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Buntstifte, Bilderbücher und iPads: Ein neuer Kindergarten-Alltag

Die Schulbehörde Adliswil hat im vergangenen Schuljahr das Projekt «iPad im Kindergarten» ins Leben gerufen. Drei Kindergärten wurden je zwei iPads als Spiel- und Lernkonsole zur Verfügung gestellt. Das Vorhaben wurde in den Medien kritisiert: Was hat ein Tablet-PC bei 4-6-Jährigen zu suchen? Familienleben besuchte eine der Vorschulen.

Ein iPad im Kindergarten: Wie sinnvoll ist das?
«Jetzt spiele ich lieber auf dem iPad als in der Puppenecke», erzählt die kleine Nathalie*. Foto: iStock, Thinkstock

Die grosse Pause im öffentlichen Kindergarten Hündli in Adliswil ist vorbei. Die Kinder konnten sich im geräumigen Garten austoben - rennen, einander jagen, im Sand buddeln. Nun haben die Kleinen Jacken und Mützen an der Garderobe deponiert und sind in ihre Finken geschlüpft. Der Atem beruhigt sich langsam. Die Kindergärtnerin Barbara Baumann fordert die Kinder auf, auf ihre winzigen Stühle zu stehen. Nach einem kurzen Moment der Stille geht sie zu jedem Kind einzeln hin und fragt es, womit es jetzt spielen möchte. Die kleine Maria* entscheidet sich für das iPad und als es ein Gspänli aussuchen darf, ragen fast alle Hände unter anflehendem Gerufe in die Höhe. Maria* packt sich Nathalies* Hand und die beiden Freundinnen verschwinden mit dem iPad in den Vorraum des Kindergartens.

Nathalie* ist fünf Jahre alt. Sie ist eines der jüngsten Kinder im «Hündli 1» und doch weiss sie, wie das iPad entsperrt und wie es ausgeschaltet wird, behutsam aber flink findet sie das gesuchte Spiel. Sie habe zuhause selber ein iPad, mit dem sie spielen darf, sagt sie. Nathalie* erzählt, sie spiele mittlerweile viel lieber auf dem iPad, als in der Puppenecke. Mit ihrer Kameradin Maria* knobelt sie an einer Partie «Memory». Die Erzieherin Barbara Baumann schaut immer wieder bei den beiden Mädchen vorbei, es komme nicht selten vor, dass die Kinder eine Einführung ins Spiel bräuchten. «Ich denke, die Nutzung des iPads fordert das Zusammenspiel und den Zusammenhalt zwischen den Kindern. Sie müssen lernen, einander für eine Aufgabe Zeit zu geben und gemeinsam auf eine Lösung zu kommen», erläutert sie, während sie auf ihrem iPhone die Uhrzeit kontrolliert.

Die aufgestellte Erzieherin arbeitet seit einem Jahr im Kindergarten «Hündli 1», ist in ihren Mittzwanzigern und lacht viel. Die Kinder rennen während der Spielzeit euphorisch zu ihr her, zeigen ihr bunte Zeichnungen oder erzählen ihr stolz von eben gebauten Holzpalästen.

Es war kein Zufall, dass René Kappeler, IT-Verantwortlicher der Schule Adliswil und Initiant des Versuches «iPad im Kindergarten» Barbara Baumann als eine von drei Kindergärtnerinnen für sein Projekt aussuchte. Sie ist selber im Zeitalter der Digitalisierung aufgewachsen und dementsprechend mediengewandt. Seit Beginn des Frühlingssemesters 2011 nutzen drei Adliswiler Vorschulen die iPads zum Spielen und Lernen. Der Organisator René Kappeler rief das Projekt ins Leben, weil «ein altersgerechter Umgang mit digitalen Medien» für ihn zur Erziehung gehöre.

Spiele- oder Lernapps werden auf dem iPad verwendet.
Meistens beschäftigen sich die Kinder mit Spiel-Apps. Die älteren Vorschulkinder nutzen auch Lernprogramme.

Das iPad im Kindergarten warf in den Medien Fragen auf

Das Thema wurde in den Medien oft aufgegriffen. Journalisten und Medienexperten fragten gleichermassen empört: Gehört ein iPad wirklich in die Hände von Kleinkindern? Das Echo war alles andere als nur positiv. Besorgte Eltern, selber Internet-User und rege Nutzer der Kommentarfunktion von Online-Medien, verurteilten das Projekt. Kinder im Vorschulalter sollten Bilderbücher anschauen, malen und im Wald spielen – nicht auf einem iPad rumtippen.

«Mit dem iPad-Projekt wollen wir keine Aktivitäten in der Natur ersetzen, nur ergänzen», erklärt Claudia Fischer, Medienpädagogin an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Fischer startete ebenfalls im Frühjahr das Pilot-Projekt «my-pad – mobiles und kooperatives Lernen im Unterricht». Jeweils zehn iPads und ausgearbeitete Unterrichtsideen werden sechs Primarschulklassen im Kanton Aargau und Solothurn für zwei Monate zur Verfügung gestellt. Mit diesem Pilotprojekt möchte die Medienexpertin ein pädagogisch-didaktisches Konzept für die Nutzung von «Tablets» im Unterricht an Schweizer Primarschulen entwickeln. Die iPads werden als Lernwerkzeuge eingesetzt, zum Beispiel um Informationen zu recherchieren, untereinander zu kommunizieren und um Ergebnisse und Referate zu präsentieren.

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«my-pad.ch» geht bald in die zweite Runde und wird weitere Primarschulklassen und neu auch Kindergärten miteinbeziehen. Claudia Fischer kennt das Adliswiler Projekt von René Kappeler und kann für ihr Projekt von der abwechslungsreichen Liste an Lern- und Spielprogrammen, die von Kappeler zusammengestellt wurde, profitieren. Beide Projekte sind unabhängig voneinander entstanden.

Die ersten Handgriffe muss die Erzieherin erklären.

Gemeinsam erlernen die Kinder die wichtigsten Handgriffe auf dem iPad.

«Kinder treten auch schon vor dem Vorschulalter in Kontakt mit digitalen Medien. Die Eltern besitzen Smartphones, Laptops, zuletzt auch iPads oder Tablets. Wenn Eltern neue Medien benutzen, wollen die Kinder sofort mitmachen. Es ist ganz natürlich, dass die Schulen da mitreden. Medienbildung ist heute ein Auftrag der Schule, genauso wie es Deutsch und Musik sind», sagt Claudia Fischer. Tatsächlich erzählt Kindergärtnerin Barbara Baumann von 5-Jährigen, die die wichtigsten Handgriffe am iPad bereits bei Projektstart von zuhause kannten. Der aufgeweckte Nick* bestätigt dies mit seinem Einwurf: «Meine Eltern telefonieren beide mit einem iPhone. Mein Vater hat sogar selber ein iPad!» Die Frage, ob es bei ihm zuhause auch einen Computer gäbe, beantwortet Nick* mit grossen, erstaunten Augen und einem selbstverständlichen «Ja, sicher.»

Wird Barbara Baumann daraufhin gefragt, wie die Eltern der «Hündli»-Kinder auf den iPad-Plan reagierten, erwidert sie mit einer ähnlich selbstverständlichen Art: «Alle Eltern nahmen das Projekt extrem offen auf. Noch nie habe ich von Eltern negative oder misstrauische Anregungen dazu erhalten.» Wichtig sei der jungen Frau aber das richtige Mass. Ihre Klasse solle lernen, wie man sich mit neuen Medien befasst – aber auch wie man sich davon wieder loslöst, um sich anderen Aktivitäten zu widmen.

Das iPad ist im «Hündli» sehr beliebt

Seit dem Ende der Herbstferien dürfen die Kinder, die in diesem Schuljahr in den Kindergarten gekommen sind, das iPad benutzen. «Zuerst sollten sie den Kindergarten ohne iPad kennenlernen – es gibt auch so in den ersten Wochen schon genug zu entdecken», so Baumann. Die Kinder dürfen immer zu zweit für 20 Minuten das iPad benutzen. Die Zeit wird mit einer Sanduhr gemessen. Es werde vor allem gespielt, die älteren Kinder können aber auch mit «Lern-Apps» das Schreiben von Buchstaben oder das Zählen üben. «Es passiert ab und zu, dass die Sanduhr aufs Mal quer liegt und der «Countdown» stillsteht, wenn ich kurz wegschaue. Ob das reiner Zufall ist?», sagt die junge Kindergärtnerin lachend. Maria* und Nathalie* machen aber nach abgelaufener Spielzeit keine Schwierigkeiten. Sie übergeben das iPad an Anna* und Nick* und besprechen gemeinsam, was sie als nächstes unternehmen werden. Sie gehen zum Maltisch.

Kinder müssen Rücksicht auf einander nehmen.Kinder müssen Rücksicht auf einander nehmen.
Nicht alle Kinder sind gleich schnell auf dem iPad - sie müssen auf einander Rücksicht nehmen.

Kaum sind die Mädchen verschwunden, geht Nick*, der das iPad schon von zuhause kennt, eifrig ans Spielen und kommt viel schneller zurecht als seine Partnerin Anna*. Barbara Baumann macht den aktiven Jungen darauf aufmerksam, dass er auf Anna* Rücksicht nehmen muss. Nick* behält den Blick auf den Bildschirm, scheint seiner Erzieherin nicht richtig zugehört zu haben, schiebt den Bildschirm aber trotzdem etwas zu Anna* herüber. Sie darf nach wenigen Minuten das nächste Spiel aussuchen. Ob es bei der iPad-Nutzung im Kindergarten auch Nachteile gäbe? «Man muss das iPad richtig nutzen. Das heisst nur im begrenzten Zeitrahmen und wenn genug Abwechslung ins Spiel kommt. Wenn wir in den Wald gehen oder in die Turnhalle, haben wir kaum Zeit für das iPad – und das ist auch gut so. Wenn man ein gesundes Mass beibehält, sehe ich bei der Nutzung von digitalen Medien im Kindergarten keine Nachteile», antwortet Barbara Baumann.

Wird das iPad im Kindergarten bald schon zum Alltag gehören? Claudia Fischer von der FHNW sagt: «Vor zehn Jahren hätte auch keiner gedacht, dass Laptops in Klassenzimmern zum Alltag gehören würden. Das Tablet wird die gleiche Entwicklung durchlaufen und schon in ein paar Jahren als selbstverständliches Lehr- und Lernwerkzeug genutzt werden. Persönlich denke ich aber, dass beispielsweise Buntstifte, Bücher und kleine Brettspiele nie vom Kindergartenalltag verschwinden werden. Die kleinen Oasen, in die Kinder abtauchen und ein Bilderbuch betrachten, werden kaum durch ein digitales Medium ersetzt werden können.»

*Namen von der Redaktion geändert.

Weiterführende Links zum Thema iPad im Kindergarten

  • Das Projekt von Claudia Fischer der FHNW lernen Sie hier kennen: my-pad.ch
  • Den Blog von René Kappeler, IT-Verantwortlicher Adliswils, lesen Sie hier: edu-ict.zh
  • Den Medienratgeber für Eltern von Swisscom finden Sie unter diesem Link: swisscom.ch

 

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