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Wie kleine Träumer im schnellen Alltag mithalten

Manche Kinder träumen so viel vor sich hin, dass sie Alltag und Schule nur schwer organisieren können. Doch Tagträumen hat auch seine guten Seiten, wissen die Psychologen Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund.

Auch verträumte Kinder kommen im Alltag zurecht.
Verträumte Kindern müssen lernen, sich besser im Alltag zu fokussieren. Doch das Tagträumen hat auch gute Seiten. Bild: graphixel, Getty Images

Frau Rietzler, Herr Grolimund, Sie haben ein Kinderbuch zum Thema «Träumen» geschrieben? Wie kam es dazu?

Wir arbeiten seit vielen Jahren mit Familien, deren Kinder verschiedene Schulschwierigkeiten aufweisen. Dabei wurde uns immer wieder die folgende Frage gestellt: «Kennt ihr ein Buch für Mädchen, die träumen, langsam und vergesslich sind? Die fallen irgendwie immer durch die Maschen, weil sie nicht stören.» Weil uns das Thema selbst sehr nahe ist – Stefanie war als Kind ziemlich vergesslich, Fabian so verträumt, dass er ein zusätzliches Jahr Kindergarten brauchte – machten wir uns ans Werk.

Stimmt es, dass Kinder mehr träumen als Erwachsene?

Das Tagträumen an und für sich ist bislang noch wenig untersucht worden. Die wenigen Studien, die es gibt, zeigen aber, dass Erwachsene rund 50 Prozent der Wachzeit gedanklich nicht bei dem sind, was sie aktuell tun. Kinder verbringen zwar nicht mehr Zeit mit Tagträumen als Erwachsene, können aber schlechter steuern, wann sie das tun. Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, den Fokus also bewusst auf eine Aufgabe zu richten und sich nicht ablenken zu lassen, entwickelt sich erst im Laufe des Lebens.

«Hör auf zu träumen», wird oft gesagt. Ist das Träumen denn hinderlich für die Entwicklung des Kindes?

Kinder träumen oft in Situationen, in denen erwartet wird, dass sie sich konzentrieren. Sie sind dann so in ihrer Gedankenwelt sind, dass sie nicht mehr wahrnehmen, was um sie herum passiert. Daher sind sie eher in Gefahr, in ein Auto zu laufen oder mit dem Fahrrad irgendwo reinzufahren. Auch Freundschaften und die Beziehung zu den Eltern können leiden, wenn Kinder oft nicht zuhören, Abmachungen vergessen und häufig in sich selbst zurückgezogen wirken. Ob Tagträume zum Problem werden, hängt also davon ab, ob das Kind sie zum richtigen Zeitpunkt abschütteln und sich bewusst auf eine Aufgabe im Aussen – wie ein Gespräch, eine Prüfung, den Strassenverkehr – fokussieren kann.

Wie kommen Kinder, die gedanklich abdriften, zurecht, wenn sie in die Schule kommen?

Kinder, die sehr unaufmerksam sind, stossen relativ rasch auf Probleme in der Schule. Oft sitzen sie vor Arbeitsblättern und wissen nicht, was sie machen sollen. Oder sie fangen erst an, wenn die anderen fast fertig sind. In Tests unterlaufen ihnen Flüchtigkeitsfehler. Aufgrund ihres langsamen Arbeitstempos können sie oft nicht zeigen, was sie eigentlich könnten. Wenn sie oft träumen, können sie beispielsweise dem Unterricht nicht mehr folgen oder brauchen Stunden für die Hausaufgaben.

Manchmal versuchen die Eltern dann, zu Hause alles aufzuarbeiten und die Lücken mit dem Kind zu füllen …

Das ist für alle sehr ermüdend, bringt meist wenig und löst bei den Kindern viel Widerstand gegen die Schule aus. Je besser Lehrkräfte und Eltern allerdings wissen, was verträumten Kindern hilft, desto eher können diese Schwierigkeiten abgefedert werden.

Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen?

Wichtig erscheint uns, Zeit und Raum für das Träumen zu schaffen. Verträumte Kinder benötigen oft viel Zeit für sich, um abzuschalten, sich in etwas zu vertiefen und eigenen Interessen nachzugehen. Volle Terminkalender mit Mittagsbetreuung, Hortstruktur und vielen zeitaufwändigen Hobbys stressen sie. Auf der anderen Seite ist Struktur hilfreich: Anstatt vom Kind lediglich zu fordern, sich zu beeilen, sich besser zu konzentrieren, an den Turnbeutel zu denken oder sich die Hausaufgaben einzuteilen, benötigen verträumte Kinder Anleitungen, «wie das geht»: Was muss ich mir beim Planen überlegen? Was kann ich tun, damit ich im richtigen Moment daran denke, die Hausaufgaben einzutragen? Was hilft mir dabei, mich am Morgen nicht zu verlieren? Die Antworten darauf sind auch für Erwachsene gar nicht so einfach zu finden – bereits diese Erkenntnis kann uns dabei helfen, geduldiger mit den Kindern zu sein.

Hat Träumen auch seine guten Seiten?

Definitiv! Tagträume sind das Tor zu unserer Kreativität. Studien zeigen beispielsweise, dass das Tagträumen uns dabei helfen kann, Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Viele kreative Einfälle und Ideen entstehen, während wir unseren Geist auf Wanderschaft schicken. Wir finden es wichtig, dass sich Kinder die Fähigkeit zum Träumen bewahren. Dabei sollten sie aber in ihrem Tempo lernen, sich im richtigen Moment willentlich auf etwas zu konzentrieren. Die Hauptfigur in unserem Buch «Lotte, träumst du schon wieder?» lernt daher nicht nur den Wolfsblick kennen, die Fähigkeit, voll und ganz im Hier und Jetzt zu sein. Sie entdeckt auch die Stärke in ihrer verträumten Seite.

Michael Berger gezielt lernen
Michael Berger gezielt lernen
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Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching. Am 14. September erscheint ihr Buch «Lotte, träumst du schon wieder?» für Grundschulkinder und ihre Eltern.

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