Wenn TikTok und Instagram zu Essstörungen führen
Kinder lernen von Vorbildern. In jungen Jahren sind das die Eltern. Im Jugendalter werden diese abgelöst – und teilweise durch Influencer ersetzt. Nur sind diese nicht immer die besten Vorbilder. Studien zeigen, dass Jugendliche, die viel Zeit auf Social Media verbringen, häufiger unglücklich mit dem eigenen Körper sind und eine Essstörung entwickeln. Ernährungspsychologin Ronia Schiftan zeigt im Interview auf, warum Soziale Netzwerke für Kinder gefährlich sein können und wie Eltern am besten darauf reagieren.
Das Handy ist heutzutage bei vielen immer griffbereit. Auch bei unseren Kindern. So werden diese oft zuerst auf Tik Tok oder Instagram von Influencern begrüsst, bevor sie dann mit uns am Frühstückstisch sitzen. Beim Lieblingsinfluencer gibt es dann morgens Protein-Pancakes und grüne Smoothies oder es wird gefastet. Und das erst, nachdem man das Morgentraining absolviert hat. Doch so real die Eindrücke der Content Creator scheinen, vermitteln sie auf Social Media häufig ein falsches Bild. Die Folgen sind fatal: Besonders für Kinder und Jugendliche kann dies zu einer ungesunden Einstellung zum eigenen Körper führen, weiss die Ernährungspsychologin Ronia Schiftan.
Ronia, Kinder und Jugendliche, die viel Zeit mit Sozialen Medien verbringen, entwickeln laut Studien eher eine Essstörung. Wieso haben die Plattformen einen solchen Einfluss?
In den Sozialen Medien passiert heute alles, was sonst auch im Klassenzimmer stattfindet: Identitätsbildung, soziale Vergleiche sowie Ausgrenzung. Doch dieses digitale Klassenzimmer ist viel grösser. Die soziopsychologischen Aspekte – also die Vergleiche mit anderen, das Kennenlernen von neuen Normen und Netzwerken – sind auf Social Media extrem gebündelt. Die Plattformen sind zudem sehr Bild-lastig: Sie bieten viele Vergleichsmöglichkeiten und beeinflussen so unsere Körperwahrnehmung immens.
Über Ronia Schiftan
Ronia Schiftan ist freischaffende Psychologin (MSc Angewandte Psychologie und Ernährungspsychologin ZEP) und berät Familien präventiv bei Essstörungen. Der aktuelle Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt beim Einfluss der sozialen Medien auf das Gesundheitsverhalten vor allem von Kindern und Jugendlichen.
Führt der ständige Vergleich also zu ungesunden Verhaltensweisen?
Nicht nur. Jedoch suggerieren die sozialen Medien eine falsche Nähe. Content Creator zeigen uns ihren Alltag und vermitteln so das Gefühl, sie seien wie du und ich. So wird gerade Kindern und Jugendlichen impliziert, dass sie den gleichen Erfolg haben können, wenn sie dasselbe machen. Die Influencer:innen werden zu Vorbildern, aber auch Expert:innen, die sie eigentlich nicht sind.
Inwiefern ist die vermeintliche Realität der Influencer gefährlich für Kinder und Jugendliche?
Gerade im Ernährungs- und Fitnessbereich werden oft falsche Informationen verbreitet und falsche Bilder vermittelt. Die Influencer:innen werden als Ernährungsexpert:innen wahrgenommen, weil sie gut aussehen und einen muskulösen Körper haben. Die meisten von ihnen haben aber keine entsprechende Ausbildung. Trotzdem bieten sie oft Coachings und eigene Ernährungspläne an, die nicht auf die individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen von Kindern zugeschnitten sind. Viele der geposteten Bilder entstehen zudem während einer Wettkampfsaison. Ein Körper sieht nicht immer so aus. Das ist vielen Jugendlichen nicht bewusst. Auch wenn die Content Creator gute Absichten haben mögen: Ihr Einfluss auf Kinder und Jugendliche ist enorm.
Der Druck, auch so sein zu können, wie die Menschen auf Social Media, ist teilweise enorm. Dies wird auch von diversen Studien belegt (Infobox am Ende des Artikels). Was bedeutet das für Eltern?
Jedes Kind reagiert anders auf psychische Belastungen. Ein wichtiger Indikator ist jedoch nicht die Dauer auf Social Media, sondern wie sich das Kind dabei fühlt. Das erkennt man daran, wie sich es verhält, wenn es das Handy weglegt. Wirkt es traurig, angespannt oder gar aggressiv? Wenn du bemerkst, dass dein Kind beim Konsum von Social Media gestresst wirkt, versuche in einem offenen Gespräch, die Gründe herauszufinden. Frage es nach seinem Befinden und wodurch es, unabhängig von Social Media, gerade gestresst ist. Eltern sollten auch das Essverhalten und den Allgemeinzustand des Kindes im Auge behalten.
Was sind hier wichtige Indikatoren?
Wenn das Kind gut schläft, morgens aufstehen mag, sich konzentrieren und die nötige Leistung im Alltag erbringen kann, ist vermutlich alles im grünen Bereich. Problematisch wird es, wenn das Kind das Essverhalten kontrolliert, also Kalorien einspart oder Binge Eating Attacken hat.
Das Thema Ernährung ist auf Social Media riesig. Wie vermitteln wir unseren Kindern eine gesunde Einstellung zum Essen, die dem Druck standhalten kann?
Dies ist ein grösseres Thema. Denn leider trägt nicht nur Social Media seinen Teil dazu bei, ein gestörtes Essverhalten zu normalisieren – sondern oft auch wir selbst und als Gesellschaft. Auch wenn wir das gar nicht wollen. Schon vor Social Media war es in vielen Familien normal, dass ein Elternteil nur Salat isst, um das Gewicht zu halten oder zu reduzieren. Wir haben so von klein auf ein problematisches Essverhalten vorgelebt bekommen. Dies prägt unsere Vorstellungen und Werte. Diese geben wir als Gesellschaft und Elternteil nun – teils unbewusst – an unsere Kinder weiter. Das passiert beispielsweise durch die Stigmatisierung von Hochgewicht, durch Gespräche mit Freunden über Diäten oder die Aufforderung, noch eine Frucht zu essen, weil sie ja gesund sei.
Hilfe bei Essstörungen
Du machst dir Sorgen um das Essverhalten deines Kindes? Dann hol dir Rat oder Hilfe. Niederschwellige Anlaufstellen für dich und dein Kind sind beispielsweise Prävention Esstörungen Praxisnah PEP oder Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES sowie die kostenlose Mütter- und Väterberatung. Mögliche Anlaufstellen sind auch ärztliche Fachpersonen wie der Kinderarzt oder -ärztin oder eine Psychologin oder Psychologe.
Zurück zu Social Media: Wie können Eltern einen gesunden Umgang mit den sozialen Medien fördern?
Durch Austausch und Begleitung. Wichtig ist jedoch ein wertfreier Dialog. Denn bei Vorwürfen wie «du bist ständig am Handy» geht das Kind in den Verteidigungsmodus. Wir Eltern gehören einer anderen Generation an und sind mit anderen gesellschaftlichen Werten und ohne Social Media aufgewachsen. Man kann ein solches Gespräch zum Beispiel beginnen, indem man beschreibt, welche Gefühle ein Video, das man gerade gesehen hat, ausgelöst hat. Wenn dein Kind das Video auch gesehen hat, kannst du es fragen, was es dabei empfunden hat.
Wenn das Kind im Gespräch gestresst wirkt, wie können Eltern helfen?
Unterstütze dein Kind bei der Regulierung seiner Gefühle, indem du Alternativen zu Social Media anbietest. Kinder lernen vor allem durch unser Verhalten. Wenn wir selbst in stressigen Situationen ausrasten, Frustessen oder zum Handy greifen, dann werden sie es uns nachmachen. Bewegung wie ausgelassen durch die Wohnung tanzen hilft. Oder den Frust rausschreien. Und reden: Wichtig ist, dass die Gefühle Raum haben und ohne Verurteilung gezeigt werden dürfen.
Zahlen und Fakten zum Einfluss von Social Media auf Jugendliche
In der Schweiz sind gemäss dem BAG 3.5% der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens von einer Essstörung betroffen.
Gemäss einer Umfrage zu Essstörungen des Kantons Basel-Stadt finden sich 44% der normalgewichtigen Schülerinnen zu dick und wollen abnehmen.
In einer Studie von Instagram gab fast die Hälfte der Jugendlichen an, mit dem eigenen Leben und Körper unzufrieden zu sein.
Die Studie der University de Vigo zeigt, dass je mehr man Zeit auf Social Media verbringt, desto mehr werden Essstörungen begünstigt.