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Selbstbestimmtes Lernen: Natürliche Neugier statt striktes Schulsystem

Brauchen Schülerinnen und Schüler einen festen Lehrplan, der vorherbestimmt, was sie wann zu lernen haben? Oder ist es besser, wenn sie frei nach Interesse entscheiden können, mit welchem Stoff sie sich beschäftigen? Die Befürwortenden des Selbstbestimmten Lernens sind sich sicher: Kinder und Jugendliche, die sich von ihren Interessen leiten lassen, lernen intensiver und nachhaltiger.

Schüler hat keine Lust mehr auf Mathe und legt erschöpft den Kopf gegen die Wandtafel.
Keine Lust mehr auf Mathe? Beim freien Lernen entscheiden die Kinder selbst, ob sie jetzt in ein anderes Fach wechseln möchten. © Getty Images / Imgorthand

Selbstbestimmtes Lernen: Das Wichtigste in Kürze

Mathematik in der ersten Stunde, Deutsch in der zweiten – und nach der grossen Pause zwei Unterrichtseinheiten Sachunterricht. So kennen die meisten Erwachsenen und Kinder das System Schule. Ein fester Stundenplan, getaktet in 45-Minuten-Unterrichtseinheiten, gibt vor, was wann zu lernen ist. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich konzentrieren, auch dann, wenn sie gerade für ganz andere Fragen oder Wissensgebiete Feuer gefangen haben. Und haben sie sich dann doch in das vorgegebene Fachgebiet vertieft, beendet das Klingelzeichen den Lauf: Denn jetzt ist Pause.

Und das soll wirklich die einzige Möglichkeit sein, einem Kind Wissen zu vermitteln? Gehen wir zurück zu den Wurzeln. Ein Baby kommt auf die Welt. Es will lernen zu krabbeln. Es folgt seinen natürlichen Instinkten und lernt es. Dann folgt das Gehen. Das Sprechen. Das Essen mit Gabel und Messer. Es will alles wissen. Stellt tausend Fragen zu Raupen und Schmetterlingen, zu Sonne und Mond.... und dann kommt das Kind in die Schule. Wieso knüpfen wir da nicht an den natürlichen Wissensdurst eines Kindes an? 

An staatlichen Schulen folgt ab jetzt ein fester Lehrplan mit strukturierten Zeiten und Abläufen. An Schulen, die selbstbestimmtes Lernen anbieten, sieht das etwas anders aus.

Selbstbestimmtes Lernen in der Schweiz

In einigen Schulen des Landes wie in der Schule «Fokus» in Arlesheim, in der Schule «Kompass» in Luzern oder in der «Freien Schule Funke» in Gelterkinden geht es auch ohne Taktung und ohne Stundenplan. «Die Lerngruppen werden entsprechend den indivudeullen Präferenzen der Kinder gebildet, um sich den spezifischen Themen zu beschäftigen», erklärt Christina Käch, Schulleiterin der Freien Schule Funke. Aber: Kann es passieren, dass ein Kind jahrelang kein Interesse an Mathematik zeigt und dann später in diesem Bereich Lücken hat? «Kinder sind von Natur aus neugierig», sagt Christina Käch. «Können sie sich in ihrer Natürlichkeit entwickeln, kommt der Zeitpunkt, an dem sie sich für unsere Kulturtechniken wie Buchstaben und Zahlen interessieren.» In dieser Schule wird kein Notensystem angewandt, dennoch erhalten die Schüler:innen einen staatlich anerkannten Sekundarabschluss und einen persönlichen Abschlussbericht. 

Auch die Schule «Fokus» in Arlesheim setzt voll auf die individuelle Entwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler.  Sie sollen frei nach ihren Interessen und Begabungen lernen. Hier gelten sogar flexible Schulzeiten! Start ist zwischen 8 und 10 Uhr, Ende zwischen 15 und 17 Uhr. Je nachdem, ob die Kinder Morgenmenschen sind, oder eben nicht. In der Schule «Kompass» in Luzern ist die Individualität ebenfalls das höchste Ziel: «Wenn Kinder in ihrem eigenen Tempo und entsprechend ihrer Interessen lernen dürfen, sind sie weder unter- noch überfordert. Dabei stärken sie ihr Selbstwertgefühl, da sie Erfolge erleben dürfen», heisst es auf der Homepage.

Solche Beispiele gibt es noch mehr in der Schweiz. Noch haben sie alle eines gemeinsam: Es sind Privatschulen. Das bedeutet meist ein hohes Schulgeld.

Verein setzt sich für das Freie Lernen ein

Sich individuell weiterentwickeln – dafür setzt sich auch der Non-profit-Verein time4 ein – ein Bildungsverein für Jugendliche, die nach der obligatorischen Schulzeit selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihrer Motivation und Begeisterung folgen wollen. «Unter Selbstbestimmtem Lernen verstehen wir, dass sich die Jugendlichen ihre Lernfelder selbst auswählen und dann auf ihrem individuellen Weg Kompetenzen erlangen», erklärt Vorstandsmitglied Michi Bleiker. Bei time4 können die Teilnehmenden selbst entscheiden, welche Arbeitsstrukturen sie für sich aufbauen und wie intensiv sie an ihren Zielen oder Projekten arbeiten möchten.

Voraussetzungen und Methoden des Selbstbestimmten Lernens

Um selbstbestimmt lernen zu können, müssen einige Voraussetzungen gegeben sein. Dafür sorgen die Schulen, indem sie eine Atmosphäre schaffen, in der sich alle aufgehoben und angenommen fühlen. Laut Christina Käch sind folgende Voraussetzungen nötig, damit sich die Schüler:innen frei entfalten und stressfrei lernen können:

  • Vertrauen ins Kind
  • In Beziehung mit dem Kind stehen
  • Individuelle Bedürfnisse wahrnehmen und darauf eingehen
  • Das materielle Umfeld der Kinder individuell gestalten
  • Die Entwicklung im eigenen Tempo ermöglichen
  • Ein angstfreies Umfeld
  • Gewaltfreie Kommunikation
  • Respektvolles Miteinander

Das sind die Vorteile des selbstbestimmten Lernens

Warum ist selbstbestimmtes Lernen sinnvoll? Wer selbstbestimmtes Lernen befürwortet, hebt meist die hohe Motivation hervor, mit der Kinder und Jugendliche arbeiten. Dadurch, dass die Schüler:innen selbst entscheiden, in welche Richtungen sie ihr Wissen vertiefen möchten, gehen sie mit viel Begeisterung und Selbstbewusstsein an die Aufgaben heran. Und weil kein Zwang herrscht, wächst oft auch die natürliche Neugier und Offenheit, sich Themen zuzuwenden, die vielleicht nicht auf den ersten Blick für Begeisterung sorgen. 

Selbstbestimmtes Lernen fördert nicht nur die Motivation. Die Kinder und Jugendlichen lernen auch intensiver und nachhaltiger. «Wenn sie offen und interessiert sind, speichert ihr Gehirn die Lerninhalte sofort ab», erklärt Christina Käch. Darüber hinaus stärke Selbstbestimmtes Lernen die Persönlichkeit und die Fähigkeit, Eigenverantwortung zu übernehmen.

Gibt es Nachteile?

«Wir sehen keine Nachteile», erklärt Christina Käch. «Vielleicht Schwierigkeiten. Nicht mit dem Massenstrom zu schwimmen, ist nicht immer einfach.» Michi Bleiker äussert sich ähnlich: «Selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu lernen ist kein einfacher Weg. Selbstmanagement ist zwar toll, aber auch eine Herausforderung.»

Freies Lernen ist für alle Kinder geeignet: Vertrauen der Eltern ist das A und O

Entscheidend für das Funktionieren dieses Bildungsweges ist das Vertrauen der Eltern in die Jugendlichen und in das Leben. «Selbstbestimmtes Lernen ist für alle Menschen geeignet, die sich für ihr Kind eine freie selbstbestimmte Entwicklung wünschen und diese im Vertrauen in das Kind stärken», sagt Christina Käch. Michi Bleiker: «Eltern müssen bereit sein, die Jugendlichen loszulassen und sie gleichzeitig auf ihrem Weg zu unterstützen – unabhängig davon, ob ihnen das Ziel gefällt oder nicht.»

So läuft nach Abschluss der Schule der Einstieg in die strukturierte Welt ab

«Es kann sein, dass es manchen Jugendlichen in den ersten Wochen in einer Mittelschule oder Ausbildung nicht so leichtfällt, sich im System zurechtzufinden», berichtet Christina Käch. Der Unterrichtstoff mache dagegen in der Regel keine Probleme, weil sie es gewohnt seien, sich mit Inhalten und Anforderungen eigenständig auseinanderzusetzen. «Kann sich in den Jugendlichen die Entscheidung, wie sie weitergehen wollen, von Innen heraus entwickeln, dann schaffen sie diesen Schritt», fasst Christina Käch zusammen.

Auch Michi Bleiker sieht im Übergang in festere Strukturen kaum Probleme: «Den Jugendlichen, die wir begleiten, fällt es im Allgemeinen nicht schwer, im Berufsleben Fuss zu fassen, wenn sie in einem Bereich arbeiten können, der sie fasziniert und der ihnen sinnvoll erscheint.» Ihnen kämen ihre Erfahrungen und Kompetenzen wie Eigenverantwortung und Selbstbestimmtheit stark zugute. «Ein selbstbestimmter und von Eigenverantwortung geprägter Lebensweg interessiert Arbeitgebende und öffnete viele Tore.»

 

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