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Warum sich Eltern um ein introvertiertes Kind keine Sorgen machen müssen

Introvertierte Kinder sind leise und zurückhaltend. Dennoch müssen sich Eltern in den meisten Fällen keine Sorgen um sie machen.

Introvertierte Kinder wirken oft schüchtern und distanziert.
Introvertierte Kinder wirken oft schüchtern und distanziert, doch müssen es nicht zwingend sein. Bild: fizkes, Getty Images

Lara und Fynn sitzen mit ihrer Mutter nach der Schule in der Eisdiele. Als eine Freundin der Mutter an den Tisch kommt, beginnt Fynn, ausgelassen zu erzählen, was er am Tag erlebt hat. Lara dagegen macht nur wenige Worte, obwohl auch sie gefragt wird, womit sie sich beschäftigt hat. «Ich habe gemalt», sagt sie. Während Fynn extrovertiert ist, ist Lara introvertiert.

Introvertierte Menschen schöpfen Kraft aus sich selbst

«Das Kind geht kaum auf die anderen Kinder zu», ist oft zu hören, wenn Eltern über ihr introvertiertes Kind sprechen. «Es wirkt schüchtern und beschäftigt sich viel mit sich selbst.»

«Auf das eigene Seelenleben gerichtet, nach innen gekehrt; verschlossen», so beschreibt der Duden das Wort «introvertiert». Introversion bedeutet auch, seine Kraft aus sich selbst zu schöpfen. Introvertierte Menschen sind gerne allein und müssen zunächst Energie tanken, bevor sie in sozialen Kontakt zu anderen Menschen treten. Extrovertierte Menschen dagegen finden ihre Power und Inspiration genau im sozialen Umgang mit anderen Menschen und müssen sich von sozialen Interaktionen nicht erst noch «erholen».

 

Schüchterne Menschen sind verunsichert

Wer introvertiert ist, muss nicht zwangsläufig schüchtern sein. Zwar sind schüchterne Kinder genauso wie introvertierte Kinder oft still, zurückhaltend und ruhig. Schüchterne Kinder sind aber darüber hinaus verunsichert oder haben Angst, wenn sie mit anderen Kindern zum Beispiel in der Schule oder auf dem Spielplatz in Kontakt treten. Zu sozialen Situationen müssen sie sich erst überwinden und manchmal wissen sie nicht, wie sie sich verhalten sollen. Schüchterne Menschen sprechen in der Regel auch niemanden an oder brauchen Zeit, bis sie mit den anderen warm werden.

Wahrscheinlich gibt es eine genetische Veranlagung für Schüchternheit, sodass es einfach ein Teil ihrer Persönlichkeit ist. So fand der Harvard-Psychologe Jerome Kagan heraus, dass bei vielen gehemmten Kleinkindern das Angstzentrum im Gehirn, der Mandelkern, übererregbar ist. Darüber hinaus können Eltern ängstliches Verhalten auf ihre Kinder übertragen, indem sie ihnen Schüchternheit vorleben. Kinder haben ein feines Gespür für die elterlichen Ängste und übernehmen diese häufig. Meist ahmen sie auch das Verhalten nach oder eignen sich noch weitere Eigenschaften der Eltern an.

Auch zurückhaltende Kinder kommen im Leben zurecht

Eltern sorgen sich, wenn sie ein zurückhaltendes Kind haben. «Wird es wegen seiner Schüchternheit von anderen übersehen?» – «Besteht die Gefahr, dass es aussen vor bleibt?», fragen sie sich oft. Sie wissen nicht, ob sich ihr schüchternes Kind später zurechtfinden wird. Insbesondere in einer Gruppe, in der vielleicht die anderen extrovertiert sind und introvertierte Menschen nicht gesehen werden. Doch zurückhaltende Kinder haben auch Vorteile im Leben und können im Umgang mit anderen Menschen von ihrer Persönlichkeit profitieren.

Vorteil Nummer 1

Zurückhaltung kann als eine liebenswerte Eigenschaft der Persönlichkeit gelten. «Vor allem zurückhaltende oder schüchterne Mädchen werden oft als nett und sympathisch empfunden», sagt Dr. Siebke Melfsen von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universität Zürich. Zurückhaltende − oder in diesem Fall introvertierte − Persönlichkeiten kommen also an.

Vorteil Nummer 2

Introvertierte Kinder überlegen lange, ob sie auf jemanden zugehen möchten − und das in vielen verschiedenen Situationen des Lebens. Sie checken andere Menschen solange ab, bis sie sich relativ sicher sind, dass diese freundlich zu ihnen sind. Die guten Erfahrungen, die sie machen, stärken ihr Selbstwertgefühl. Zwar haben Introvertierte meist nur wenige Freunde, aber diese Beziehungen zu anderen Menschen sind besonders intensiv.

Vorteil Nummer 3

Introvertierte Kinder sind oft sehr kreativ. Weil sie sich sehr stark auf ihr Innenleben konzentrieren, lassen sie sich weniger von Aussenreizen lenken. So können sie eine reiche Fantasie entwickeln. Fantasie beflügelt das Lernen von Kindern und beeinflusst die gesamte kindliche Entwicklung positiv. Das wissen zahlreiche Forscher und können es heute mit Studien eindeutig belegen.

Was nicht hilfreich ist

«Du machst dich selbst zum Aussenseiter.» - «Du brauchst doch keine Angst zu haben.» – «Jetzt geh doch mal auf die anderen zu!» Introvertierte Kinder müssen sich viele solcher Sätze aus ihrem Umfeld anhören. Doch solche Sätze bringen sie nicht nach vorn – im Gegenteil. Sie verunsichern das schüchterne Kind. Sie signalisieren ihm, dass andere glauben, mit ihm stimme etwas nicht.

Was hilfreich ist

Wer ein schüchternes Kind stärken möchte, zeigt ihm dagegen, dass Schüchternheit und Introversion keine schlechten Eigenschaften sind. Denn sowohl Kinder als auch Erwachsene dürfen introvertiert sein. Und sie dürfen schüchtern sein. Dennoch ist es sinnvoll, Offenheit anderen gegenüber zu fördern und in manchen Situationen die Schüchternheit zu überwinden. Denn Offenheit bedeutet Teilhabe und Teilhabe bringt frischen Wind ins Leben. Aktionen mit anderen Familien signalisieren dem Kind: «Wir sind eine Familie, der Freundschaften wichtig sind und die darauf vertraut, dass sich Konflikte, die entstehen können, lösen lassen.» So gewinnt das Kind auch an Selbstvertrauen und wird offener gegenüber der Welt.

Und wenn das Kind in der Schule oder auch in anderen Bereichen aufgrund von Ängsten zurückhaltend ist, aber gern nach vorn preschen würde? «Hilfreich ist es, das Kind selbst zu fragen, was es zur Bewältigung des Problems beitragen kann», so Dr. Melfsen. Oft überraschen Kinder mit ihren kreativen Ideen. Darüber hinaus hilft es ihnen, wenn ihre Schritte, Angst zu bewältigen, geschätzt werden. «Ich glaube, du hattest ein bisschen Angst davor, dir allein am Kiosk ein Eis zu holen. Aber du hast es trotzdem gemacht. Ich freue mich mit dir, dass du so mutig warst», können Eltern sagen. Auf diese Weise stärken sie das Selbstwertgefühl des Kindes, ohne dessen Eigenschaften als introvertierte oder auch schüchterne Person herunterzuspielen.

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Bild: buecher.de

«Still und stark: Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendliche» von Susan Cain

Wie soll sich ein introvertiertes Kind in einer extrovertierten Welt zurechtfinden? Autorin Susan Cain, die sich selbst als einen introvertierten Menschen sieht, geht in ihrem Buch «Still und stark: Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendliche» genau auf die Introversion von Kindern und Jugendlichen ein. Dabei beschreibt sie, welche positiven Eigenschaften Introversion mit sich bringt, und will auf diese Weise das Selbstvertrauen von stillen Kindern stärken. Die deutsche Erstausgabe ist im Goldmann Verlag erschienen.

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