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Kinderarmut auch in der Schweiz: «Jedes 6. Kind ist armutsgefährdet!»

Am 20. November feiert die internationale Kinderrechtskonvention ihr 30-jähriges Bestehen. Eine wichtige Verankerung in dieser Konvention ist die Bekämpfung von Kinderarmut. Doch: «Die Schweiz investiert zu wenig in Familien und Kinder!», sagt Bettina Junker, die Geschäftsführerin von Unicef Schweiz im Interview. 

Politische Entscheide können grosse Auswirkungen auf Kinderarmut haben
Der Weg raus aus der Kinderarmut ist steinig, aber mit gezielter Hilfe machbar. Bild: Annie Spratt, unsplash

Das Wichtigste in Kürze:

  • Gemäss einer Caritas Studie aus dem Jahr 2017 sind 76'000 Kinder in der Schweiz von Armut betroffen.
  • Mit höheren Sozialleistungen an die Eltern und gezielten Subventionen kann die Kinderarmut bekämpft werden.
  • Im Vergleich mit Deutschland und Dänemark investiert die Schweiz wenig Geld in Familien.

Frau Junker, die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt, und trotzdem leiden Kinder hierzulande unter Armut. Wie geht es diesen Kindern?

Diese Kinder müssen mit vielen Einschränkungen leben. Denn Kinderarmut bringt einen Rattenschwanz an Benachteiligungen mit sich. Einerseits können arme Kinder ihren Wünschen und Neigungen nicht nachgehen, andererseits werden sie häufig sozial ausgegrenzt. Dies kann zu Isolation führen, was schnell auf der psychischen Ebene Konsequenzen hat.

Wie viele Kinder sind von Armut betroffen?

Recherchen in der Schweiz haben gezeigt, dass 2014 jedes 20. Kind von Einkommensarmut betroffen war und zusätzlich jedes sechste Kind armutsgefährdet war. Die Altersgruppe der bis 17-jährigen liegt zudem mit 6,9 Prozent Armutsquote verglichen mit anderen Altersgruppen überdurchschnittlich hoch. Zudem leben 188'000 Kinder in prekären Lebensverhältnissen, nur knapp oberhalb der Armutsgrenze.

30 Jahre Kinderrechte

Am 20. November 1989 verabschiedete die Uno-Generalversammlung die Konvention über die Rechte des Kindes. Damit einigte sich die Versammlung der Vereinten Nationen erstmals über Rechte, die Kindern auf der ganzen Welt zustehen. Dazu gehören das Recht auf Leben und Entwicklung, das Recht auf Partizipation oder auch das Recht auf Gleichbehandlung. Mehr über die Kinderrechtskonvention erfahren Sie hier. Unicef Schweiz und Liechtenstein feiern das 30. Jubiläum der Kinderrechtskonvention mit verschiedenen Aktionen. Lesen Sie hier mehr dazu.

Wie wirkt sich Kinderarmut auf die Bildungschancen aus?

Kinder aus armen Haushalten haben nachweislich schlechtere Bildungschancen. Vor allem Kinder mit einem Migrationshintergrund leiden in frühen Bildungsphasen an Integrations- und Lernproblemen, die wegen fehlenden finanziellen Mitteln nicht gelöst werden können. Die Sprache ist nämlich immer noch der Schlüssel für alle Bildungswege.

Und Kinder ohne Migrationshintergrund?

Möchte das Kind beispielsweise ein Gymnasium besuchen, muss es häufig einen Vorkurs absolvieren. Ärmere Eltern können sich so etwas aber nicht leisten. Hinzu kommt, dass Kinder, die in armen Familien aufwachsen, oft kein eigenes Zimmer haben, um ungestört zu lernen und Hausaufgaben zu machen.

Bleiben Kinder, die arm aufwachsen, auch im Erwachsenenalter arm?

Das ist natürlich die ganz grosse Befürchtung vor allem auch, weil Armut stark mit der Bildung zusammenhängt. Je besser ausgebildet eine Person ist, desto geringer ihr Risiko, in die Armut abzudriften. Arme Kinder werden zu armen Erwachsenen, müssen von Tieflohnjobs leben, kommen kaum über die Runden und vererben diese Armut dann weiter.

Ein Kind kostet zwischen 7’000 und 14’000 Franken pro Jahr. Die grössten Kostenblöcke sind Betreuung, Wohnung und Bildung.

Sind Kinder für arme Erwachsene ein weiteres Risiko, arm zu bleiben?

Je nach Anzahl kostet ein Kind zwischen 7’000 und 14’000 Franken pro Jahr. Die grössten Kostenblöcke sind Betreuung, Wohnung und Bildung. Man weiss, dass das mittlere verfügbare Einkommen von kinderlosen Paaren 40 Prozent grösser ist als dasjenige von Eltern mit Kindern im Haushalt. Nicht nur haben die Eltern also mehr Auslagen wegen des Kinds, sie verdienen auch noch weniger.

Wer hilft, wenn eine Familie oder ein Kind arm ist?

Je nach Konstellation kann die Familie von mehreren Sozialtransferleistungen profitieren. Unicef beobachtet in der Schweiz aber mit Besorgnis die neuen politischen Vorstösse, die Kürzungen von Sozialhilfeleistungen vorschlagen. Unsere Gesellschaft darf nicht den Fehler machen, nicht in die Zukunft zu investieren. Zurzeit passiert jedoch genau das.

Was beobachten Sie?

Die Schweiz hat die Kinderrechtskonvention im Jahr 1997 ratifiziert. Obwohl sie das gemacht hat und damit unterschrieben hat, dass sie die Interessen der Kinder vorrangig berücksichtigt, tut sie das nicht konsequent. Im Gegenteil: Sozialleistungen werden gekürzt, Prämienverbilligungen ebenfalls. Wenn die Sozialhilfe in einigen Kantonen sogar unter die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe fällt, dann ist das alarmierend. Dabei liegt der Schlüssel bei der finanziellen Unterstützung. Denn wenn Familien weniger arm sind, sind auch Kinder weniger von Benachteiligung betroffen.

Welche Forderungen haben Sie an die Politik?

In der Bundesverfassung ist verankert, dass den Kindern ein besonderer Schutz gewährt sein soll, damit sie in ihrer Entwicklung gefördert werden. Dieser Schutz gerät in den Hintergrund, sobald es um Geld geht. Die wichtigste Forderung ist, dass die Schweiz sich an die Konvention halten soll. Kinderarmut darf es nicht geben. Eine Vielzahl der Rechte in der Konvention werden den Kindern nämlich durch Armut verwehrt. Zu diesen gehört das Recht auf Bildung, das Recht auf eine gerechte Entwicklung und auch das Recht auf Partizipation.

Vor allem Subventionen von Tagessstätten und Kinderkrippen sind in der Schweiz sehr tief, obwohl die frühkindliche Förderung ein zentraler Schlüssel zur Reduktion von Kinderarmut ist.

Mit welchen Mitteln könnte die Schweiz dieses Ziel erreichen?

In erster Linie liegt der Ball bei der Politik. Die Schweiz investiert zu wenig in Familien. Lediglich 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) werden in Familien und Kinder investiert. Im internationalen Vergleich sind wir da sehr schwach. Der europäische Durchschnitt liegt bei 2,3 Prozent, Deutschland investiert 3,1 Prozent und Dänemark sogar 3,7 Prozent des BIPs in ihre Familien.

Wie sollte die Schweiz Familien unterstützen?

Die Schweiz muss handeln: Sozialleistungen dürfen nicht gekürzt werden, Subventionen für Krippen, Integrationsprogramme sollen erhöht werden. Vor allem Subventionen von Tagessstätten und Kinderkrippen sind in der Schweiz sehr tief, obwohl die frühkindliche Förderung ein zentraler Schlüssel zur Reduktion von Kinderarmut ist.

Wie kann eine Frühförderung gegen Kinderarmut helfen?

Eine frühe Förderung hilft benachteiligten Kindern wie beispielsweise Kindern mit Migrationshintergrund dabei, sich sprachlich und kulturell zu integrieren, was sich auf die Bildungschancen auswirkt. Im Allgemeinen können Eltern ihr Erwerbseinkommen vergrössern, wenn der Staat diese Einrichtungen stärker unterstützt. Dies wiederum hilft Eltern, der Armutsfalle zu entkommen.

Armut soll als gesellschaftliches Phänomen angesehen werden, und nicht als Versagen einer einzelnen Person.

Was kann jeder Einzelne tun, um der Kinderarmut entgegenzuwirken?

Die am stärksten benachteiligten Menschen sollen in die Gesellschaft integriert werden. Armut soll als gesellschaftliches Phänomen angesehen werden, und nicht als Versagen einer einzelnen Person. Bei Armut geht es häufig nicht darum, dass die Menschen zu wenig tun, sondern dass ihr Tun nicht anerkannt wird. Zudem sollte kein Kind jemals diskriminiert werden.

Welche sind die nächsten Schritte von Unicef im Kampf gegen die Kinderarmut?

Im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Kinderrechtskonvention hat sich die Schweiz verpflichtet, alle fünf Jahre Bericht beim UN-Kinderrechtsausschuss zu erstatten. Der nächste Bericht muss 2020 abgegeben werden. In diesem Kontext werden Nichtregierungsorganisationen eingeladen, ihre Sicht auf die Dinge mit einem Schattenbericht vorzustellen. Diese Chance möchten wir unbedingt nutzen. Wir wollen nicht nur vielen Kindern in der Schweiz eine Stimme geben, sondern dieses Mal ganz spezifisch den von Armut betroffenen Kindern.

Unicef Bettina Junker

Bettina Junker ist seit Januar 2019 Geschäftsleiterin von UNICEF Schweiz und Liechtenstein. Zuvor war sie in verschiedenen leitenden Funktionen bei der Credit Suisse und der Krebsliga tätig. Bettina Junker lebt in Zürich, ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.

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