Neue Medien schaden Kindern weniger als Eltern befürchten
Neue Medien sind aus der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken. Doch wie gefährlich sind Smartphone und Computer für Kinder? Georg Milzner, Autor des Buches «Digitale Hysterie», lässt Eltern aufatmen: «Computer machen Kinder weder dumm noch krank», sagt er.
Herr Milzner, die Fachwelt warnt ständig vor den Folgen übermässigen Medienkonsums, die angeblich von Suchtgefahr über Verwahrlosung bis hin zum Intelligenzverlust reichen. Sie aber kommen zu anderen Schlüssen. «Computer machen weder dumm noch krank», lautet der Untertitel Ihres Buches «Digitale Hysterie». Wie haben Eltern reagiert?
Georg Milzner: Überwiegend sehr positiv. Viele Leser sagen, sie würden sich erleichtert fühlen. Und manche ergänzen, sie fänden nun fachlich bestätigt, was immer schon ihr Gefühl gewesen sei. Einige wenige fühlen sich stärker gefordert, weil ich betone, dass Beziehung, Aufmerksamkeit und Anteilnahme am digitalen Geschehen die entscheidenden Faktoren sind, um Kinder gut in die digitale Welt hineinwachsen zu lassen.
Wie kommen Sie zu der Einschätzung, dass Neue Medien oft besser als ihr Ruf sind?
Schon Mitte der 80er Jahre war ich als Hilfskraft am Institut für Angewandte Psychologie an der Universität Münster Teil einer kleinen Forschergruppe, die sich mit den Auswirkungen digitaler Medien befasste. Unter anderem untersuchten wir, ob und inwieweit Bildschirmarbeitsplätze Menschen schaden. Damals habe ich zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass neue Technologien oft weit grössere Ängste als tatsächliche Probleme auslösen. Später, in meiner eigenen Praxis, habe ich festgestellt, dass der Hardcore-Gamer meist gar nicht dem Klischee «dicklich, dumm und unkreativ» entspricht. Im Gegenteil, meist ist er schlank und auch ziemlich intelligent – schliesslich kommt man ohne Intelligenz in vielen Spielen auch gar nicht weiter. Die Erfahrung mit der digitalen Welt hat auch keins meiner Kinder wesentlicher anderer Erfahrungen beraubt.
Dürfen Kinder also bedenkenlos die Funktionen ihrer Smartphones nutzen?
Nein, sie dürfen ganz sicher nicht bedenkenlos alle Funktionen nutzen. Für kleine Kinder ist ein Smartphone ohnehin nicht geeignet, weil es ihre wesentlichen Bedürfnisse nicht befriedigen kann. Sie wollen – im wahrsten Sinne des Wortes – die Welt «be-greifen», sie sind am Anfassen, Untersuchen und Auseinandernehmen orientiert. Wenn Kinder ab etwa dem mittleren Grundschulalter mehr für Smartphone und Computer interessieren, dann sollten Eltern wissen, was sie zum Beispiel bei YouTube schauen. Da gibt es vieles, was für einen Neunjährigen absolut nicht geeignet ist und ihm üble Schlafstörungen bereiten kann!
Wie sieht es mit Facebook und WhatsApp aus?
Facebook und WhatsApp sind laut Geschäftsbedingungen der Betreiber erst ab 13 beziehungsweise ab 16 Jahren überhaupt erlaubt, obschon viele Kinder hier bereits unterwegs sind. Wenn sie also schon in sozialen Foren aktiv sind, dann gilt: Bis zum Alter von etwa zwölf, 13 Jahren wäre ich auch hier zum Beispiel beim Klassenchat aufmerksam, weil die Tonlage da oft sehr rau ist.
Worauf kommt es bei einem sinnvollen Umgang mit den neuen Medien an?
Wir sollten keine sinnlosen Kämpfe kämpfen, so als würden die ganzen neuen Medien irgendwann einfach wieder verschwinden. Ich schlage da eine evolutionspsychologische Perspektive vor. Dies ist unsere neue Umwelt, und wie Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, sagte, werden diejenigen am besten klarkommen, die sich gut an diese Umwelt anpassen. Ist das einmal akzeptiert, lässt sich dann darüber nachzudenken, wie man mit dieser Umwelt denn leben möchte. Will man zum Beispiel täglich erreichbar sein? Oder ist es einem wichtig, auch mal für sich zu bleiben? Diskussionen dieser Art wünsche ich jeder Familie, und zwar offene Diskussionen ohne vorgegebenes Ergebnis.
Welche Chancen stehen welchen Gefahren gegenüber?
Was die Chancen angeht, so erleben wir ja schon viel Gutes, was vorher nicht möglich war. Wenn meine Tochter in den Semesterferien durch Indonesien reist und von dort aus Fotos schickt oder sich melden kann, dann empfinde ich das als toll. Die Chance für jemanden, der in einer strukturschwachen Gegend lebt, über Internetforen Beziehungen zu knüpfen, ist gleichfalls ein Gewinn. Die Hauptgefahr ist dagegen sicher, dass wir Probleme mit der Steuerung unserer Aufmerksamkeit bekommen. Schon jetzt ist die Ablenkbarkeit nicht nur von Kindern, sondern auch von Erwachsenen ja gewaltig gewachsen. Kleinkinder verlieren die für sie unverzichtbare Anteilnahme immer mehr, weil Eltern ständig eingehende Nachrichten checken. Oder, ein Problem, von dem jeder weiss und das sträflich unterschätzt wird: Jemand, der als Autofahrer mit dem Smartphone telefoniert - was ja trotz Verbot immer noch oft zu sehen ist - hat nicht etwa ein doppeltes oder auch dreifaches, sondern Experimenten zufolge ein 25faches Unfallrisiko.
Wie können Jugendliche einen angemessenen Umgang mit den neuen Medien lernen?
Wichtig ist, dass Eltern und Erzieher Kinder und Jugendliche in der digitalen Welt nicht allein lassen. Dabei gilt es, kritisch zu hinterfragen, wie man selbst die Medien nutzt. Viele Eltern versuchen augenblicklich, Leitwölfe zu sein. Dabei bewegen sie sich allerdings auf dünnem Eis, denn sie wissen gar nicht, welche Gefahren von der digitalen Welt konkret ausgehen könnten. Kinder und Jugendliche spüren das, sie nehmen die Warnungen der Erwachsenen deshalb diesbezüglich einfach nicht ernst. Gemeinsam erarbeitete Regeln, an die sich dann natürlich auch alle halten müssen, sind daher hilfreicher.
Wie könnte eine solche Regel aussehen?
Bei uns sind ab acht Uhr abends alle digitalen Medien aus, also auch mein Smartphone und das meiner Frau. So ist Raum für gegenseitiges Wahrnehmen. Und dabei kann man natürlich auch gern über die neuesten Erfolge in einem Computerspiel reden.
Zur Person
Der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Georg Milzner arbeitet seit vielen Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Dabei hat er die Erfahrung gemacht, dass Computerkinder viel gesünder, sozialer und intelligenter als ihr Ruf sind. Der Vater von drei Kindern, der in Münster und in Düsseldorf lebt und arbeitet, hat bereits mehrere Fach- und Sachbücher geschrieben. Da er als Bewusstseinsforscher der Ansicht lebt, dass man mediale Phänomene erst kennen gelernt haben muss, ehe man sie womöglich kritisiert, hat er für seine Studien zur «Digitalen Hysterie» selbst Gamen gelernt.
Buchtipp
Das Buch «Digitale Hysterie – Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen» ist im Beltz Verlag erschienen. Statt weiter zu verunsichern, plädiert Autor und Psychotherapeut Georg Milzner für Augenmass und Offenheit, denn in vielen Familien verbirgt sich hinter dem Computerproblem ein Beziehungsproblem, das alle Seiten belastet. In seine Buch beantwortet er die wichtigsten Fragen zum Medienkonsum, damit Eltern und Kinder in der digitalen Welt zurechtkommen.