Der Körper in der Pubertät – wenn Teenager eine Essstörung entwickeln
Mit der Pubertät verändert sich der Körper stark. Das verunsichert viele Jugendliche, doch auch für Eltern ist diese Zeit nicht einfach. Entwickelt das Kind vielleicht eine Essstörung wie Magersucht oder wird es stark übergewichtig? Psychologin Ina Blanc hilft Eltern, richtig zu reagieren.
Das Wichtigste in Kürze:
- Eltern sprechen mit ihren Kindern am besten bereits dann über körperliche Veränderungen und gesundes Essen, wenn die Pubertät noch nicht eingesetzt hat.
- 3,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung entwickelt im Laufe des Jugend- oder jungen Erwachsenenalters eine Essstörung wie Magersucht oder Bulimie, 19 Prozent der Heranwachsenden sind übergewichtig oder adipös.
- Direkt zum Thema «Ist es Magersucht?»
- Direkt zum Thema «Wenn das Kind auf einmal stark zunimmt»
Wenn ein Kind zum Jugendlichen wird, verändern sich nicht nur Hobbys und Vorlieben, sondern auch das Aussehen. Unter den normalgewichtigen Mädchen, die in die Pubertät kommen, finden sich laut der Kinderpsychologin Ina Blanc bis zu 50 Prozent zu dick. Bei den Buben sieht die Sache anders aus. Ina Blanc: «Etwa 15 Prozent der Jungen fühlen sich zu dünn, wollen mehr Muskeln haben und stärker sein.»
Die Psychologin sagt: «Ich denke, für die Mädchen ist diese Phase besonders schwierig.“ Denn: «Mit der Menstruation nehmen sie für gewöhnlich auch an Fettgewebe zu. Das widerspricht dem gesellschaftlichen Schönheitsideal, das den schlanken, fettfreien Körper hoch hält.» Die Folge ist fatal. «Die Mädchen fühlen sich in ihrem Körper verunsichert und können sich über ihren weiblichen Formen gar nicht freuen», erklärt Ina Blanc.
Magersucht und Übergewicht in der Schweiz
Die Entwicklung eines positiven Körpergefühls ist für Heranwachsende wichtig, um gesund in den nächsten Lebensabschnitt zu starten. Doch laut dem Bundesamt für Gesundheit entwickeln 3,5 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer im Verlaufe des Jugend- und jungen Erwachsenenalters eine Essstörung wie Magersucht oder Bulimie.
Die meisten von ihnen sind Frauen. Noch grösser aber ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die überdurchschnittlich viel wiegen. Laut dem Bundesamt für Gesundheit sind etwa 19 Prozent der Heranwachsenden in der Schweiz übergewichtig oder adipös, also krankhaft übergewichtig.
Der Eintritt in die Pubertät ist weder für die Kinder noch die Eltern einfach. Wie auf die körperlichen Veränderungen der Kinder reagieren? Wie verhindern, dass die Waage weder in die eine noch in die andere Richtung allzu sehr ausschlägt? Und wie mit den Jugendlichen über dieses sensible Thema sprechen, ohne sie durch unbedachte Äusserungen noch stärker zu verunsichern? Die Kinderpsychologin Ina Blanc gibt praktische Tipps.
Über Gesundheit, Ernährung und Sport sprechen – schon bevor sich der Körper verändert
Oft mangelt es laut Ina Blanc in Familien an Aufklärung darüber, was eine gesunde Ernährung ausmacht, dass Fett und Zucker in der richtigen Menge auch dazu gehören und dass Sport und Schlaf für ein positives Körpergefühl wichtig sind.
Teenager müssen verstehen, dass erwachsen werden bedeutet, zunehmend Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen und eine gute Selbstfürsorge zu entwickeln. Weiter gelte, dass die Jugendlichen Wissen darüber erlernen sollten, dass erst die Einlagerung von Fett und damit eine weibliche Erscheinungsform es ermöglicht, in die Pubertät einzutreten.
«Ich denke, eine gute Aufklärung vor der körperlichen Veränderung ist hilfreich», sagt Ina Blanc. Und wie mit dem Thema Gesundheit fortfahren, wenn sich der Körper tatsächlich verändert?
Weshalb Fett wichtig und gut ist
Ina Blanc: «Man sollte mit ihnen darüber sprechen, dass verschiedene Hormone – unter anderem das Fetthormon Leptin – dem Körper signalisieren, wann die Geschlechtsreife beginnen soll.»
Anstatt Essen zu reduzieren, so die Psychologin, sollten die Mädchen lieber Sport machen, sich gesund ernähren und eine positive Einstellung zum sich verändernden Körper erlernen. Aber: «Leider hören Mädchen oft eher auf, Sport zu machen, wenn sich ihr Körper verändert, weil neue Interessen in Vordergrund treten, sie ihren veränderten Körper nicht akzeptieren und sich vielleicht sogar für ihn schämen.»
Ist es Magersucht? Wenn die Tochter auf einmal stark abnimmt
1 Warum überhaupt hungern sich manche Mädchen stark ab?
Ina Blanc: «Viele Mädchen erleben zu Beginn der Pubertät einen Kontrollverlust. Der Körper ist plötzlich ganz anders, viel weicher wegen des Fettgewebes. Oft wollen die Mädchen einfach die Kontrolle über ihren Körper zurückgewinnen. Vor allem leistungsorientierte Mädchen gewinnen Kontrolle, wenn sie ihre Ernährung vollständig im Griff haben, indem sie Kalorien zählen und sich «erfolgreich» gegen die natürliche Gewichtszunahme wenden. Eltern sollten generell einen gesunden Lebensstil vorleben und für ein Familienklima sorgen, in dem man nicht immer sehr gut und perfekt sein muss.»
2 Wie reagieren, wenn die Tochter auf einmal stark abnimmt?
Ina Blanc: «Ich würde es ansprechen. Wenn es noch nicht im bedrohlichen Bereich ist, kann man auch allgemein über Gesundheit sprechen und darüber, weshalb sich der Körper verändert. Ausserdem kann man einen gesunden Ernährungsplan für die ganze Familie aufstellen und erklären, was der Körper wirklich braucht.»
Das Gewicht von Kindern und Jugendlichen sollte nicht anhand von dem üblichen Body-Mass-Index bestimmt werden, da sich das Verhältnis von Gewicht und Körpergrösse in der Wachstumsphase ständig ändert. Doch: «Wenn man den Eindruck hat, dass die Jugendliche zu viel Gewicht verloren hat, sollte man schnell reagieren. Denn das kann sich innerhalb kurzer Zeit zu einer ernsten Essstörung entwickeln und lebensbedrohlich werden. In diesem Fall muss unbedingt der Kinder-und Jugendarzt eingeschaltet und die Jugendliche professionell begleitet werden.»
3 Wie kommt es zu einer Magersucht und was kann man tun, um Mädchen zu unterstützen wieder ein gesundes Essverhalten aufzunehmen?
Ina Blanc: «Das ist nicht immer einfach zu sagen. Oft bekommen Mädchen, die zuerst etwas pummelig waren, viele Komplimente, wenn sie abnehmen. Dazu kommt, dass man beim Abnehmen anfangs sogar mehr Energie hat als zuvor. Die Komplimente und die zusätzliche Energie führen dazu, dass die Mädchen ein riesiges Erfolgserlebnis erfahren. Das wiederum verstärkt sie in ihrer schlechten Essgewohnheit. Nach solch einem Erfolgserlebnis ist es ganz schwierig, die Mädchen wieder zu gesundem Essen zu motivieren.
Selbst wenn man nicht sofort medizinisch eingreifen muss, sollte man schon früh am Selbstwert des Mädchens arbeiten, um ein Abrutschen in die Magersucht zu vermeiden. Eltern können zum Beispiel mit ihrem Kind über Schönheitsideale sprechen und explorieren, was ihre Schönheitsideale sind, was Schönheit in anderen Kulturen bedeutet, wer bestimmt, was schön ist und wie der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Schönheit ist. Wenn Mädchen mit Magersucht zu mir kommen, sagen sie oft, sie finden schön, wenn jemand gesund ist, viel lacht und Freude hat. Patienten mit Magersucht erleben oft das Gegenteil: Sie können sich kaum noch freuen und strahlen nicht mehr die Lebensfreude aus, die sie eigentlich schön finden.»
Wenn das Kind auf einmal zu stark zunimmt
1 Sollte ich das Thema eher vermeiden oder mein Kind direkt ansprechen, wenn es nicht mehr nur pummelig, sondern übergewichtig wird?
Ina Blanc: «Ich würde es nicht tabuisieren. Die Kinder spüren es im Blick, wenn die Eltern sie zu dick finden. Ich würde es lieber mal aussprechen, und zwar ganz direkt. Denn kleine Sticheleien sitzen oft sehr tief und können noch lange als eine negative innere Stimme beim Kind anhalten. Sprechen Sie auch aufklärend darüber, dass ab einem bestimmten Gewicht gesundheitliche Probleme auftreten können. Übergewichtige Jugendliche brauchen meistens die Unterstützung der Eltern, um wieder zu einem Normalgewicht zu finden.»
2 Was kann ich konkret tun, wenn mein Kind stark zunimmt?
Ina Blanc: «Stellen Sie die Gewohnheiten der ganzen Familie um. Sorgen Sie für einen gesunden Ernährungsplan und schauen sie, dass sich alle Familienmitglieder viel bewegen, Zeit im Freien verbringen, Sport machen und genügend schlafen. Sie können Ihr Kind auch zu einem Ernährungsberater schicken. Denn oft können Kinder Ratschläge in Bezug auf ihr Essverhalten von den eigenen Eltern nicht so gut annehmen.»
3 Ist es in jedem Fall ratsam, Experten hinzu zu ziehen?
Ina Blanc: «Eltern können Jugendliche während der Teenager-Zeit unterstützen, ein gutes Gesundheitsbewusstsein zu erlangen.“ Obwohl gewisse Schwankungen des Gewichts normal sind und der übliche Body-Mass-Index auf Kinder und Jugendliche nicht angewendet werden kann: „Bei Jugendlichen, die starke Gewichtsveränderungen erleben, würde ich immer den Kinder-/Jugendarzt hinzuziehen und gemeinsam mit ihm besprechen, ob eine psychologische und/oder medizinische Begleitung sinnvoll ist.»
Ina Blanc ist Psychologin am Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie der Uni Basel und ist dort Leiterin der Weiterbildungen in Kinder- und Jugendpsychologie.