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Hab ich was falsch gemacht? Wenn Kinder ihre Eltern kritisieren

Für kleine Kinder sind Mama und Papa oft die Grössten. In der Pubertät ändert sich das. Doch was, wenn die Kritik an den Eltern auch noch im Erwachsenenalter anhält? Psychologin Ina Blanc spricht im Interview über Ablösungsprozesse, Identitätsbildung und warum sich Elternsein manchmal ganz schön undankbar anfühlt. 

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Ab der Pubertät beginnen Kinder das Verhalten der Eltern zu werten, überlegen, wie sie ihr Elternhaus geprägt hat und äussern auch Kritik. Bild: Getty Images,  a-poselenov

Ina Blanc, während der Pubertät grenzt sich das Kind von den Eltern ab. Was genau passiert während dieser Phase?

Ina Blanc: Die Pubertät eröffnet einen Raum der Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Man überlegt: Was haben mir meine Eltern mitgegeben? Was will ich davon annehmen und was nicht? Man konfrontiert die Eltern in dieser Zeit auch oft mit ihren Eigenarten und kann sie manchmal auch ganz zurückweisen. Das ist teilweise schmerzhaft für die Eltern, aber auch ein gesunder Prozess der Ablösung und Identitätsbildung.

Wie geht es nach der Pubertät weiter?

Das Ziel für Eltern ist, mit den Kindern eine Beziehung auf Augenhöhe zu führen. Dafür müssen sie das Kind so wahrnehmen, wie es sich selbst erschaffen hat. Es gilt nicht: „Du bist mein Kind und ich wollte dich auf eine bestimmte Art formen“, sondern: „Mein Kind ist womöglich ganz anders, als ich es wollte und das ist in Ordnung und sogar bereichernd.“ Das bedeutet natürlich nicht, dass man selbstschädigendes Verhalten akzeptieren soll. Wenn das Kind zum Beispiel Drogen konsumiert, dann sollten Eltern natürlich das Gespräch suchen.

Die Erkenntnis, dass das Kind anders ist, als erträumt, fällt wahrscheinlich nicht allen Eltern leicht.

Einfach ist das nicht. Es gibt Eltern, die das Kind nicht so sehen wollen oder können, wie es gesehen werden will. Dann kann es zu massiven Beziehungsabbrüchen kommen. Das Kind wird so vom Bild der Eltern geradezu gefressen: Es bleibt gar kein Platz für seine eigene Identität. Im Idealfall können Eltern aber ihre eigenen Wunschbilder loslassen und ihr Kind so akzeptieren und lieben, wie es ist.

Für Eltern wiederum kann es hart sein, wenn das Kind ihnen auch im Erwachsenenalter noch Vorwürfe macht und zum Beispiel die Erziehung kritisiert …

Als Kind denkt man noch, die Erwachsenen seien perfekt und stellt sie so nicht zu sehr in Frage. Zudem können Kinder meist ihre Empfindungen nicht so klar verbalisieren. Meist vergleicht man sich erst mit den Eltern, wenn man selbst Vater oder Mutter geworden ist und deshalb kommen die Vorwürfe oft erst sehr spät.

Verändert sich der Blickwinkel, wenn man selber Kinder hat?

Auf jeden Fall. Denn dann spürt man: Ich bin ja selber auch nicht perfekt und mache Fehler. „Kinder haben“ ist ein grosses psychisches Lernfeld. Man wird wohl selten sonst so sehr mit den eigenen guten, aber auch mit den eigenen schlechten Seiten konfrontiert. Wenn man zum Beispiel übernächtigt ist und stark von einem Kleinkind gefordert wird, reagiert man häufig alles andere als perfekt. In Momenten der Überforderung benimmt man sich oft genauso, wie es die eigenen Eltern getan haben. Denn wenn der Stresspegel weit oben ist, hat man kognitiv nicht mehr die Möglichkeit, nach Verhaltensalternativen zu suchen, sondern tut einfach, was man kennt. Man kann das aber in einem ruhigen Moment reflektieren und ein neues Verhalten einüben.

Wie wichtig ist es, dass die Eltern in der Lage sind, Fehler zuzugeben?

Ich denke, es ist für ihre eigene Entwicklung extrem wichtig aus ihren Fehlern zu lernen. Die Kinder sind wie gesagt wirklich ein unglaubliches Lernfeld, denn wir werden bei der Erziehung mit all unseren Seiten konfrontiert. Nicht nur die Kinder sollten sich im Laufe der Jahre weiterentwickeln, sondern auch die Eltern. Kinder sind eine wunderbare Chance selber zu wachsen.

Was folgt, wenn Mütter und Väter keine Fehler zugeben können?

Wenn Eltern alle Vorwürfe zurückweisen und keine Selbstkritik zeigen, kann das zu sehr schwierigen Situationen führen. Meist handeln Eltern bei der Erziehung nach ihrem besten Wissen und Gewissen. Dennoch kann es sein, dass sich ein Kind ein ganz anderes Verhalten gewünscht hätte. Zum Beispiel Eltern, die sehr viel arbeiten, um dem Kind eine gute Schulbildung, schöne Kleider und tolle Aktivitäten zu ermöglichen. Es kann sein, dass das Kind den Eltern vorwirft, dass sie nie für es da waren und sich gar nicht für seine Entwicklung interessiert haben. Das kann in einem solchen Fall sehr verletzend für die Eltern sein, weil sie ja mit den besten Absichten so viel für gearbeitet haben. Trotzdem ist es wichtig, dass sie auch die Gefühle des Kindes zu verstehen versuchen. Manchmal brechen erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern auch ganz ab, wenn diese jede Kritik vehement zurückweisen. Manchmal sind die Kinder aber genügend flexibel, dass sie sich sagen können: „Meine Eltern haben gute und schlechte Seiten, ich nehme mir jetzt mal nur die guten Seiten, ich gehe am Wochenende zu ihnen zum Essen, wir haben einen lustigen Abend, aber mehr kann ich nicht von ihnen erwarten.“ Doch solch eine Einstellung braucht sehr viel eigene Stärke.

Wenn ich mich als Elternteil von Vorwürfen meines bereits erwachsenen Kindes überfallen fühle, wie reagiere ich dann am besten?

So etwas ist extrem schmerzhaft, denn man wollte es ja gut machen. Kinder haben den Wunsch, von den Eltern gesehen und verstanden zu werden. Eltern wollen aber auch, dass ihr Bemühen wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Ich denke aber, Eltern müssen bezüglich solcher Erwartungen eher zurückstecken. Aber das fällt vielen Müttern und Vätern schwer. Schön ist es, wenn Eltern den Vorwürfen der Kinder Raum geben können damit ein wirklicher Dialog entsteht. So kann eine vertrauensvolle und authentische Basis für eine neue Beziehung mit den erwachsenen Kindern geschaffen werden.

Wenn man ein noch kleines Kind hat und die Erziehung im Grossen und Ganzen gut läuft, sollte man sich dennoch darauf einstellen, dass irgendwann Vorwürfe kommen werden?

Vorwürfe und Konflikte gibt es immer. Das ist gesund und meist gibt es Lösungen. Manchmal fühlt sich das Elternsein tatsächlich furchtbar undankbar an. Aber es ist ein normaler Entwicklungsprozess, von seinem Kind irgendwann mal zurückgestossen zu werden.

Und wenn solche Konflikte gar nicht auftauchen? Ist dann erst recht etwas faul?

Ich glaube, das kann man nicht so generell beantworten. Früher gab es diese Konflikte weniger als heute, weil man seine Gefühle weniger ausgedrückt hat. Wenn der Konflikt aber unausgesprochen brodelt, ist das auch nicht gut. Ich denke, es ist das Beste, als Eltern offen für Veränderungen zu sein und sich und seinen Kindern zu vertrauen, dass man auch komplizierte Entwicklungsprozesse oder Konflikte als Familie konstruktiv meistern kann.

Ina Blanc gibt Tipps, wie Eltern mit den Ängsten ihrer Kinder umgehen können.

Ina Blanc ist Psychologin am Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie der Uni Basel. Die Leiterin der Weiterbildungen in Kinder- und Jugendpsychologie ist spezialisiert auf Beratung und Therapie im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Dabei profitiert sie von ihrer Erfahrung als Lehrerin und Berufswahlcoach mit Jugendlichen. 

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