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Enttäuscht vom eigenen Kind: Wie Sie mit Ihren Emotionen umgehen können

Es ist ein grosses Tabu: Als Eltern vom eigenen Kind enttäuscht zu sein. Und trotzdem kann sich dieses Gefühl einschleichen, wenn das Kind Erwartungen und Wünsche nicht erfüllt. Häufig versuchen Eltern dann, das Verhalten des Kindes zu ändern, was meist in grossem Frust auf beiden Seiten resultiert. Psychotherapeut René Hess erklärt, wie Eltern mit Erwartungen und Enttäuschungen umgehen können. 

Geht es um schulische Leistungen, sind Eltern oft frustriert, wenn das Kind ihre Erwartungen nicht erfüllt.
Vom eigenen Kind enttäuscht zu sein, ist ein natürliches und menschliches Gefühl. Bild: damircudic, E+

Da waren so viele Wünsche und Erwartungen – doch dann entwickelt sich das Kind ganz anders. Wenn Eltern vom eigenen Kind enttäuscht sind, spüren sie häufig Wut oder Trauer. Zuzugeben, dass man vom eigenen Nachwuchs enttäuscht wurde, kommt aber nicht in Frage. Doch wie geht man richtig mit diesem Gefühl um? René Hess, Psychotherapeut aus Bern, weiss Rat.

Herr Hess, wie kommt es dazu, dass Eltern von ihren Kindern enttäuscht sind?

Einer Enttäuschung liegen bestimmte Erwartungen zugrunde. Wenn Eltern von ihrem Kind enttäuscht sind, werden die Erwartungen, wie sich das Kind verhalten sollte oder wie es sich auf keinen Fall verhalten sollte, enttäuscht. Erwartungen sind also bestimmte Soll-Vorstellungen.

Welche Erwartungen stecken dahinter? Haben Sie ein Beispiel?

Eltern können zum Beispiel bestimmte schulische Leistungen erwarten. Sie wünschen sich dann, dass das Kind auf dem Gymnasium gut zurechtkommt. Eltern haben manchmal auch bestimmte berufliche Erwartungen an das Kind – zum Beispiel, dass es in ihre Fussstapfen tritt und den elterlichen Betrieb übernimmt. Doch es gibt auch Erwartungen, die kleinere Dimensionen haben. So können Eltern erwarten, dass es dem Kind gelingt, mit Erwachsenen höflich zu sprechen oder ein Computerspiel nach einer Weile auf die Seite zu legen.

Wie können Eltern mit ihren Gefühlen umgehen?

Wenn sich das Kind anders verhält, als Eltern es wünschen und erwarten, versuchen sie in der Regel zunächst, das Verhalten des Kindes zu ändern. Sie intensivieren ihre Anstrengungen. Erfüllt das Kind zum Beispiel nicht die schulischen Erwartungen, üben sie mit dem Kind immer öfter und immer mehr und buchen später auch Nachhilfe. Immer mehr desselben zu tun, ist allerdings meist nicht hilfreich – darauf wies schon der Psychologe Paul Watzlawick in seiner Anleitung zum Unglücklichsein hin. Es beinhaltet auch die Gefahr, die Beziehung zum Kind erheblich zu belasten, weil das Kind immer mehr unter Druck gerät.

Wie können Eltern sinnvoll mit Erwartungen umgehen?

Erwartungen sind keine Naturgesetze. Das bedeutet, dass Eltern sie stückweit in den eigenen Fokus rücken können, um sie sich bewusst zu machen. So haben sie die Chance, sie zu überdenken und Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie können zum Beispiel zu dem Schluss kommen, dass es hilfreich ist, die Erwartungen zu verändern, weil sie erkennen, dass sie nicht besonders hilfreich sind. Sich von den festgefahrenen Vorstellungen zu verabschieden, kann allerdings ein schmerzhafter Prozess sein und Trauer auslösen, bevor er befreiend wirkt.

Ein Beispiel: Die Mutter oder der Vater macht jeden Tag mit dem Kind mehrere Stunden Hausaufgaben, damit es die schulischen Erwartungen erfüllt. Das Kind wehrt sich dagegen. Obwohl die Stimmung kippt, geht es zunächst jeden Tag geht so weiter. Sich von den Erwartungen an das Kind zu verabschieden, kann zur Folge haben, dass die Eltern entscheiden, nicht mehr die Hausaufgaben zu betreuen. Oder das Kind woanders Hausaufgaben machen zu lassen. Oder einen Schulwechsel in Betracht zu ziehen. Damit geben Eltern nicht nur Vorstellungen auf, sondern gewinnen auch etwas. Denn die Beziehung zum Kind wird deutlich entlastet.

Was erwarten Kinder von ihren Eltern?

Kinder sollten von Eltern erwarten dürfen, altersentsprechend ihre eigenen Erfahrungen machen und ihren eigenen Weg gehen zu dürfen. In unserer Gesellschaft wird Kindern das Recht auf individuelle Entwicklung zugesprochen. Aber natürlich haben Eltern auch eine Begleit- und Schutzfunktion. Es ist nicht leicht, einerseits dem Autonomiewunsch des Kindes Rechnung zu tragen und es andererseits vor Gefahren zu schützen. Alle Eltern spüren dieses Spannungsfeld.

Was können Eltern tun, wenn das Kind sie ignoriert?

Vor allem in der Pubertät und in der Adoleszenz ist die Beziehung zwischen Eltern und Kind manchmal stark belastet. Ein absoluter Kontaktabbruch führt zu schwerwiegenden Verletzungen auf beiden Seiten. Sinnvoller ist es, den Kontakt zu reduzieren, die Tür aber aufzulassen. Bricht das Kind den Kontakt ab, stecken Eltern in einer schlimmen Situation. Sie haben den tiefen Wunsch, Kontakt mit dem Kind zu haben, doch das lässt sich nicht erzwingen. Dennoch haben sie Handlungsmöglichkeiten. Sie können Einladungen und Angebote machen, die dem Kind die Option bieten, sie freiwillig anzunehmen.

Zur Person: 

Der Fachpsychologe für Psychotherapie und Psychotherapeut Dr. René Hess führt in Bern eine eigene Praxis für systemische Beratung, Therapie & Supervision. Darüber hinaus ist er Leiter und Gründer des Systemischen Instituts Bern.

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