Mama ist magersüchtig: «Wie kann ich meinem Kind ein gesundes Körpergefühl vermitteln, wenn ich selbst keines habe?»
Anna leidet seit der frühen Jugend unter Magersucht. Ihre zweijährige Tochter will sie zu einem gesunden Essverhalten erziehen. Für Anna eine grosse Herausforderung mit vielen ungelösten Fragen. Sie erzählt uns, wie sie mit dieser Herausforderung lebt und gemeinsam machen wir uns auf die Suche nach Antworten. Weiterhelfen kann am Ende Dr. Charlotte Wunsch PhD vom Zentrum für Menschen mit Essstörungen in Zürich.
Das Thema Kinderernährung ist für viele Eltern eine Herausforderung – vor allem, wenn das Kind nur Nudeln essen will oder zum dritten Mal am Tag nach Glace fragt. «Isst mein Kind genug? Oder isst es zu wenig? Bekommt es genügend Vitamine und Mineralstoffe? Gewöhnt es sich zu früh an Süssigkeiten?» Solche Fragen beschäftigen alle Eltern, nicht nur die mit einem Picky Eater. Für Eltern, die dazu noch eine Essstörung haben, sind sie aber besonders belastend und schwer zu beantworten. So wie für die 37-jährige Anna (Name von der Redaktion geändert).
Anna leidet seit mehr als 20 Jahren unter Magersucht. Erst ihre Tochter (2 Jahre) bringt sie dazu, sich der Krankheit aktiv entgegenzustellen. Vor ihr liegt noch ein langer und vermutlich beschwerlicher Weg... Sie erzählt uns hier ihre Geschichte:
Druck und wenig Freizeit prägten Annas Jugend, in der sie Langstreckenlauf als Leistungssport betrieb. «Für den Erfolg war es wichtig, auf das Gewicht zu achten», berichtet sie. Der Grossteil der Gedanken des Tages drehte sich daher schon früh um Kalorien – Gedanken, die sich im Laufe der Jahre verselbstständigten. Dass der Sport Stress macht, der den Hunger unterdrückt, begünstigte die Entstehung einer heimtückischen Krankheit: Magersucht. Ein Umfeld, das sie auffängt, fehlte.
Die Gedanken kreisen stetig um das Thema Essen
Als Anna den Leistungssport aufgibt, ins Ausland geht und später ein Studium beginnt, bleibt ihr die Krankheit. Immer kreisen die Gedanken um das Essen – mit dem Ziel, noch mehr Gewicht zu verlieren. Das Gewicht schwindet. Es ist eine Studienkollegin, die schliesslich hilft und Anna zu einer Therapeutin bringt. Anna wird sofort stationär aufgenommen.
Zum Glück stabilisiert sich in der Klinik das Gewicht, bleibt aber niedrig. «Doch wenn danach Unterstützung fehlt, kommt man aus dem Gedankenkarussell letztendlich nicht heraus», sagt Anna. Eine der Folgen: 17 Jahre lang kein Eisprung.
Nur nicht zuviel zunehmen während der Schwangerschaft!
Angst vor der Schwangerschaft
Anna und ihr Partner nutzen alle Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin, um ein Kind zu bekommen. Erfolglos. Vielleicht auch deshalb, weil Anna mit dem Gedanken hadert, schwanger zu werden. Wie wird sich ihre Krankheit auf die Schwangerschaft auswirken – und eine Schwangerschaft auf die Krankheit? Erst als das Paar die Reproduktionsmedizin aufgibt, wird Anna schwanger.
Zwar kreisen Annas Gedanken während der Schwangerschaft weniger um die Themen Essen und Bewegung, denn die Krankheit scheint ein Stück weit heruntergefahren zu sein. Dennoch gibt es auch jetzt die Gedanken, die darauf abzielen, nicht zu viel zunehmen zu wollen. Anna lässt die Gewichtskontrollen bei den frauenärztlichen Kontrolluntersuchungen aus – aus Angst, die Zahl auf der Waage könnte zu hoch sein.
Es war eine Zeit der Zerrissenheit zwischen Sorge um die fetale Entwicklung und der Angst um die eigene Gewichtszunahme.
Mal ein Eis oder einen Bissen Kuchen – wie andere Schwangere es geniessen – gönnt sie sich nicht: «Es war eine Zeit der Zerrissenheit zwischen Sorge um die fetale Entwicklung und der Angst um die eigene Gewichtszunahme», berichtet sie heute.
Zum Glück kommt das Kind zwar etwas früh, aber gesund zur Welt. Und noch schwächen die Schwangerschaftshormone die Symptomatik von Annas Krankheit ab. Doch mit dem Abstillen sind alle Probleme, alle althergebrachten Denkmuster, in ihrer früheren Intensität wieder da. Trotzdem kann Anna den Alltag bewältigen. Sie kann auch darauf achten, ausreichend zu essen, zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Das aber kostet sie viel Kraft - genauso, für die Tochter regelmässig Mahlzeiten zuzubereiten.
Das Umfeld verunsichert weiter
Darüber hinaus quälen Anna genau auch die Fragen, die auch andere Eltern beschäftigen: Ist mein Kind zu dünn, wird es zu dick? Fragen, die für Anna weitaus schwieriger zu beantworten sind. Denn sie kann schlecht unterscheiden, wie genau sie bei ihrer Tochter die Regeln der gesunden Ernährung einhalten soll – und inwieweit sie auch mal Fünfe gerade lassen kann. Bittet sie zum Beispiel Betreuungspersonen, dem Kind keinen Saft zu geben, weil sie es besser findet, wenn Kinder Wasser trinken, bekommt sie mitunter die Antwort: «Jetzt fang nicht schon mit der Kleinen an.» Verunsicherung ist die Folge.
Körperkontakt fällt schwer
Auch kostet es Anna bei aller Liebe, die sie für ihre Tochter hat, viel Energie, ihr die körperliche Nähe zu geben, die sie braucht. «Trotz des Wissens, dass das Kind meinen Körper wertfrei annimmt, so wie es sich keine Gedanken um sein Aussehen macht, ist jede Berührung seinerseits wie ein Hinweis auf die Unzulänglichkeit meines Körpers», berichtet sie. Ihre Sorge, das Kind könne ihr Unwohlsein bei Körperkontakt bemerken, belastet Anna sehr.
Wie kann ich meinem Kind sagen, du siehst toll aus, wenn ich selbst etwas anderes vorlebe?
«Heute reflektiert meine Tochter noch nicht, warum sie eine Mahlzeit zu sich nimmt, ich aber nur daneben sitze und nichts esse», erzählt Anna. «Oder warum ich ihr einen Löffel in den Mund stecke, sie das umgekehrt bei mir aber nicht darf.» Das aber kann sich bald ändern. Anna möchte dann mit offener Ehrlichkeit agieren und reagieren. Doch sie fragt sich auch: Wie kann ich meinem Kind sagen, du siehst toll aus – egal wieviel du wiegst –, wenn ich selbst etwas anderes vorlebe? Was Anna braucht, sind Antworten, wie sie – und zu ihr gehört auch ihre Krankheit – ihrer Tochter so viel Stärke wie möglich schenken kann.
Nachgefragt: Tipps für Eltern mit Essstörung
Was sind die grössten Herausforderungen und wie können Eltern mit einer Essstörung diesen begegnen? Wir haben Dr. Charlotte Wunsch PhD vom Zentrum für Menschen mit Essstörungen in Zürich um Rat gefragt.
Eltern mit Essstörung wissen einerseits viel über gesunde Ernährung, andererseits schauen sie aber auch durch die Brille der Essstörung kritisch auf das Kind: Wird es zu dick? Ist es zu dünn? Wie können Betroffene einen gesunden Massstab finden?
Charlotte Wunsch: Wer unter einer Essstörung leidet, isst mit dem Kopf. Kinder dagegen essen mit Intuition. In meinem beruflichen Alltag erlebe ich, dass Betroffene ihr Kind beim Essen kontrollieren und ihm die Intuition absprechen. Darüber hinaus fällt es ihnen schwer, ihrem Kind regelmässig Mahlzeiten anzubieten. Das aber ist wichtig. Kinder brauchen Frühstück, Znüni, Mittagessen, Zvieri und Abendessen. Ein hilfreicher Weg ist, dem Kind jeweils ausgewogen verschiedene Lebensmittel anzubieten. Davon darf das Kind so viel und auch so einseitig essen wie es mag – und es darf aufhören, wenn es meint, aufhören zu wollen.
Kinder lernen durch Nachahmung – auch beim Essen. Was können Mütter tun, die dieses Vorbild nicht leisten können, aber dennoch gutes Vorbild sein wollen?
Kinder lernen durch das Beobachten ihrer Eltern. Was die Eltern machen, wird zu ihrer Normalität. Ein Elternteil mit Essstörung kann daher kein gutes Vorbild für sein Kind sein. Der einzige Weg, dies zu werden, besteht darin, sich behandeln zu lassen – mit dem Ziel, aus der Essstörung herauszukommen. Je früher eine Therapie einsetzt, umso erfolgversprechender ist sie. Ich wünsche in der Therapie allen, dass sie wieder lernen, intuitiv und mit Lust und Genuss zu essen. Nicht alle schaffen das. Doch eine vom Kopf kontrollierte Dauerdiät ist auch schon ein grosser Schritt in diese Richtung.
Sollten Eltern, die eine Essstörung haben, mit ihren Kindern das Problem ihrer Erkrankung besprechen?
Sicher ist es sinnvoll, dem Kind gegenüber offen mit der eigenen Essstörung umzugehen, um Vertrauen und Verstehen zu fördern. Dass das Kind selbst womöglich eine Essstörung entwickelt, lässt sich dadurch aber nicht verhindern. Denn bis es in der Lage ist, mit den Eltern über deren Essgewohnheiten zu sprechen, hat es womöglich längst diese abgeschaut und verinnerlicht. In meinem Berufsalltag beobachte ich immer wieder, dass betroffenen Frauen Mütter mit einer Essstörung haben – oder umgekehrt ein Kind haben, das eine Essstörung entwickelt.
Zur Person: Dr. Charlotte Wunsch PhD ist eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin FSP, Fachpsychologin für klinische Psychologie FSP, Gestalttherapeutin IGW. Vor 25 Jahren hat sie das Zentrum für Menschen mit Essstörungen mitbegründet. Es bietet individuelle humanistische Therapien an, die zu individuellem Gesundwerden führen. Die Stärke des Zentrums liegt darin, langjährige stabile Therapiebeziehungen anbieten zu können.