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Hyperaktive Kinder: «Ein Waldspaziergang bringt genauso viel wie eine Ritalinpille»

Diagnose ADHS, Behandlung Ritalin. Kann ein Kind, das hyperaktiv ist, nur medikamentös behandelt werden? Helmut Schreier, emeritierter Professor für Hochschulpädagogik schlägt vor, die Pillen durch Waldspaziergänge zu ersetzen. In seinem Buch «Krise der Kindheit» erläutert er, wie die Nähe zur Natur Kindern, die hyperaktiv sind, helfen kann.

Hyperaktiv: Ein Waldspaziergang hilft gleich viel wie eine Ritalinpille.
Hyperaktiv: Nach einem Waldspaziergang braucht es oft kein Ritalin mehr. Foto: Hemera, Thinkstock.

In Ihrem Buch «Krise der Kindheit» beschreiben Sie, wie man Kindern, die hyperaktiv sind, ohne Medikamente helfen kann. Was ist Ihre Alternative zu Ritalin und Co?

Ich will Eltern und Kindern ins Bewusstsein rufen, wie zugänglich, heilsam und freundlich die Natur bei uns ist. Besonders wichtig finde ich es, dass die Natur aktiv in den Erziehungsprozess miteinbezogen wird. Probleme sollten nicht nur instrumentell, zum Beispiel mit Medikamenten, behandelt werden.

Wenn wir einen besseren Zugang zur Natur hätten, würde es weniger Wohlstandskrankheiten wie ADHS oder übergewichtige Kinder geben, schreiben Sie in Ihrem Buch. Ist die Lösung des Problems wirklich so einfach?

Es gibt Studien, die das behaupten. Ich finde es auch plausibel. Diese Studien haben gezeigt, dass ein Waldspaziergang oder ein Parkspaziergang gleich viel bringt wie eine Ritalinpille, was Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit und die Fähigkeit zu fokussieren betrifft. Bei mir in Deutschland haben wir aber viel zu wenig ernsthafte Forschung in dieser Richtung. Ihre Frage, ob das so einfach ist, ist durchaus begründet. Man müsste das eingehender untersuchen, um sie klar beantworten zu können.

Viele Kinder sind hyperaktiv, weil sie bei der Geburt zu wenig Sauerstoff hatten. Das muss doch medikamentös behandelt werden.

Es gibt Untersuchungen, die das Gegenteil beweisen. Es ist auch eine wirtschaftliche Frage. Nicht nur die Pharmaindustrie, sondern auch Ärzte und Psychiater verdienen an Medikamenten viel mehr, als an psychotherapeutischen Gesprächen. Auch mir selbst fällt es schwer, dieses Wirrwarr von kommerziellen Interessen und wissenschaftlichen Untersuchungen zu durchschauen. Ich bleibe aber misstrauisch. Ist die Behandlung hyperaktiver Kinder mit Ritalin oder irgendwelchen Amphetaminen unausweichlich? Ich bin nicht sicher. Ich schliesse mich einer der führenden Medizinerinnen Amerikas, Marissa Angell, an. Sie spricht sich gegen die zunehmende Vergabe von Medikamenten aus. Sie findet es suspekt, dass wir plötzlich so viele Krankheiten haben, die die Einnahme von Medikamenten erfordern.

Was können Eltern mit Kindern, die hyperaktiv sind, tun, abgesehen von regelmässigen Waldspaziergängen? Wie sieht dieses näher zur Natur konkret aus?

Man kann wunderschöne Spaziergänge machen, man könnte die Vögel füttern und studieren. Man könnte abends mit den Kindern die Sternbilder betrachten, ihnen Sternbilder erklären. Kinder haben ein sehr aufmerksames Gespür: Wenn sie merken, dass die Eltern diese Sternbilder interessant finden, würden sie das spüren und es würde sich auf sie übertragen. Bei mir ist es so: Das Gefühl, in der Welt zu Hause zu sein, macht mein Leben reich. Das Gefühl weiterzugeben würde viel ändern. Erstens würden wir durch die Nähe zur Natur die Verlässlichkeit der Natur erfahren und Vertrauen aufbauen. Zweitens würden Kinder durch die Beziehung zu den Erwachsenen, die Verlässlichkeit von Beziehungen erfahren. Beides sind sehr knappe Ressourcen in unserer modernen Welt.

Sie schlagen als Lösung für Kinder, die hyperaktiv sind, ausserdem Waldschule und Waldkindergärten vor. Warum?

Mir ist etwas aufgefallen: Im Waldkindergarten sind die Kinder ruhig. Sie unterhalten sich völlig normal. Es ist, als ob die Situation im Wald eine natürliche Zivilisiertheit in den Kindern hervorruft. Sie arbeiten an etwas, das sie sinnvoll finden, sie graben Löcher oder schnitzen. Sie bewegen sich frei. Was mich immer wieder überrascht hat, ist, wie erwachsen diese Kinder sind.

Finden diese Kinder beim Übertritt in die obligatorische Schule den Anschluss?

Laut einer aktuellen Studie aus Deutschland, sind Kinder schon in der Grundschule sehr gestresst. Der Effekt des Waldkindergartens mag in der Vorschule abgeschmirgelt werden. Ich kann mir aber vorstellen, dass Waldkindergärten ADHS vorbeugen. Es könnte sein, dass es den Waldkindergarten-Kindern hilft, den Stress im Schulalltag besser zu verarbeiten. Es gibt aber dazu keine Studien.

Aber wie ist das mit den schulischen Leistungen? Manche Eltern haben Angst, dass ihr Kind in der obligatorischen Schule nicht mit den anderen Kindern mithalten kann.

Ja, diese Angst kann ich verstehen. Man könnte ja meinen, dass «Kinder aus dem Wald» in der Leistungsschule nicht bestehen können. Glücklicherweise gibt es aber genau darüber Studien. Die Kinder, die im Waldkindergarten waren, sind den anderen Kindern, was soziales Verhalten betrifft, überlegen und was Leistungen betrifft, vollkommen gleichwertig. Die Stärke des Waldkindergartens scheint zu sein, dass diese Kinder eine Ruhe und innere Kraft haben, die bei der Stressbewältigung hilft.

Hyperaktiv: Waldspaziergänge helfen gleich viel wie RitalinHelmut Schreier, geboren 1941 ist emeritierter Professor für Hochschulpädagogik. Er ist Autor und Co-Autor von über 30 Büchern zu den Themen Erziehungsphilosophie und Umwelterziehung. Er war Gastprofessor in den USA und Kanada und war pädagogischer Berater in afrikanischen, arabischen und asiatischen Ländern. Bei Rogner & Bernhard erschien 2004 sein Buch «Bäume. Ein Streifzug durch eine unbekannte Welt.» Voriges Jahr, im August 2012 erschien sein Buch «Krise der Kindheit. Warum wir in die Natur zurückfinden müssen», ebenfalls bei Rogner & Bernhard. Zusammengefasst beschreibt das Buch, wie wir durch die Nähe zur Natur eine bessere Lebensqualität für uns und vor allem für unsere Kinder erreichen können.
Foto: privat.

 

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