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Bringen OPs bei Offenem Rücken die Hoffnung? Der Schweizer Chirurg Martin Meuli zieht Bilanz

Babys mit Offenem Rücken kommen mit schweren Fehlbildungen zur Welt. Seit 2010 operiert der Zürcher Spitzenchirurg Martin Meuli die Föten noch im Mutterleib. Verliert der Befund damit seinen Schrecken? Nicht immer, wie sich nach 69 Operationen zeigt.

Martin Meuli mit einer Spina bifida-Patientin und ihrem Vater
Martin Meuli mit einem Spina-Bifida-Patienten und seinem Vater. (Bild: zVg)

2010, nur ein paar Tage vor Weihnachten, setzte der Kinderchirurg Martin Meuli das Skalpell am Bauch einer werdenden Mutter an – und wagte eine Operation, die bislang niemand ausserhalb der USA gewagt hatte: Er operierte im Kinderspital Zürich den ersten Fötus mit einem Offenen Rücken im Mutterleib. Denn bis dahin konnten Babys mit einer sogenannten Spina Bifida erst nach der Geburt behandelt werden.

Auch heute, sieben Jahre und 69 Operationen später, erinnert sich Meuli noch genau an diesen Moment: «Am 20. Dezember 2010 operierten wir das erste ungeborene Kind mit Spina Bifida.» Es war ein Mädchen mit dem norwegischen Namen Liv, der übersetzt Leben bedeutet. Sie hatte einen offenen Rücken und hätte wohl ohne eine sogenannte fötale Operation, also einer Operation im Mutterleib, schwere gesundheitliche Schäden wegen des offenen Rückens erlitten.

Diagnose mit schwerwiegenden Folgen

Für Eltern, die ein Kind erwarten, ist die Diagnose Offener Rücken ein grosser Schock. Der Befund wird in der Regel im Ultraschall ab der 16. Schwangerschaftswoche sichtbar: Haut- und Knochengewebe, das die Wirbelsäule bedecken sollte, fehlen. Diese offene, ungeschützte Stelle scheuert während der Schwangerschaft gegen die Gebärmutterwand. Gegen Ende der Schwangerschaft greift ausserdem das trübe, mit schädlichen Molekülen durchsetzte Fruchtwasser zusätzlich das Rückenmark an.

Die Folgen einer Spina Bifida sind fatal: Die Schädigung im Mutterleib führt zu irreversiblen Schäden wie Lähmungen, Gelenkfehlstellungen, etwa einem Klumpfuss, oft auch zu einem Wasserkopf, Inkontinenz und teilweise auch zu geistigen Behinderungen. Kinder mit Spina Bifida sind darum rollstuhlabhängig, brauchen einen Blasenkatheter, und viele einen Shunt, also eine Vorrichtung, die das Hirnwasser in den Bauch ableitet, um einen Wasserkopf zu vermeiden.

Grosse Hoffnungen liegen auf fötaler Operation

Bis 2010 hatten Schweizer Eltern nur die Optionen, das Kind auszutragen und nach der Geburt zu behandeln, oder die Schwangerschaft zu beenden. Heute liegt die grosse Hoffnung auf der frühen fötalen Operation.

Dabei werden Mutter und Fötus in Narkose gelegt, das abfliessende Fruchtwasser während der Operation durch körperwarmes Salzwasser ersetzt und anschliessend wird die Gebärmutter wieder wasserdicht verschlossen. Die besten Resultate bei dieser gut zweistündigen Operation werden erzielt, wenn der offene Rücken des Fötus zwischen der 23. bis 26. Schwangerschaftswoche zugenäht wird. In der Schweiz wird diese anspruchsvolle Operation am Kinderspital Zürich unter der Leitung von Martin Meuli zusammen mit einem 11-köpfigen, interdisziplinären Team durchgeführt.

Spina Bifida: Bessere Entwicklung dank fötaler Operation

Zur Person

Martin Meuli ist Doktor der Medizin und Professor. Er arbeitet seit 1986 am Kinderspital (KISPI) Zürich und prägt durch seine Innovationsfreudigkeit und charismatische Persönlichkeit die medizinische Entwicklung. Heute ist er Direktor der Chirurgischen Klinik, Co-Direktor des Zentrums für fötale Diagnostik und Therapie, sowie Mitglied der Geschäftsleitung und leitender Arzt des Zentrums für Brandverletzte Kinder, der Poliklinik und Notfallstation des Kinderspitals Zürich. Ausserdem ist er Ordinarius an der Universität Zürich.

Von 1993 bis 1995 erforschte er zusammen mit seiner Ehefrau Claudia Meuli, Chefärztin für Hand- und Plastische Chirurgie, in den USA die Narbenheilung und die fötale Entwicklung der Spina bifida beim Schaf. Sie konnten aufzeigen, dass sich durch frühe fötale Operationen die Rückenmarksschäden mildern oder vermeiden lassen. Mit der Publikation seiner Forschungsarbeiten im Wissenschaftsmagazin «Nature» konnte er schliesslich den Weg bahnen für die fötale Operation der Spina bifida beim Menschen.

Die fötale Operation birgt jedoch grosse Risiken, wie beispielsweise die Gefahr einer Frühgeburt oder einer Plazentaablösung. Laut Meuli kann die Qualität dieser hochkomplexen Operation nur gewährleistet werden, wenn die behandelnden Ärzte «ein erfahrenes und eingeschworenes Expertenteam sind.»

Die Erfahrungswerte der Zürcher Kinderchirurgen und die neusten Studienergebnisse aus den USA belegen, dass die Spätfolgen der Spina Bifida mit der fötalen Operation bis zu mehr als einem Drittel verringert oder sogar vermieden werden können. Meuli erklärt: «Wir sehen eine deutlich erhöhte Gehfähigkeit, das Wasserkopf-Vorkommen ist deutlich tiefer, die geistige Entwicklung besser. Insbesondere ist auch die Blasenfunktion der Kinder wesentlich besser.» Das heisst konkret: Mehr Kinder können ohne Rollstuhl, Shunt oder Blasenkatheter leben im Vergleich mit den Kindern, die erst nach der Geburt am offenen Rücken operiert wurden.

Operation am Ungeborenen als Heilmittel für alle?

Ist die Operation im Mutterleib also das Heilmittel für alle? Nein, erklärt Meuli: «Mutter, Gebärmutter und Baby müssen sich für die Operation qualifizieren.» Leider könnten nicht alle Fälle von Spina Bifida operiert werden. Es gebe eine grosse Anzahl an Ausschlusskriterien. Denn oft wären die Schäden an der Wirbelsäule des Fötus zu schwerwiegend.

Deshalb führt das Zentrum für Fötale Diagnostik und Therapie zwischen der 19. und 26. Schwangerschaftswoche eine breite Abklärung durch. Von den 200 Spina Bifida Fällen, die am Universitätsspital Zürich seit 2010 abgeklärt wurden, konnten nur gerade 69 operiert werden.

Die Mutter muss fit genug sein für zwei Operationen

Ausschlaggebend für eine Operation ist die Gesundheit der Mutter und deren Gebärmutter. Zudem muss die Mutter volljährig und darf nicht zu stark übergewichtig sein, und sie sollte in stabilen psychosozialen Verhältnissen leben. Wichtig ist zudem, dass die Mutter belastbar ist, denn sie wird zweimal per Kaiserschnitt operiert.

Nach der ersten, fötalen Operation muss sie zirka eine Woche auf der Intensivstation bleiben und wird permanent überwacht. Nach der zweiten Operation, der Geburt, wird das Neugeborene entweder auf die Frühgeborenen-Station oder, wenn es stabil ist, ins Kinderspital verlegt. Dabei ist die Koordination und die intensive Zusammenarbeit der verschiedenen Kliniken eine grosse Herausforderung.

Hohe Operationskosten, dafür weniger Folgekosten durch Spina bifida

Entsprechend hoch sind denn auch die Kosten: Die beiden Operationen plus Spitalaufenthalt und Nachbetreuung belaufen sich für Mutter und Kind auf rund 70’000 bis 150’000 Franken. Sie werden jedoch mittlerweile mehrheitlich von den Krankenkassen übernommen, oder in Härtefällen auch von Spendengeldern mitfinanziert.

Weitere Informationen zur vorgeburtlichen Chirurgie bei Spina bifida finden Sie hier.

Film über die fötale Chirurgie

Der Gesundheitsdirektor des Kantons Zürich, Thomas Heiniger, meint dazu: «Wenn die Kinder eine bessere Entwicklung durchlaufen und ein normales Leben führen und später in den Arbeitsprozess integriert werden können, sparen wir viel Geld.»

Für Kinder wie Liv, deren Rückenmark sich nicht wie üblich verschliesst, kann diese Operation jedoch nicht mit Geld aufgewogen werden. Meuli betont: «Diese Operation bringt keine vollständige Heilung, wohl aber gute Chancen auf eine wesentliche Verbesserung der Lebenssituation. Sie ist ein Leuchtturm.»

Buchtipp

Buchcover «Martin Meuli: Operation am Ungeborenen»

«Martin Meuli – Operation am Ungeborenen. Der Pionier. Die Fötalchirurgie. Die Patienten.» von Peter Rothenbühler, Magdalena Ceak, Sonja Laurèle Bauer, 2017 Werd & Weber Verlag AG und Somedia Production AG, 359 Seiten, ISBN 978-3-85932-837-2, zirka 39 Franken.

Wer sich für die Geschichte von Liv und die Behandlung der Spina bifida interessiert, kann die Biografie über Martin Meuli, den Vater der fötalen Chirurgie, lesen. Das umfangreiche Buch ist keine klassische Biografie, sondern beinhaltet sowohl seriöse medizinische Themen, als auch Unterhaltsames aus Meulis schillerndem Leben, wie beispielsweise seine Laufbahn als Tennislehrer oder Opernsänger.

In mehreren Kapiteln erzählen Familienangehörige, Studien- und Arbeitskollegen über gemeinsame Erlebnisse. Die Leser erfahren dabei viel über Meulis Karriere als Kinderchirurg, aber auch über Meuli als Mensch. Eindrücklich sind im Buch die Berichte von Spina-bifida-Betroffenen, die von Meuli und seinem Team vorgeburtlich operiert wurden.

Auch eine Bereicherung sind die Fotoreportagen über die fötale Operation und die Hauttransplantation bei Verbrennungen. Darin wird mit Bildern und kurzen Bildlegenden einfach erklärt, wie solche Operationen ablaufen, und was es alles dazu braucht; die Leser lernen dabei einiges über die Entwicklungsgeschichte der Schweizer Spitzenmedizin.

Die Biografie ist qualitativ hochwertig verarbeitet und mit 191 Farbfotos illustriert. Meuli selbst findet: «Das Buch ist eine vielfarbige, bunte Angelegenheit und von einer hohen Intensität. Es ist eine aus meiner Sicht durchaus authentische Widerspiegelung der Lebendigkeit meines Lebens.»

Text: Dominique Götz

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