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«Ich unterstütze die Würde des Kindes» Interview mit einer Kinderanwältin

Alexandra Gavriilidis ist Kinderanwältin. Sie wird gerufen, wenn Eltern die Interessen ihres Kindes nicht vertreten können. Ihr Beruf ist noch kaum bekannt, obwohl Kinder in vielen Fällen das Recht haben, gehört zu werden. Beispielsweise bei einem Sorgerechtsstreit.

Kinderanw‰ltin Alexandra Gavriilidis im Interview mit Familienleben.
Kinderanwältin Alexandra Gavriilidis im Gespräch mit Familienleben. Bild: Anouk Holthuizen


Frau Gavriilidis, warum sind Sie Kinderanwältin geworden?

Ich finde es wichtig, dass sich ein Kind in rechtliche Verfahren, die sein Leben betreffen, einbringen kann. Dabei kommt sicher manchmal eine bessere und eine schlechtere Lösung heraus, aber dass ich dem Kind helfen darf, sein Meinungsäusserungs- und Gehörsrecht wahrzunehmen und dabei seine Würde unterstützen kann, ist für mich sehr befriedigend.

Was sind typische Fälle für die Kinderanwälte?

Es sind einerseits Gefährdungssituationen, wie häusliche Gewalt oder Suchtkrankheiten, andererseits aber auch Obhuts- und Sorgerechtsstreitigkeiten. Auch bei innerfamiliären Straftaten wie sexuelle Übergriffe werden Kinderanwälte herangezogen, oder wenn Jugendliche beispielsweise von Cybermobbing betroffen sind.

Zur Person

Alexandra Gavriilidis (46) ist Rechtsanwältin, Mediatorin und zertifizierte Kinderanwältin in Winterthur und Baden. Seit 2017 arbeitet sie als Kinderanwältin und vertritt Kinder in Kinderschutzfällen, Sorgerechtsstreitigkeiten oder als Opfer in Strafrechtsfällen. Weitere Informationen.

Können Sie mir einen konkreten Fall schildern?

Eine Jugendliche lief von zuhause weg und suchte Zuflucht in einem Mädchenhaus. Die Eltern fanden, dass es zuhause gut für sie ist, das Kind wollte aber nicht mehr heim. Da Eltern und Kind völlig entgegengesetzte Meinungen hatten, ordnete die Kesb eine Kindsvertretung durch einen Kinderanwalt an. Es wurde vorläufig, ohne Anhörung der Eltern, eine fürsorgerische Unterbringung verfügt und ich hatte im weiteren Kesb-Verfahren die Aufgabe, den Willen der Jugendlichen betreffend ihres künftigen Aufenthaltsorts einzubringen.

Was braucht eine Kinderanwältin im Gegensatz zum Erwachsenenanwalt?

Kinderanwälte sind zusätzlich entwicklungspsychologisch geschult, um alle Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen und die Komplexität des Prozesses auf Augenhöhe zu erklären. Kinderanwälte sind das Bindeglied für das Kind zwischen allen Beteiligten. Sie geben dem Kind Orientierung: Was heisst Kesb, was macht ein Beistand? Welche Institution hat welche Rolle?

«Auch ein manipulierter Wille ist ein Wille»

Ihre Klienten sind unterschiedlichen Alters. Wie gehen Sie vor?

Ältere Kinder kommen eher mal ins Büro, jüngere Kinder besuche ich in der Regel zuhause. Zum Beispiel bei Betreuungsstreitigkeiten möchte ich die Kinder daheim bei der Mutter und auch beim Vater erleben. So sehe ich, wie sich das Kind verhält und wie es mit seinen Eltern interagiert. Das ist gerade bei kleinen Kindern sehr wichtig, denn sie können verbal nicht alles ausdrücken.

Warum ist die Beobachtung des Kindes in seinem sozialen Umfeld relevant für Ihre Arbeit?

Man ist einerseits klar Anwältin, vertritt eine Partei. Aber ein Kind oder Jugendlicher ist in hohem Mass abhängig von seinen Bezugspersonen. Ich führe daher auch Gespräche mit den Eltern und dem Beistand. Kinder wechseln häufig ihre Meinung. Ich muss erkennen können: Ist das jetzt eine Momentaufnahme, eine Laune, oder ein gefestigter Kinderwille?

Wie können Sie sicherstellen, dass ein Kind bei seinen Aussagen, etwa bei einem Sorgerechtsstreit, nicht durch einen Elternteil manipuliert wird?

Auch ein manipulierter Wille ist ein Wille. Als Kind und Jugendlicher merkt man das oft nicht, erst viel später, vielleicht mit 40 in einer Psychotherapie. Da muss ich Anwältin bleiben und das Partizipationsrecht des Kindes wahrnehmen. Niemand ist frei von Beeinflussung, auch Erwachsene nicht.

Zur Geschichte: Warum sind Kinderanwälte ein Recht junges Phänomen?

Um für alle Kinder gleiche Rechte zu schaffen, verabschiedete die UNO 1989 die Kinderrechtskonvention (KRK), die 1997 auch von der Schweiz ratifiziert wurde. Sie umfasst das Recht zu Leben, das Recht auf Schutz und das Recht auf Entwicklung - und basiert nicht zuletzt auf dem Prinzip der Anhörung von Kindern. Dieses Mitspracherecht schuf die Grundlage für die immer häufiger angefragte Arbeit von Kinderanwälten wie Alexandra Gavriilidis.
 

Wie begegnen Eltern Ihnen? Dass ihr Kind einen eigenen Anwalt braucht, muss Versagensgefühle auslösen.

Sie haben oft zwiespältige Gefühle. Ich muss ihr Vertrauen gewinnen oder zumindest für sie nachvollziehbar machen, weshalb ich eingesetzt wurde. Denn auch das Kind hat zwiespältige Gefühle, es will ja seinen Eltern gegenüber loyal bleiben. Ich muss dem Kind und den Eltern vermitteln können, dass ich dem Kind helfe, seine geäusserten Bedürfnisse bestmöglich zum Tragen zu bringen.

 

Kleine Kinder kˆnnen Ihre W¸nsche oft noch nicht verbal ausdr¸cken. Eine Kinderanw‰ltin versucht Ihre Bed¸rfnisse herauszufinden.
Kleine Kinder können Ihre Wünsche oft nicht verbal ausdrücken. Bild: Pixabay



Wie reagieren die Kinder auf Sie?

Jugendliche sind eher wortkarg. Sie sind vorsichtig, testen mich manchmal. Zum Beispiel fragen sie «Sind Sie überhaupt für mich?». Da muss ich meine Rolle genau erklären, nämlich dass ich keinen Einfluss auf den Gerichtsentscheid habe, sondern ihre Fürsprecherin bin. Ich kläre die Kinder auch über die Vor- und Nachteile auf, wenn sein Wille so oder so umgesetzt würde, und diskutiere Alternativen. Ich bespreche mit ihnen aber auch die möglichen Szenarien: Was wäre wenn die Kesb so und so entscheidet?

Wie alt war Ihr jüngster Klient?

Es könnten auch Säuglinge sein. Wenn Eltern die Aufsichtspflicht nicht wahrnehmen können, weil sie beispielsweise suchtkrank sind und die Kesb eine Fremdplatzierung ins Auge fasst. Mein bislang jüngster Klient war neun. Ich vertrat ihn als Opfer in einem Strafverfahren, in dem sein Vater der Beschuldigte war.

«Ich orientiere mich klar am Willen des Kindes. Die Kindeswohlabklärung ist nicht meine Aufgabe.»

Was ist in einem solchen Fall das Interesse des Kindes?

Die Interessen der betroffenen Kinder sind nicht immer gleich. Das Interesse muss ich als Kinderanwältin in jedem einzelnen Fall immer wieder neu herausfinden. Für das eine Kind ist ein Gerichtsurteil sehr wichtig. Für ein anderes ist ein Strafverfahren zu belastend und es genügt ihm, wenn man seinen Aussagen glaubt und die Übergriffe aufhören. Für letzteres stelle ich Anträge auf mit dem Kind abgesprochene Kindesschutzmassnahmen.

Was machen Sie, wenn der Kindswille dem Kindswohl widerspricht? Kinder lieben den gewaltausübenden Elternteil trotzdem und wollen unter Umständen weiterhin bei ihm sein.

Da müssen wir dem Kind erklären, dass man es von Gesetzes wegen schützen muss. Damit es nicht mehr passiert, dass der Vater es weiterhin schlägt. Ich sage dem Kind aber auch, dass ich verstehe, dass es seinen Vater trotzdem gern hat. Dann überlege ich gemeinsam mit dem Kind, wie es seinen Vater sehen könnte und trotzdem geschützt wäre, zum Beispiel mit einem begleiteten Besuchsrecht. Ich orientiere mich klar am Willen des Kindes. Die Kindeswohlabklärung ist nicht meine Aufgabe.
 
Sexuelle Übergriffe und Gewalt finden in der Regel innerhalb Familien statt. Nicht nur das Kind ist in einem Loyalitätskonflikt, sondern oft auch die Mutter.

Darum bekommt das Kind in solchen Fällen einen eigenen Anwalt, der es gesetzlich vertritt. Wenn der Nachbar eine Tat verübt, sind die Eltern die gesetzlichen Vertreter der Kinder.

«Wenn ein Verfahren abgeschlossen ist, endet auch der Auftrag des Kinderanwalts.»

Sexualstraftaten gehören sicher zu den schwierigsten Prozessen.

In solchen Fällen muss ich das Kind aufklären, dass es als Zeuge einvernommen wird und die Aussage auch verweigern darf. Wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellt, erkläre ich dem Kind, dass das nicht unbedingt heisst, dass man ihm nicht glaubt. Auch frage ich das Kind, ob es selbst Rechtsmittel ergreifen möchte und es zu einer Anklage kommen lassen will. In so einem Zusammenhang muss ich ihm auch den Grundsatz in dubio pro reo erklären. Denn oft sind es ja Vier-Augen-Delikte mit Aussagen des Kindes, die der Beschuldigte oft ganz oder teilweise bestreitet.

Entsteht da nicht eine starke Bindung zu den Kindern? Sie haben selbst einen 11-jährigen Sohn und eine 13-jährige Tochter.

Das geht mir oft schon nahe. Aber natürlich braucht es eine professionelle Distanz. Wenn ein Verfahren abgeschlossen ist, endet auch der Auftrag des Kinderanwalts. Deshalb ist es ganz wichtig, dass ich ein Abschlussgespräch mit dem Kind habe., Dabei erkläre ich dem Kind, warum meine Arbeit jetzt fertig ist und wer das so entschieden hat. Und ich informieren das Kind, wo es sich hinwenden kann, wenn wieder mal eine schwierige Situation entsteht.

Hat Ihre Arbeit auch Ihren privaten Familienalltag beeinflusst? Gab es Situationen, in denen Sie merkten, dass nun die Kinderanwältin in Ihnen spricht?

Meine Tochter sagte letztens «Mama, tu jetzt nicht so kinderanwaltsmässig!» Ich denke schon, dass ich mich mehr zurücknehme und besser zuhöre, bevor ich selbst meine Lösungen auftische. Ein partizipativer Erziehungsstil war für mich aber immer schon wichtig. Das Autoritäre liegt mir nicht.

Die wichtigsten Fragen zur Kinder- und Jugendanwaltschaft

Wer kann einen Kinderanwalt bestellen?
Grundsätzlich die Kinder selbst, wenn sie urteilsfähig sind. Häufiger sind es aber noch die Gerichte oder Behörden, wie beispielsweise die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb).

Wer trägt die Kosten für einen Kinderanwalt?
Das Honorar des Kinderanwalts wird über das Recht auf unentgeltlichen Rechtsbeistand grundsätzlich vom Staat bezahlt. Die Kosten können aber von den Eltern zurückgefordert werden, wenn sie es sich wirtschaftlich leisten können.

Woran erkennt man einen guten Kinderanwalt?
Nicht zwingend sind Kinderanwälte Juristen, sondern sie sind Fachpersonen, die Kinder in einem behördlichen oder gerichtlichen Verfahren vertreten. Deshalb werden Sie auch Kinderverfahrensvertreter genannt. Kinderanwälte sollten aber über ein Hochschulstudium und juristisch relevante Zusatzqualifikationen verfügen und sozialpädagogisch oder entwicklungspsychologisch geschult sein. Die Kinderanwaltschaft Schweiz stellt beispielsweise Zertifikate aus, an denen Sie eine gute Kinderanwältin oder einen guten Kinderanwalt erkennen können.

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