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Die Qual mit der Zahl: Hat ihr Kind Dyskalkulie?

Wenn ein Kind schon in der Primarschule über einfache Rechenaufgaben immer wieder stolpert, leidet es vielleicht an Dyskalkulie. Doch die Rechenschwäche lässt sich mit einer Lerntherapie gut in den Griff kriegen. Wie Sie Dyskalkulie erkennen und Ihrem Kind darüber hinweg helfen.

Dyskalkulie ist ein ernstes Problem. Betroffene quälen sich jahrelang in der Schule. Doch die Rechenschwäche lässt sich einmal erkannt, gut beheben.
In frühen Jahren lässt sich eine Dyskalkulie oft noch leichter überwinden. Bild: iStock

15+16 =? Diese Rechenaufgabe müsste doch im dritten Schuljahr zu bewältigen sein, oder? Doch Laura kaut auf ihrem Bleistift herum, weicht dem Nachhilfelehrer aus und schaut zum Fenster hinaus. Wenn es um Mathe geht, hat sie längst aufgegeben.

Die Klassenlehrerin hat schon angemerkt, dass Laura in anderen Fächern gut mitkommt, aber in Mathematik weit hinter den Klassenkollegen zurück liegt. Während die Freundinnen draussen spielen, muss Laura deshalb für den Mathetest lernen. Viel Druck für ein 9-jähriges Kind.

Aber Lauras Eltern sorgen sich. Schliesslich wird sie Mathe bis zum Schulabschluss begleiten und über ihre späteren Berufschancen entscheiden. Aber auch das viele Üben bringt nichts. Laura bringt wieder eine ungenügende Note nachhause. Diesmal sogar noch schlechter als zuvor.

Leidet das Kind vielleicht unter einer Rechenschwäche, der sogenannten Dyskalkulie, oder handelt es sich nur um ein vorübergehendes Matheproblem? Dyskalkulie früh zu erkennen ist entscheidend, denn vor allem in jungen Jahren lässt sich die Rechenschwäche oft noch leicht überwinden.

Was ist Dyskalkulie? Anhaltende Schwierigkeiten beim Rechnen

«Man kann von einer Rechenschwäche (Fachausdruck: «Dyskalkulie») sprechen, wenn über einen längeren Zeitraum (ein halbes Jahr und mehr) hartnäckige Schwierigkeiten im Rechnen auftreten. Rechenschwache Schüler haben ein ungenügendes mathematisches Verständnis und sie rechnen «auf ihre Art», mit bekannten nachweisbaren Fehlertypen. Oft sind sie zählende Rechner geblieben.»

Therapiezentrum Rechenschwäche, Basel

Kinder mit Dyskalkulie sind nicht dumm!

Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge ist Dyskalkulie eine Entwicklungsstörung. Sie hat deshalb nichts mit der Intelligenz zu tun. Die Kernursache für Dyskalkulie liegt darin, dass ein Kind mit Rechenschwäche kein ausreichendes Verständnis von Mengen entwickelt hat. Es kann sich Zahlen nicht vorstellen und Mengen nicht vergleichen. Dem Kind fehlen von Beginn an die Grundbausteine, auf der die Mathematik logisch aufbaut.

Wenn ein Kind Zahlen nicht miteinander vergleichen kann, kommt es beim Mathematikunterricht irgendwann einfach nicht mehr mit. Auch häufiges Üben und klassische Nachhilfe, die die unverständlichen Rechenregeln einfach wiederholen, helfen bei Dyskalkulie nicht – ein Umstand, der sich auch in den folgenden Schuljahren nicht von allein lösen wird. Im Gegenteil: Mit der Zeit türmen sich nicht verstandene und nicht verinnerlichte Lernschritte zu einem hohen Berg auf.

Das Selbstwertgefühl des Kindes leidet, vor allem dann, wenn sich die Eltern immer wieder enttäuscht darüber zeigen, dass das Kind heute schon vergessen hat, was gestern verstanden schien. Das Rechnen wird zur Qual. Im Unterricht schaltet das Kind einfach ab.

Umso wichtiger ist es deshalb, Dyskalkulie frühzeitig zu erkennen. Etwa vier bis sieben Prozent der Kinder gelten aktuellen Studien zufolge als massiv rechenschwach. «Die Schwierigkeiten zeigen sich meistens ab Ende der zweiten Klasse, vermehrt noch in der dritten und vierten Klasse; mehrheitlich sind Mädchen betroffen», informiert das Therapiezentrum Rechenschwäche in Basel.

So lässt sich Dyskalkulie erkennen

Dyskalkulie erkennen: Kinder mit einer Rechenschwäche benutzen auch noch in der Primarschule noch lange die Finger zum Rechnen.
Weil Kinder mit Dyskalulie keine Mengenvorstellung haben, gebrauchen sie oft noch lange die Finger zum Rechnen. Bild: iStock

Kinder, die unter Dyskalkulie leiden, benutzen immer wieder ihre Finger zum Rechnen. Auch ständig Rechenarten zu verwechseln, Ziffern seitenverkehrt zu schreiben und den Unterschied zwischen Multiplizieren und Dividieren nicht zu erkennen, ist typisch für Kinder mit Rechenschwäche.

Was sie nicht verstehen, versuchen sie, auswendig zu lernen – zum Beispiel dass sich die Zahl mit zwei Nullen «Hundert», die Zahl mit drei Nullen aber «Tausend» nennt. Welche Zahl grösser ist, wissen sie aber möglicherweise nicht.

Orientierungsleitfaden: Die häufigsten Anzeichen einer Rechenschwäche

  • Das Kind versteht den Unterschied zwischen Addieren, Subtrahieren, Teilen und Multiplizieren nicht.
  • Das Kind kann sich im Zahlenraum von 1-100 nicht orientieren.
  • Das Kind hat beim Zählen Mühe mit dem Zehnerübergang.
  • Das Kind kann Begriffe wie «die Hälfte», «das Doppelte», «grösser/kleiner», «weiter/näher», «Reihenfolge» nicht korrekt anwenden.
  • Das Kind kann kleine Mengen bis etwa 5 nicht gleichzeitig erfassen
  • Probleme mit der Zahl 0.
  • Probleme mit der Zahlenzerlegung. Zum Beispiel: 7= 4+3 oder 5+2 oder 6+1.
  • Unklarheit der Ziffer als Einer, Zehner und Hundertergrösse.
  • Unklarheit beim Schreiben der Ziffern, zum Beispiel Verdrehen von 6 und 9.
  • Bei Textaufgaben: Nicht-Verstehen des Inhaltes aufgrund von Leseschwäche oder Unklarheit bei der Zerlegung der Aufgabe in Teilschritte.

Quelle: Legasthenie-Werkstatt, Basel

Oder handelt es sich doch nur um ein kleines Mathe-Problem?

Oft neigen wir dazu Probleme zu dramatisieren. Ein Problem, das sich nicht gleich löst, hat einen guten Grund, wenn eine Störung dahinter liegt. Und es beruhigt, wenn man einen Namen für das Problem hat und es therapieren kann. Kinder sind unterschiedlich begabt und interessiert. Vorübergehende Mathe-Schwierigkeiten sind nicht selten und in der Regel kein Grund sich zu sorgen. Mathe fällt immer dann schwer, wenn ein Baustein der Mathematik nicht ausreichend verstanden wurde. Wenn Erklären und Üben, auch Förderunterricht oder Nachhilfe zu besseren Ergebnissen verhelfen, handelt es sich wahrscheinlich um ein konventionell zu lösendes Matheproblem und nicht um Dyskalkulie.

Eine Dyskalkulie dagegen ist eine stark ausgeprägte Rechenstörung, die durch Üben nicht in den Griff zu kriegen ist. Ausschlaggebend sind in der Regel die beiden ersten Schuljahre. Gelingt es nicht, die Grundrechenoperationen in der Primarschule zu begreifen und kommen weitere Symptome hinzu, kann man wahrscheinlich von einer Dyskalkulie sprechen.

Was zu tun ist, wenn Sie eine Rechenschwäche bei Ihrem Kind vermuten

Eine Lerntherapie kann bei Dyskalkuie gute Erfolge erzielen. Besonders, wenn Sie früh beginnt.
Je früher Dyskalkulie behandelt wird, desto besser. Bild: iStock

1 Dyskalkulie-Test

Wenn Sie fürchten, Ihr Kind könnte eine Dyskalkulie haben, können Sie das Kind beim Schulpsychologischen Dienst oder in einer Spezialpraxis testen lassen.

2 Dyskalkulie-Therapie in die Wege leiten

Mit Hilfe einer Therapie kann eine Rechenschwäche in der Regel erfolgreich behoben werden. Je jünger das Kind ist, umso leichter lässt sich Verpasstes aufholen. Doch eine Therapie lohnt sich auch bei älteren Schülern. «In der Therapie geht man zurück zu den Wurzeln des Problems: Oft ist es nötig, einen (grossen) Teil des Mathematikgebäudes neu aufzubauen, ausserdem sollen Ängste abgebaut, das Selbstvertrauen gestärkt und andere negative Umstände verändert werden», erklärt das Therapiezentrum Rechenschwäche in Basel. Eine Dyskalkulie-Therapie setzt neben dem Rechnen auch auf der psychologischen und sozialen Ebene an.

Die Angebote an Therapien und deren Finanzierung sind kantonal verschieden geregelt. Einige Kantone übernehmen die Kosten ganz oder zum Teil. In vielen Fällen kommen auch die Gemeinden für einen Teil der Kosten auf.

3 Das Kind aufbauen

Bis seine Entwicklungsverzögerung erkannt worden ist, hat Ihr Kind viele Misserfolge verkraften müssen. Das nagt erheblich am Selbstwertgefühl und raubt auch die Motivation, sich überhaupt noch mit dem Rechnen zu beschäftigen. Ihr Kind braucht deshalb jetzt viel Verständnis und Trost. Hilfreich ist es jetzt, den Fokus mehr auf das zu richten, was Ihr Kind richtig gut kann.
Denn es leidet besonders, wenn es das Gefühl hat, dass die Eltern von ihm scheinbar enttäuscht sind.
 
Deshalb ist es wahrscheinlich immer die erste und wichtigste Aufgabe der Eltern, ihre Kinder unabhängig von ihren Leistungen bedingungslos zu lieben.

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