Ereignisse der Welt ohnehin mit, durch das Internet, die grossen Titel der Tageszeitungen und Nachrichtentafeln an den U-Bahn-Stationen. Wer hin und wieder mit dem Kind die Nachrichten schaut, hat Gelegenheit, mit ihm über Ereignisse wie Tod und Terror zu sprechen. Kindernachrichten sind besonders geeignet, weil sie gut verständlich sind. Eltern sollten ihren Kindern keine heile Welt vorgaukeln und sie dann Kriegsspielen überlassen. 

«Wenn Fragen offen bleiben, wird das Kind immer wieder nachhaken.»

Kinder suchen nach Antworten auf Tod und Terror. Wie lassen sich kindgerechte Antworten finden?

Eltern sollten versuchen, einfache und klare Worte zu finden. Aber diese Worte können nicht immer Worte sein, die das Kind schon kennt. So ergeht es ja schon Babys, wenn sie krank sind. Ein Baby hustet zum Beispiel stark. Die Mutter sagt: «Oh, du hast Husten!» Im weiteren Verlauf des Tages sagt sie: «Du hustet schon wieder!» und «Du hast einen starken Husten, da müssen wir zum Arzt gehen.» Natürlich weiss das Baby nicht, was «Husten» ist. Aber dadurch, dass das Wort im Zusammenhang immer wieder benutzt wird, bekommt das Wort Husten nach und nach Bedeutung. Nach diesem Schema nähert sich das Kind auch anderen, viel komplexeren und beängstigenderen Themen an. 

Eltern müssen sich also keine Vorwürfe machen, wenn sie ihrem Kind nicht so antworten konnten, dass es sie gut versteht?
 
Ja, denn wenn Fragen offen bleiben, wird das Kind immer wieder nachhaken. Und je mehr darüber gesprochen wird, dass die Grossmutter nicht mehr da ist, umso besser kann das Kind ihren Tod verarbeiten. Oft ist es gut, ein altersgerechtes Bild zu finden, zum Beispiel, dass Grossmutter jetzt auf einer Wolke sitzt. Oder dass der Bruder Blitze im Kopf hat, wenn er unter Epilepsie leidet.

Je mehr ein Thema die eigene Gefühlswelt betrifft, umso schwerer fällt es Eltern, sich zu öffnen und eine Brücke zum Kind zu schlagen. Haben Sie einen guten Rat?

Bilder- und Kinderbücher, die das Thema aufgreifen, bieten einen guten Einstieg für Gespräche. Bei Depressionen in der Familie, bei Tod im Umfeld oder bei einem anstehenden Spitalaufenthalt zum Beispiel lohnt es sich, in Buchhandlungen zu stöbern, welche Bücher das jeweilige Thema besonders gut erklären.

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ÜBER BARABARA ZOLLINGER

Die Entwicklungspsychologin und Logopädin Dr. Barbara Zollinger hat 1994 das «Zentrum für kleine Kinder» mit Logopädischer Praxis, Forschungs- und Fortbildungsbereich in Winterthur gegründet. Sie beschäftigt sich mit der Frage, warum manche Kinder nicht zu sprechen beginnen.

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