«Hausaufgaben und Noten bringen gar nichts» Fragen Sie Remo Largo
Der bekannte Buchautor und Kinderarzt Remo Largo hadert mit der Schweizer Schule. Im Interview mit familienleben.ch erklärt er, warum Hausaufgaben und Noten nur Schikane sind - für Kinder und für Eltern.
Warum sollte sich die Schule dringend ändern?
Remo Largo: Die Schule stammt aus dem 19. Jahrhundert, die Eltern und Lehrer sind aus dem 20. Jahrhundert und die Kinder leben im 21. Jahrhundert. In den letzten 150 Jahren hat sich Einiges getan in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft. Darauf hat die Schule reagiert, aber viel zu zögerlich. Griffel und Schiefertafel hat sie abgeschafft, aber das Zehnfingersystem immer noch nicht eingeführt. Es braucht ein grundlegendes Überdenken des Bildungswesens.
Was zum Beispiel sollte überdacht werden?
Am besten alles. Ich will einige Beispiele geben: Wichtig sind gute Beziehungen zwischen Lehrern, Schülern und Eltern. Der Lehrer sollte die individuelle Lernmotivation seiner Schüler erfassen und den Lernerfolg der Schüler fördern. Der Bildungsauftrag ist grundsätzlich zu überdenken. Der Lehrplan muss entschlackt und den heutigen Anforderungen von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft angepasst werden. Das Bildungswesen muss liberalisiert werden: Die Schulen und Lehrer sollen mehr Autonomie erhalten. Ich bin zudem für eine freie Schulwahl.
Zur Person
Remo Largo war viele Jahre Professor für Kinderheilkunde am Kinderspital Zürich. Dort führte er die bedeutendste Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum durch. Seine Erziehungsbücher «Babyjahre» und «Kinderjahre» stehen bei vielen Eltern im Regal. Der 69-Jährige ist Vater von drei Töchtern und Grossvater von vier Enkelkindern.
(Foto: zVg)
Sie schreiben, ein Lehrer sollte sich gedulden, bis ein Schüler bereit ist etwas zu lernen, beispielsweise das Lesen. Da kommt er ja nie voran.
Es ist eine Illusion zu meinen, man könne die Entwicklung der Lese-Kompetenz oder einer anderen Kompetenz durch Üben beschleunigen. Fakt ist: In der ersten Klasse können ein bis vier Kinder bereits lesen, die meisten werden es in den nächsten Monaten, und ein bis vier Kinder werden es erst in der zweiten oder dritten Klasse schaffen. Der Entwicklungsstand von siebenjährigen Kindern variiert zwischen fünfeinhalb und achteinhalb Jahren. Darauf müssen sich Eltern und Lehrpersonen einstellen.
Was heisst das für den Unterricht?
Um beim Lesen anzuknüpfen: Jedes Kind sollte dort abgeholt werden, wo es entwicklungsmässig steht. Wenn dies nicht geschieht, wird ein Teil der Kinder über- und ein anderer Teil unterfordert. Die Anforderungen, zum Beispiel Texte, die dem Kind vorgelegt werden, müssen also individuell angepasst werden.
Das klingt nach einem grossen Zeitaufwand für Lehrer. Ist individualisierter Unterricht überhaupt realisierbar?
Das ist der Einwand, der regelmässig von Lehrpersonen kommt, die darin nicht ausgebildet sind. Beim neuseeländischen Bildungsforscher John Hattie kann man in «Visible Learning for Teachers» nachlesen, wie es gemacht wird. Professor Andreas Helmke und seine Mitarbeiter beschreiben in «Unterrichtsdiagnostik – Voraussetzung für die Verbesserung der Unterrichtsqualität» wie die Unterrichtsqualität verbessert werden kann.
John Hattie hat in seiner Meta-Metaanlayse herausgefunden, dass lehrergeleiteter Unterricht, auch bekannt als Frontalunterricht, entscheidend für den Lernerfolg ist. Wie passt das mit Ihren Erkenntnissen zusammen?
Jeder entnimmt der Hattie Analyse, was ihm passt. Hattie meint: Frontalunterricht könne durchaus erfolgreich sein, nämlich dann, wenn die Lehrperson möglichst wenig rede und vor allem die Schüler zu Wort kommen lässt.
Dann sehen Sie sich durch Hatties Analyse bestätigt.
Ja, denn Hattie schreibt auch: «Ein guter Lehrer sieht den eigenen Unterricht mit den Augen seiner Schüler». Ein solcher Unterricht ist weit mehr als eine durchstrukturierte und disziplinierte Schulstunde mit fachlich fundiertem Inhalt. Grossen Wert legt Hattie auf Feedbacks. Die Schüler sollen regelmässig vom Lehrer befragt werden, wie sie den Unterricht erlebt haben: Was habe ich als Schüler verstanden? Wo fühle ich mich vom Lehrer nicht abgeholt? Diese Art von Feedback erhielt im Ranking aller 138 Faktoren den höchsten Wert. Ein Schüler wird dann etwas nachhaltig lernen, wenn sein individueller Entwicklungsstand erfasst wird, wenn Entwicklungsfortschritte unterstützt, Erfolgserlebnisse und Selbstwirksamkeit gefördert werden.
Sie plädieren für ein selbstbestimmtes Lernen. Heisst das, ein Kind muss nur lernen, wenn es Lust dazu hat?
Remo Largo: Jedes Kind will lernen, aber seinem Entwicklungsstand und Entwicklungstempo entsprechend. Ich kenne kein Kind, normalentwickelt oder behindert, das nicht lernen will. Es ist die Herausforderung für Eltern und Lehrpersonen, herauszufinden, wie das Kind mit welchen Lernerfahrungen in seiner Entwicklung unterstützt werden kann.
Wie können Eltern ihr Kind beim Lernen fördern?
Vor allem, indem sie für gute Beziehungen in Familie und Schule sorgen. Sie sollten die Kinder beim Lernen unterstützen und sich dem schulischen Drill verweigern, was zugegebenermassen schwierig ist, da Kind und Eltern unter einem grossen Druck stehen.
Warum sollten sie sich dem Drill verweigern?
Um bei Hattie zu bleiben: Hausaufgaben bringen gar nichts. Bei uns wird mit den Hausaufgaben ein eigentlicher Missbrauch betrieben. Mit Auswendiglernen, Prüfungen und Noten wird in unseren Schulen eine Treibjagd veranstaltet, die nichts bringt. Die Verantwortung wird von der Schule immer mehr an die Familie delegiert, zum Beispiel beim Vorbereiten eines Vortrags. Es gibt meines Erachtens kein einziges gutes Argument für Hausaufgaben in den ersten sechs Schuljahren. Um nochmals Hattie zu zitieren: Auch Noten bringen nichts! In Schweden gibt es in den ersten fünf bis sieben Schuljahren keine Noten.
Warum bringen Hausaufgaben und Noten nichts?
Wenn empirisch nachgeprüft wird, ob Hausaufgaben und Noten den Lernerfolg verbessern, stellt man keinen Lernerfolg fest. Schüler wie auch Eltern werden damit nur schikaniert. Nicht nur Lehrpersonen, auch viele Eltern verlangen Noten. Sie wollen wissen, wo ihr Kind steht. Dies kann man ihnen aber zum Beispiel mit Kompetenzrastern viel besser vermitteln. Noten sind auch nicht aussagekräftig, deshalb macht die Wirtschaft ihre eigenen Tests. Note 4.5 sagt nichts über die Lesekompetenz eines Schülers aus, der sich für eine Lehrstelle bewirbt. Es ist aber schon so: Ohne Noten muss man anders unterrichten.
Sie sind der Meinung, dass wir schon viel früher auf die Qualität der Förderung schauen sollten, in den Kitas.
Wir haben ein grosses Problem. Immer mehr Einzelkinder in Kleinfamilien entwickeln sich nicht mehr altersgerecht. Ihnen fehlen die anderen Kinder, die auch die beste Mutter nicht ersetzen kann, und zunehmend auch entwicklungsgerechte Erfahrungen. Deshalb sind die Kitas so wichtig geworden. Ob es getrennte WCs für Knaben und Mädchen gibt, ist dabei nicht so wichtig. Entscheidend sind die fachlichen Kompetenzen der Erzieherinnen, die Betreuungskontinuität und die Erfahrungsmöglichkeiten, die den Kindern geboten werden.
Was halten Sie von einem Qualitätslabel für Kitas, das dieses Jahr lanciert werden soll?
Das ist eine gute Idee, aber man sollte nicht nur auf Räumlichkeiten, sondern vor allem auf die Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen Wert legen. Kinder zwischen zwei und fünf Jahren sind eine grössere pädagogische Herausforderung als Gymnasiasten. Die Finnen entlöhnen ihre Erzieherinnen auch entsprechend!
Sie fordern gratis Kinderkrippen und eine Ganztagesbetreuung für Schulkinder.
Krippen sind heutzutage weit mehr als nur ein Ort, wo Kinder betreut werden. Immer mehr Kinder - auch aus Schweizer Kleinfamilien - sind auf Krippen für eine normale Entwicklung angewiesen. In den Krippen können sie die notwendigen Erfahrungen mit andern Kindern machen, damit sie sich normal entwickeln können. Kitas müssen Teil des Bildungssystems werden genauso wie Schule und Universität.
Kann sich die Schweiz das leisten?
Wegen einer fehlenden Familienpolitik in den letzten 40 Jahren sind in der Schweiz mehr als eine Million Kinder nicht geboren worden, weil zahllose Schweizer den Spagat zwischen Beruf und Familie nicht geschafft haben. Dieses Manko an Kindern musste mit Einwanderung kompensiert werden. Wir Schweizer sind solche Krämer und das im grössten Wohlstand. Im Vergleich mit den skandinavischen Ländern setzt die Schweiz einen dreifach kleineren Betrag des Bruttosozialproduktes für Kinder und Familien ein. Es ist keine Übertreibung: Die Schweiz ist bezüglich Bildungs- und Familienpolitik ein Entwicklungsland. Trotz allen privaten und öffentlichen Beteuerungen: Geld ist uns wichtiger als das Wohl der Kinder und Familien. Für was leben wir eigentlich?
Buchtipps
- Remo H. Largo: Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken. Piper Verlag GmbH.
- Remo H. Largo, Martin Beglinger: Schülerjahre. Wie Kinder besser lernen. Piper Verlag GmbH.
Das Interview ist erstmal 2013 auf familienleben.ch erschienen. Vieles ist so aktuell wie eh und je. Was halten Sie von der Schweizer Bildungspolitik und dem Schweizer Bildungssystem? Diskutieren Sie mit uns!