Suizid bei Jugendlichen: Allgegenwärtig und doch tabuisiert
Wenn sich Depression, Trauer und Überforderung breit machen, sehen viele Jugendliche keinen anderen Ausweg, als sich das Leben zu nehmen. Suizid ist eine der häufigsten Todesursachen bei Schweizer Jugendlichen. Trotzdem, oder gerade deshalb, wird das Thema hierzulande noch zu stark tabuisiert.
Es ist nicht besonders leicht, heute jung zu sein. Die derzeit ansteigende Arbeitslosenquote nimmt Jugendlichen die Hoffnung auf Perspektiven, dennoch werden sie mit Erwartungen seitens der Elterngeneration geradezu überladen. Die allgegenwärtigen Medien zeichnen Idealbilder, denen Jugendliche – meist erfolglos – nacheifern. Doch kann man diese «Generationskrankheiten», welche sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zwar ändern, aber nie verschwinden, für die erschreckend hohe Suizidrate in der Schweiz verantwortlich machen?
Fakt ist: Im Schnitt bringt sich in unserem Land laut Bundesamt für Statistik alle vier Tage ein Teenager um. Rund 10'000 junge Menschen unternehmen im Jahr einen Suizidversuch, etwa 100 nehmen sich dabei tatsächlich das Leben. Dabei sei äusserst selten generationsbedingter Weltschmerz der Grund für die Taten, erklärt PD Dr. Urs Hepp, Chefarzt des Externen Psychiatrischen Diensts der PDAG (Psychiatrische Dienste Aargau). «Häufig sind die Ursachen typische Krisen, wie Beziehungsprobleme oder Konflikte in der Schule, im Studium, im Beruf. Viele Suizide werden von Jugendlichen impulsiv begangen, in sogenannten Kurzschlusshandlungen.»
Bahnsuizid ist bei Jugendlichen am weitesten verbreitet
Die Nuancen innerhalb dieser hohen Suizidrate sind erstaunlich: Knapp 80 Prozent der Jugendlichen, die sich in der Schweiz das Leben nehmen, sind laut Bundesamt für Statistik männlich. Die am weitesten verbreitete Selbstmordart bei jungen Männern ist mit Abstand der Bahnsuizid. Schnell, wirksam, hart – ganz klar eine Versinnbildlichung des männlichen Rollenbildes, erklärte der Soziologe Walter Hollstein vor wenigen Monaten in einem Interview mit dem Tages Anzeiger. Laut ihm sei es die stark in der Rolle des Mannes verankerte Angst davor, Schwäche zu zeigen, welche bei männlichen Teenagern hauptsächlich zum Selbstmord führe. Die weite Verbreitung des Bahnsuizids führt Dr. Urs Hepp auf unser dichtes Bahnnetz zurück. «Die Verfügbarkeit der Methode ist sehr hoch», erklärt er im Gespräch mit Familienleben. Viele abgelegene Stellen des Eisenbahnnetzes luden mit ihren eher mangelnden Sicherheitsvorkehrungen förmlich zu einer solchen Tat ein.
Junge Frauen weisen andere Verhaltensmuster auf. Ein Grossteil der «misslungenen» Selbstmordversuche wird von Teenagermädchen verübt. Selten töten sich Frauen mit Schusswaffen, viel weniger als Männer werfen sie sich vor den Zug. Sie greifen häufiger zu Medikamenten. Die Fachliteratur spricht von «einsamen» Suiziden bei Männern und von lebensbezogenen Ereignissen mit kommunikativer Bedeutung bei Frauen. Weibliche Verzweiflungsappelle, männliche Drastik.
Suizid bei Jugendlichen wird nicht thematisiert
Geschlechterunabhängig ist jedoch nach wie vor die Tabuisierung des Themas. Während Themen wie Sexualkunde und Medienkompetenz vermehrt in den Schulplan eingebunden werden, wird das Thema Jugendsuizid von der Lehrerschaft totgeschwiegen. Ein äusserst gefährliches Manko, wie auch die Chefärztin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes Zürich Dagmar Pauli im Gespräch mit dem Tages Anzeiger beteuert. Lehrer und Eltern sprechen zwar mit ihren Kindern nicht über das Thema, den Jugendlichen selbst seien aber im Informationszugang kaum Grenzen gesetzt. In Internetforen haben die Jugendlichen die Möglichkeit, sich mit anderen über ihre Suizidgedanken auszutauschen. Es seien oft undifferenzierte Gespräche, welche die Problematik glorifizieren. Gleichzeitig schrumpfen die Hemmungen, sich etwas Schlimmes anzutun. «Foren kultivieren kranke Gedanken», titelte der Tages Anzeiger nicht grundlos das Interview mit Chefärztin Pauli.
Doch weshalb wird der Suizid von Jugendlichen in Schulen und in Familien dermassen selten zum Gesprächsgegenstand? Der Psychiater Dr. Hepp erklärt es sich mit der Angst und der Ohnmacht des familiären Umfelds. «Wenn sich ein Jugendlicher das Leben nimmt, lässt er das Umfeld rat- und hilflos zurück.» Für die Familie, besonders für die Eltern, sei der Selbstmord des eigenen Kindes etwas vom Allerschrecklichsten. Es brauche eine Menge Mut und Selbstkontrolle, um sachlich darüber sprechen zu können. Die Enttabuisierung des Themas Jugendsuizid sei jedoch ein unerlässlicher Schritt, um die Selbstmordquote zu senken, beteuert Unger. «Wenn in der Öffentlichkeit immer wieder über das Thema gesprochen wird, wird das dazu beitragen, dass Betroffene sich eher trauen, darüber zu reden.»
Suizid bei Jugendlichen: Beratungsstellen können helfen
Jugendliche, die ernsthaft einen Suizid in Erwägung ziehen – laut Studien spielt jeder Zweite im Laufe des Lebens mit Selbstmordgedanken – brauchen meist keine voreiligen Lösungsvorschläge zu ihren Problemen, sondern vielmehr ein offenes Ohr. Oft weigern sich Jugendliche, mit Familie und Freunden zu sprechen, um diese nicht zu belasten. In solchen Situationen seien leicht zugängliche Organisationen und Anlaufstellen enorm wichtig, erklärt Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der PDAG Dr. Jürg Unger. Eine davon ist Pro Juventute, die Beratungsstelle für Jugendprobleme, die vor kurzem eine nationale TV-Kampagne zur Prävention von Jugendsuizid gestartet hat. Mindestens einmal pro Tag wählt ein Teenager die Pro Juventute Beratungs- und Hilfstelefonnummer 147, weil er oder sie sich umbringen will. Diese alarmierende Häufigkeit führte zur gross angelegten Sensibilisierungskampagne.
Jugendpsychiater Jürg Unger schätzt die gezielte Sensibilisierung von Lehrpersonen, Haus- und Kinderärzten besonders hoch ein. Es sei erschreckend, wie viele Hausärzte nicht dafür geschult seien, Suizidalität zu erkennen. «Auf diesen Ebenen ist die Früherkennung zentral für effiziente Suizidprävention», bekräftigt er. Sollte ein Jugendlicher Anspielungen auf Lebensmüdigkeit und den Tod machen, sei es wichtig, dass Ansprechpersonen sofort darauf reagieren und professionelle Hilfe herbeiziehen. «Die Probleme, die bei Jugendlichen zu Suizidgedanken führen, sind in den allermeisten Fällen phasenbedingt und behandelbar. Wichtig ist, sie frühzeitig zu erkennen.»