Wenn das Kind schlägt: Tipps, wie Eltern die Führung behalten
Toben, wüten, schimpfen: Trotzanfälle sind normal, doch was, wenn ein Kind seine Eltern schlägt? Denise Tinguely, Psychologin und Kursleiterin des Elternprogramms STEP, erklärt im Interview, wie Eltern reagieren können, wenn die Situation eskaliert und gibt Tipps zum Umgang mit fordernden und trotzdenden Kindern.
Interview: Angela Zimmerling
Manche Kinder toben und wüten, um zu bekommen, was sie haben wollen. Andere beschimpfen, beissen oder schlagen ihre Eltern. Viele Eltern fühlen sich von ihren Kindern terrorisiert und provoziert. Wollen Kinder ihre Eltern absichtlich ärgern?
Denise Tinguely: Kinder möchten grundsätzlich die Anerkennung und Zuwendung ihrer Eltern. Es können beim Kind aber irrtümliche Meinungen entstehen. Die Eltern verstehen das Verhalten ihrer Kinder oft nicht, halten es für Psychoterror und reagieren ungehalten, das Kind fühlt sich abgewiesen, schreit – und schon eskaliert das Ganze.
Haben Sie ein Beispiel?
Stellen Sie sich vor, ein Kleinkind steht vor dem Kühlschrank und schreit ständig fordernd: «Glace, Glace, Glace!» Die Eltern gehen immer wieder darauf ein: «Nein, du kannst jetzt kein Glace haben», «Nein, wir essen erst zu Abend», «Du sollst nicht dauernd vor dem Kühlschrank stehen!», «Nein, nein, nein!» Was das Kind in dieser Situation lernt, ist in erster Linie Folgendes: «Ich habe eine grosse Wirkung». Bei einem grösseren Kind reagieren viele Eltern auf Schreien mit Beschwichtigen oder geben ihm sofort, was es möchte. Das Kind weiss nun: «Wenn ich etwas will, muss ich schreien.» Das Kind erfährt aus den Reaktionen der Eltern, was für diese wichtig ist, und wendet diese Erfahrung an. Es will keinen Psychoterror betreiben.
Wie können Eltern sinnvoller reagieren?
Sinnvoll ist es, konstruktive Anleitung und Orientierung zu geben. Um beim oben genannten Beispiel zu bleiben, könnten die Eltern sagen: «Es gibt Glace zum Nachtisch» oder «Oh, du bist wütend weil….» Das Kind braucht die Bestätigung, dass es verstanden worden ist, und danach benötigt es eine Orientierung. Wenn das Kind sich beruhigt hat, sollte es bestätigt werden: «Schön hast du dich beruhigt». Zu 95 Prozent des Tages verhalten sich die Kinder kooperativ. Wir reagieren aber vorwiegend auf die wenigen Situationen so stark, dass diese oft die Beziehung zu den Kindern über den ganzen Tag beeinträchtigen. Wenn wir unseren Blickwinkel wechseln, verändern sich unsere Gefühle gegenüber den Kindern.
Um sinnvoll mit Kindern umzugehen, müssen Eltern also ihre Perspektive ändern und benötigen Verständnis dafür, was das Kind beschäftigt?
Ja. Das Kind lernt durch die Bestätigung seiner kooperativen Verhaltensweisen, wie es bei den Eltern ankommt. Es wird bestärkt in seinem Selbstwert durch Aussagen wie «Oh, ich sehe, wie du dich bemühst», «Wie achtsam du damit umgehst! , «Ich traue dir zu, dass…». Wenn wir unseren Blickwinkel wechseln, verändern sich unsere Gefühle gegenüber den Kindern und wir bemerken bewusst, was das Kind überhaupt alles zeigt und kann. Die Eltern nehmen dadurch auch den Entwicklungsstand des Kindes wahr, was zu weniger Über- und Unterforderung des Kindes führt.
Sind Verhaltensweisen, die Eltern irrtümlich als Psychoterror auffassen, in bestimmten Entwicklungsstufen normal?
Ja, kleine Kinder in der vorsprachlichen Zeit beissen oder schlagen, weil sie noch nicht sprechen können. Wenn allerdings ein älteres Kind noch schlägt, wird es selber geschlagen oder es hat als Kleinkind gelernt, dass Schlagen ein gutes Mittel zur Selbstbehauptung ist. Es braucht also eine klare Orientierung wie «Wenn ich etwas möchte, kann ich fragen, tauschen, warten». Eltern sind die ersten Vorbilder. Ihr Verhalten zeigt den Kindern, ob Schreien, Schlagen und Brüllen oder das Sprechen über Gefühle und das Suchen nach Lösungen die richtigen Methoden sind, mit anderen Menschen umzugehen.
Was können Eltern tun, wenn die Situation eskaliert?
«Wir brauchen jetzt zuerst eine Pause, damit wir uns beruhigen können, wir setzen uns hin und trinken etwas», das ist ein sinnvoller Satz in einer eskalierenden Situation. Die Kinder machen in der Regel sofort mit. So schaffen es Eltern, innerlich einen Schritt zurückzugehen und zu überlegen: Was macht das Kind eigentlich? Was könnte es fühlen? Was möchte ich von ihm? Was soll es lernen? Wie kann es sein Problem selbstständig lösen? Eltern sind dann in der Lage, dem Kind zu sagen: «Ich habe verstanden, dass du gerne … möchtest.» Es folgt eine klare Orientierung oder auch eine Frage: «Wie wollen wir das unter diesen Umständen nun lösen?»
Auf dauernde Ermahnungen reagieren sie mit Verweigerung.
Die Eltern müssen die Führung behalten.
Ja, Kinder brauchen eine Anleitung, verlässliche Richtlinien, an denen sie sich orientieren können. Aber niemand lässt sich gern herumkommandieren. Kinder, denen man alles vordenkt wie «Zähne putzen», «Pyjama anziehen», «Jacke aufhängen» usw., hören selber auf zu denken und überlassen den Eltern die gesamten Denkaufgaben. Auf die dauernden Ermahnungen reagieren sie mit Verweigerung. Sie werden ja bevormundet, als wären sie beschränkt. Den Kindern altersgemäss zuzutrauen, ihre Sachen selbstständig zu erledigen, und sie darin zu ermutigen, stärkt ihr Selbstbewusstsein.
Wie sieht eine solche Anleitung in der Praxis aus?
Gleichwertige Wahlmöglichkeiten ermöglichen Mitbestimmung und Kooperation. So können sich Eltern ersparen zu drohen, zu bestechen, zu schreien usw. Es geht darum, eine auf Kooperation ausgerichtete Beziehung aufzubauen. «Zieh die Jacke an!» sagen Eltern oft 100 Mal am Tag, mit wenig Erfolg. Besser ist es, mit dem Kind zu überlegen: «Was ist heute für ein Wetter? Lass uns die Wettervorhersage in der Zeitung anschauen oder auf das Thermometer gucken. Welche Jacke brauchst du heute?» So leiten Eltern ihr Kind an, selbstständig zu werden. Wichtig ist immer eine positive Ansprache.
Welche Möglichkeiten gibt es noch?
Man sollte immer bedenken, dass Kinder andere Prioritäten haben als wir Erwachsene, das heisst die Kinder leben im Hier und Jetzt. Die Jacke aufzuhängen, ist für Kinder nicht prioritär. Wichtiger ist oft, zur Mutter zu rennen, von den Erlebnissen zu erzählen oder im Zimmer noch etwas zu erledigen. Es würde den Alltag der Eltern erleichtern, wenn es ihnen gelingt, mit den Augen des Kindes zu sehen und Konflikte sofort direkt zu erledigen. Viele Eltern beschäftigt auch die Frage «Was denken die anderen über meine ungezogenen Kinder?» und «Mein Kind und ich werden ausgegrenzt, weil es schlägt.» Solche Denkmuster, können die Eltern zu massiven Handlungen verführen oder zum Rückzug aus dem sozialen Leben führen.
Es würde den Alltag der Eltern erleichtern, wenn es ihnen gelingt, mit den Augen des Kindes zu sehen.
Kinder werden also dann aufsässig, wenn sie von ihren Eltern nicht angeleitet werden, wenn sie verwöhnt, ihnen vieles abgenommen, für sie gedacht und ihnen das dann nachträglich vorgeworfen wird?
Ja, und das führt oft zu einer Negativ-Spirale, zu einem Teufelskreis, aus dem Eltern aber herausfinden können, indem sie ihre Perspektive ändern. So können sie schrittweise eine Ermutigungs-Spirale, einen Engelskreis, entwickeln.
Das klingt hoffnungsvoll. Kann das Verhältnis mit guten Worten auch bei pubertierenden Kindern noch verbessert werden? Bei Kindern, die sich weigern, im Haushalt zu helfen und sich um die Schule zu kümmern? Bei Teenagern, die Türen schlagen, frech und gemein zu Eltern sind, vielleicht sogar wütend um sich treten?
Sicher. Teenager sind sehr sensibel und brauchen viel Ermutigung und Respekt. Sie diskutieren sehr gerne, wenn sie verstanden werden und an Lösungen mitarbeiten können. Den Selbstwert des Teenagers zu unterstützen, kann ihn vor vielen Verführungen schützen. Sie sind dann nicht darauf angewiesen, sich auf gefährlichen Wegen zu bestätigen.
Informationen zum Elternprogramm STEP, dem Systematischen Training für Eltern und Pädagogen: www.instep-online.ch
Denise Tinguely Hardegger aus Dornach: Psychologin/ Psychotherapeutin SBAP/ASP, Kinder- und Jugendpsychologin NDS und Zert. STEP-Trainerin.