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ADHS-Therapie: «Der wichtigste Grund für Medikamente ist der Leidensdruck»

Die Therapiemöglichkeiten bei ADHS sind vielfältig und setzen am besten ganzheitlich an. Dabei kann auch eine medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka wie Ritalin sinnvoll sein, trotz bekannter Nebenwirkungen, sagt ADHS-Experte Domink Robin.

Medikamente bei ADHS sind kein Happy Meal. Warum sich Eltern trotz Risiken manchmal für Pschopharmake entscheiden und wie eine gute ADHS-Therapie aussieht.
Medikamente bei ADHS sind kein Happy Meal. Die Nebenwirkungen können beträchtlich sein. Bild: iStock

Heute weiss man, ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, ist genetisch bedingt. Der Krankheitsverlauf ist aber vielfältig, weil er von vielen Einflussfaktoren abhängig ist. Insofern gibt es auch nicht die eine ADHS-Therapie, die allen Kindern hilft, sondern jede ADHS-Diagnose erfordert eine individuelle Behandlung. Die meisten Eltern wünschen sich dabei eine Therapie ohne Medikamente.

Warum sie trotzdem in manchen Fällen begründet ist, welche Therapieformen es überhaupt gibt und warum eine gute Behandlung das Umfeld miteinbezieht erklärt Gesundheitsforscher Dominik Robin von der ZHAW. Robin beschäftigt sich seit vielen Jahren in verschiedenen Forschungsprojekte mit dem Thema ADHS. Unter anderem hat er untersucht, warum sich Eltern für eine medikamentöse Behandlung der ADHS ihrer Kinder entscheiden, obwohl sie starke Nebenwirkungen haben können. 

Herr Robin, ein Arzt hat bei einem Kind ADHS diagnostiziert. Ist jetzt in jedem Fall eine Therapie sinnvoll?

Wenn das Kind in der Schule und/oder zu Hause leidet und womöglich von Mitschülern ausgegrenzt wird, ist es wichtig gegenzusteuern. Voraussetzung dafür, ist aber auch eine Bereitschaft zur Therapie. 

Wo setzt die ADHS-Therapie an?

Die Störung ADHS wird oftmals als Defizit im Neurotransmitter-Haushalt beschrieben. Eigentlich ist sie aber viel komplizierter, denn es kommen individuelle, soziale, schulische und gesellschaftliche Faktoren dazu. Die Neigung zu ADHS ist zwar vererbbar, doch ob aus dieser Neigung auch ADHS wird, hängt von Umweltbedingungen ab. Das heisst kein ADHS-Fall ist wie der andere. Er wird immer bestimmt vom Charakter des Kindes und seinem Umfeld –die Therapie wird deshalb auch darauf ausgerichtet. Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern in die Therapie durch Gespräche miteinzubeziehen. Manchmal kann auch eine Familientherapie sinnvoll sein.

Zwischen welchen Möglichkeiten der ADHS-Behandlung kann der Arzt wählen?

Ein wesentlicher Pfeiler der Behandlung ist die psychiatrische Gesprächstherapie. Jüngeren Kindern kann eine Maltherapie helfen, ihrem emotionalem Erleben Ausdruck zu geben. Auch Ergotherapie, die vor allem die Handlungsfähigkeit der Kinder unterstützen soll, und andere psychomotorische Förderungen können sehr hilfreich sein. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von alternativen Therapien. In einem Grossteil der Fälle werden darüber hinaus Medikamente verordnet. Sie enthalten in der Regel den Wirkstoff Methylphenidat. Er wirkt im Bereich der Nervenenden und beeinflusst die Aktivität von Dopamin und Noradrenalin. Das bekannteste Medikament mit diesem Wirkstoff ist Ritalin.

Nach welchen Kriterien wählt der Arzt die Behandlungsmethode?

Das kommt auf die Schwere der Störung an. Bei einem leichten ADHS-Fall kann zum Beispiel schon ein Sportangebot helfen, dem Kind nötigen Ausgleich zu bieten. Ist die Störung stärker ausgeprägt, können Medikamente hilfreich oder gar notwendig sein. Hier lassen sich die Dosierung und die Art des Medikaments variieren. Der Einsatz von Psychopharmaka sollte aber immer auch von einer anderen Therapie, zum Beispiel einer psychologischen Betreuung, begleitet werden.

Sind Psychopharmaka nicht schädlich?

In einer Zürcher Studie tauchten bei knapp 90 Prozent der Kinder, die pharmakologisch behandelt wurden, Nebenwirkungen wie Appetitrückgang und Schlafstörungen auf. Zu möglichen Nebenwirkungen können auch Hungerattacken, Bauchschmerzen, Schwindel und Kopfschmerzen gehören. Deshalb ist es sehr wichtig, mit dem Arzt Kontakt zu halten und die Medikation nach drei bis sechs Monaten erneut zu besprechen. 

Warum stimmen Eltern trotz Nebenwirkungen zu, das Kind mit Medikamenten behandeln zu lassen?

Die Eltern entscheiden sich nicht vorschnell für Medikamente. Meist haben sie bereits lange Behandlungswege hinter sich und schon andere Therapieformen ausprobiert. Der wichtigste Entscheidungsgrund für eine medikamentöse Behandlung ist aus Elternsicht der Leidensdruck der Kinder, der sich in körperlichen, psychischen und sozialen Auffälligkeiten äussert. Der Leidensdruck entsteht zunächst im schulischen Umfeld, weitet sich dann aber auf die Familie aus. Dieser Mechanismus lässt sich als ein «Hinüberschwappen» bezeichnen – es besteht eine gegenseitige, negative Einwirkung. Trotzdem tun sich Eltern nicht leicht, einer Behandlung mit Psychopharmaka zuzustimmen. Eltern müssen den Nutzen der Behandlung, zum Beispiel Leistungssteigerung in der Schule, mit den Risiken abwägen. Dabei stehen sie oft unter Druck, weil ihr Umfeld aufgrund des auffälligen Verhaltens der Kinder ihre Erziehung in Frage stellt. 

Wie schnell tritt durch eine Therapie Besserung ein?

ADHS ist eine Herausforderung für Familien. Zu wissen, welche Ursache die Unruhe und die Unaufmerksamkeit haben, kann aber schnell zu einer ersten Entspannung führen. Wenn ein Kind medikamentös behandelt wird, wird die gesamte Organisation des Alltags leichter, denn der Bewegungsdrang des betroffenen Kindes wird sofort spürbar vermindert und die Konzentrationsfähigkeit erhöht. Dosis und Medikament müssen aber immer wieder reguliert und überprüft werden. 

Was können Eltern neben der Therapie tun, um ihrem Kind zu helfen?

Eltern von einem Kind mit ADHS sind im Alltag stark gefordert. Sie haben daher wenig Zeit. Sich trotzdem über die Störung intensiv zu informieren, ist sehr hilfreich. Die ADHS-Organisation elpos unterstützt Eltern mit Beratung, Vorträgen, Kursen, Broschüren, Büchern und  Adressen von Selbsthilfegruppen. Darüber hinaus ist es wichtig, dem Kind zuzuhören, seine Gefühle und Sorgen nachzuvollziehen. Familienberatungsstellen helfen, schwierige Probleme in der Familie oder der Schule zu lösen.

Wieso eine gute ADHS-Therapie das Umfeld miteinbezieht

In einem Aufsatz von 2016 für die medizinische Fachzeitschrift Peadiatrica wies der Leiter der Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich O. Jenni darauf hin, dass eine erfolgreiche ADHS-Therapie auch immer eine Verhaltensänderung des Umfelds des betroffenen Kindes miteinschliessen sollte. Das «Passungsmodell» der amerikanischen Kinderpsychiater Alexander Thomas und Stella Chess konnte zufolge Jenni zeigen,«dass Kinder besonders dann Verhaltungsstörungen entwickeln, wenn ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten und Eigenarten nicht mit den Verhaltensweisen und Vorstellungen ihrer Umwelt zusammenpassen.»
Statt störende Krankheitssymptome mit Medikamenten einfach abzuschalten, gelte es deshalb bei einer ADHS-Behandlung auch die Vorstellungen, die sich Eltern und Lehrer vom Kind machen sowie Erwartungen, die an das Kind gestellt werden zu hinterfragen und an die tatsächliche Persönlichkeit, Talente und Defizite des Kindes anzupassen.

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