Nachgefragt: Dürfen Eltern ihr Kind auf den Mund küssen?
Eltern, die ihre Kinder auf den Mund küssen. Das Thema sorgt immer wieder für hitzige Diskussionen. Die einen sehen darin eine sexuelle Handlung, die Kinder irritieren kann. Für die anderen ist das «Küssli» auf den Mund ein Zeichen der Verbundenheit, das sie sich nicht verbieten lassen wollen. Ist das Lippen-Bussi zwischen Eltern und Kind in Ordnung – oder etwa anrüchig? Eine Expertin erklärt, worauf es in der Diskussion wirklich ankommt.
Kind und Mama oder Kind und Papa küssen sich auf den Mund? Das Thema sorgt immer wieder für hitzige Debatten. Die einen – wie auch die britische Kinderpsychologin Charlotte Reznick, die sich öffentlich gegen Lippenküsse zwischen Eltern und Kind ausgesprochen hat – finden, dass der Lippenkuss tabu ist. Die anderen sind von dieser Sichtweise empört. Wer hat recht? Milena Brüni, die als Expertin im Kinderschutz und in der Opferhilfe arbeitet, steht uns Rede und Antwort.
Frau Brüni, man sieht immer wieder Eltern, die ihrem Kind ein Küsschen auf den Mund geben. Was die einen schön finden, empfinden die anderen als abschreckend. Was ist richtig?
Milena Brüni: Es gibt keine Instanz, die beurteilt, ob ein Lippenkuss zwischen Mama und Kind oder Papa und Kind richtig oder falsch ist. Wie Lippenküsse grundsätzlich empfunden werden, ist von gesellschaftlichen Konventionen und auch von der Familienkultur abhängig.
Haben Eltern-Kind-Küsse auf den Mund Ihrer Meinung nach etwas Sexuelles?
Lippenküsse verbinden wir häufig mit romantischen Beziehungen und Intimität. Küsse von Kindern haben grundsätzlich keine sexuellen Begleitvorstellungen. Wenn zum Beispiel ein Kleinkind auf Mama oder Papa zurennt und ihm einen Kuss auf den Mund aufdrückt, sollte man nichts hineininterpretieren. Sehr wichtig dagegen ist, dass Eltern schon früh die Signale des Kindes wahrnehmen – und ihm also keinen Kuss aufzwingen!
Zur Person
Milena Brüni arbeitet als Co-Leiterin der Fachstelle OKey Opferhilfe und Kinderschutz in Winterthur. In der direkten Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist es ihr besonders wichtig, gemeinsam tragfähige Lösungen mit Blick auf das familiäre Bezugssystem zu erarbeiten. OKey unterstützt Kinder und Jugendliche, die von Gewalt betroffen sind. Zudem bietet die Fachstelle Angehörigen und Fachpersonen Beratung an, wenn sie sich Sorgen um das Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen machen. Die Beratungen sind kostenlos und anonym.
Welchen Schaden könnten Mundküsse zwischen Eltern und Kindern haben?
Sicher entsteht nicht sofort ein „Schaden“, wenn ein Kind ein Küsschen bekommen hat, das es nicht wollte. Doch wenn bei Kindern oder Jugendlichen immer wieder körperliche Grenzen verletzt und überschritten werden, kann dies zu einer negativen Selbstwahrnehmung führen.
Inwiefern beeinflussen Grenzverletzungen das Empfinden von Kindern?
Kinder, die immer wieder die Erfahrung machen, dass ihre Grenzen nicht respektiert werden, entwickeln Schwierigkeiten, selbstbewusst, authentisch und mutig für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Es fällt ihnen daher schwer, in Situationen, in denen sie sich unwohl fühlen, Nein zu sagen, Hilfe zu holen und sich zu wehren. Und das birgt Risiken.
Erwachsene können sich beleidigt fühlen, wenn das Kind ihnen nicht auf althergebrachte Weise seine Zuneigung zeigt …
Wir alle kennen das – manchmal mag man einfach gerade keine körperliche Nähe, auch nicht von nahen Bezugspersonen. Es ist richtig, wenn Eltern ihrem Kind vermitteln, dass das völlig in Ordnung ist. Und wenn sich das eigene Kind bei Körperkontakt mit anderen Personen offensichtlich unwohl fühlt, ist es an den Eltern einzuschreiten und das Kind zu schützen. Ich denke da an die klassische Familienfeier, bei der Erwachsene vom Kind ein Küsschen erwarten. Kinder sollten nicht gezwungen werden, jemanden zu küssen! Das überschreitet Grenzen.
Üben Eltern manchmal auch unbewusst Druck aus?
Ja, denn nicht selten haben wir Erwachsenen genaue Vorstellungen, wie sich Kinder in bestimmten Situationen zu verhalten haben. Da wollen wir doch eigentlich gern, dass das Kind einer Person richtig Hallo sagt und ihr ein Küsschen gibt – man hat sich doch so lange nicht gesehen! Doch das spiegelt nicht das Interesse des Kindes wider, sondern die eigenen. Da geht es dann um Harmonie und Konfliktvermeidung – und um den Wunsch, dass andere nicht denken, dass Kind sei unhöflich oder ungezogen.
Wichtig ist also, dass Kinder ihre Gefühle wahrnehmen und auch wissen, dass sie sie verbalisieren dürfen. Was können die Eltern dafür tun?
Schon sehr kleine Kinder drücken bereits nonverbal aus, was sie nicht möchten. Wird einem Kind eine Berührung zu viel – zum Beispiel ein Kuss oder auch eine Umarmung, dreht es sich weg, zappelt oder weint. Solche Zeichen sollten Eltern beachten. Darüber hinaus können sie ihrem Kind verschiedene Angebote machen, sich zu begrüssen, zu verabschieden oder Nähe herzustellen. Kennt das Kind die verschiedenen Möglichkeiten, kann es wählen – zum Beispiel zwischen einem Zuwinken, einem Handschlag, einem Kuss auf die Wange oder auf den Mund, einer Umarmung. So erlernen bereits kleine Kinder das notwendige Gespür: Was brauche ich jetzt? Und was sind jetzt gerade für mich der nötige Abstand und die erwünschte Nähe? Mit älteren Kindern können Eltern besprechen, welche Art von Begrüßung, Verabschiedung oder Zuneigung sie in Ordnung finden.
Kinder lernen auch am Vorbild …
Ja genau! Eltern können ihrem Kind mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn sie ihre Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen äussern, lernen Kinder das auch.
Buchtipps aus der Redaktion
Diese Bilderbücher für Kinder ab vier Jahren fördern die Selbstwahrnehmung und den Selbstschutz:
📖 Das Buch 'Mein Körper gehört mir' vermittelt mit Bildern, einfachen Texten und einer Körperlandkarte Kindern ab vier Jahren, zu merken, was sie mögen und wie man 'Nein' sagt und Grenzen setzt.
📖 Das Buch 'Ich und meine Gefühle' lädt zum Gespräch über Emotionen ein. Die eigenen Gefühle wahrzunehmen und verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen, ist für Kinder ein wichtiger Lernprozess und ein Ausprobieren von Grenzen.