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Tetraplegie: Leben mit der Querschnittslähmung

Jürg Keller ist querschnittsgelähmt, er leidet an Tretraplegie. Seine Frau und seine Kinder geben ihm Mut. Seine Geschichte zeigt, wie wichtig der Rückhalt aus dem Kreis der Familie und Freunde ist, speziell nach einem schweren Unfall, der zu einer Behinderung führt.

Nach dem Erwerb einer Behinderung ist der Rückhalt der Familie besonders wichtig.
Nach dem Erwerb einer Behinderung ist der Rückhalt der Familie besonders wichtig. Foto: iStock, Thinkstock

Sevelen (SG) liegt am Osthang der Alvierkette und grenzt an den Rhein. Hier wohnen Jürg und Ruth Keller mit den Kindern Claudia und Cyrill und Hund Linus in einem hübschen Einfamilienhaus.

Eine glückliche, junge Familie: Doch die Idylle wurde gewaltig erschüttert, auf die Probe gestellt, und das Glück musste über Tage, Wochen und Monate neu definiert werden. Seit Jürg Keller im Sommer 2001 Tetraplegiker wurde, ist fast nichts mehr, wie es war.

Unfall mit weitreichenden Folgen

Rund drei Jahre nach dem Unfall ist so etwas wie Rhythmus und Alltag zurückgekehrt. Dass sich Jürg Keller fürs Leben entschieden hat, verdankt er seiner Frau Ruth, denn am Anfang konnte er sich nicht vorstellen, derart abhängig weiterzuleben. Sie und die beiden Kinder haben ihm jenen Rückhalt gegeben, der ihn zum Kämpfen motivierte.

Und dann ist es passiert. Mit einer Heftigkeit, die man sich nicht vorstellen kann. Mit einer Intensität, die keine Worte erträgt, weil es keine gibt. Aber es galt das trotzdem zu leben und weiterzumachen. Herausforderungen mit nicht alltäglichen Aufgaben für die ganze Familie und einem kaum zu bewältigenden Einsatz für Ruth Keller, die ihren Mann rund um die Uhr betreut und pflegt, gehören heute zum Leben.

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Maxime: Frische Luft und Berge

Jürg war immer schon ein Naturbursche. Als Kind verbrachte er zusammen mit seinen Eltern und den drei Schwestern Ferien auf dem Sevelerberg. Später hat er jeden Hügel in der Umgebung erklommen, kannte jeden Stein. Mit 13 Jahren begann er Handball zu spielen. Der Mannschaftssport wurde zu einer Leidenschaft.

Beruflich wollte er ebenfalls an die frische Luft. So absolvierte er in Sevelen eine Malerlehre und wechselte später nach Zürich, weil er dort Handball spielte. Aber nach nur acht Monaten kehrte er aus Heimweh nach den Bergen ins Rheintal zurück. Während der Rekrutenschule ist er Ruth Stuber aus Rotkreuz begegnet. «Sie besuchte eine Kollegin in Liechtenstein, und so haben wir uns getroffen, begannen uns Briefe zu schreiben, telefonierten, und es ist eine Beziehung entstanden, die gehalten hat.»

Eine junge, glückliche Familie

Am 29. Juli des gleichen Jahres heiratete er Ruth Stuber in Hünenberg. Einander die Treue halten in guten und in bösen Zeiten, einander lieben und achten durch all die Jahre, die Gott schenken wird und dies mit einem Ja bestätigen. 1990, am 25. Juni, wurde Tochter Claudia, am 25. August 1992 Sohn Cyrill geboren. Jürg schuftete für die Meisterprüfung. Das war streng: Geschäft, Schule und Familie.

Nach einem schweren Unfall mit anschliessender Behinderung zurück ins Leben zu finden ist nicht immer einfach.
Die Familie kann helfen, um nach einem Unfall wieder zurück ins Leben zu finden.

Die Männerriege von Sevelen organisierte für den 25. August 2001 eine Bike-Tour im Jura. Jürg Keller hatte sich angemeldet und wäre an jenem Morgen trotzdem lieber liegen geblieben.

Er fährt als Zweitletzter. Der Waldweg ist kiesig. In einer Rechtskurve rutscht der Kollege vor ihm aus und er - relativ nahe aufgefahren - muss ausweichen. Er schaut nach links, sieht ein Bachbett, hat das Gefühl, dass er dort hinein fahren könne, weil es aussieht, als hätte es Rasen.

«Es gab einen Knall, und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Dann kam Erwin Widmer, jener, der vor mir ausgerutscht war. Ich sagte zu ihm: Es ist passiert. Er antwortete, nein, das kann, das darf nicht sein. Dann war auch Felix Hauser da, der Kollege, der hinter mir gefahren ist. Ich sehe noch haargenau seinen Gesichtsausdruck, als er sagte, es müsse sofort eine Ambulanz her. Es schien mir, als daure es eine Ewigkeit, bis diese vor Ort war, denn ich hatte derart heftige Schmerzen, dass ich dachte, man hätte mir ein Messer in den Hals gesteckt. Weil ich mich nicht mehr bewegen konnte, wusste ich sofort, dass ich gelähmt bin.» «Keine Chance, dass ihr Mann mit den Extremitäten je wieder etwas machen kann. Er ist Tetraplegiker», habe der zuständige Arzt gesagt.

Zwei Tage später die Verlegung nach Nottwil ins Schweizer Paraplegiker-Zentrum. Er bleibt vier Wochen auf der Intensivstation. Wird künstlich beatmet. Der 37-jährige Mann ist körperlich und psychisch am Ende. Das einzige, was er wahrnimmt: seine Frau, die immer da ist.

Besserung in kleinen Schritten

Der innere und äussere Heilungsprozess verlief langsam. Der Therapieplan in Nottwil war mehr als ausgefüllt. Von morgens bis abends Termine. Zudem sollte ihm intensive Computerschulung einen Neubeginn im Berufsleben ermöglichen. Dank der professionellen Hilfe von Ruth durfte Jürg bereits ab November über die Wochenenden nach Hause. Kollegen vom Kiwanis-Club Werdenberg, von der Männerriege Sevelen und vom Handballclub haben ihn jeweils abgeholt. Dazu erstellten sie einen Fahrplan. Wenn einer verhindert war, kam ein anderer. Diese Kollegen kommen auch heute noch und unterstützen die Familie. Die Kiwanis-Kollegen zum Beispiel holen Jürg jeden zweiten Freitag zum Lunch.

Ein neues, fast normales Leben

Nach 10 Monaten hat Jürg das Schweizer Paraplegiker-Zentrum verlassen. Die Anpassungen im Haus in Sevelen waren realisiert, die Familie auf die schwere Aufgabe vorbereitet. Ruth meistert die Transfers vom Rollstuhl ins Bett und umgekehrt ebenso wie jene vom Auto in den Rollstuhl und umgekehrt. Auch die Darm- und Blasenpflege sowie die tägliche Pflege hat sie intus. Heute jedoch lässt sie sich dreimal pro Woche von der Spitex helfen.

Familie Keller hat zurückgefunden, in ein neues, anderes Leben. Jürg geht nicht mehr auf die Baustelle, sondern organisiert seinen Betrieb mit seinem heutigen Geschäftspartner Rolf Hobi, der die ganze Baustellenbetreuung macht, von zu Hause aus, wo das Geschäftsbüro schon immer war.

Text: Trudi von Fellenberg-Bitzi, Paraplegie, Nr. 112, Paramedia

Quelle: Stiftung MyHandicap www.myhandicap.ch

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