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Spina bifida: Trügerischer Schein von Normalität

Erst als Noémie acht Monate alt war, stellte man einen offenen Rückenmarkskanal, eine sogenannte Spina bifida, bei ihr fest. Sie leidet unter neurophatischen Schmerzattacken und trägt viele weitere Rucksäcke mit sich herum. Die Ärzte sind ratlos und können der Familie nicht sagen, woher Noémies Beschwerden kommen. Eine psychologische Begleitung hilft der 5-Jährigen, mit den Schmerzen umzugehen.

Die fünfjährige Noémie leidet an Spina bifida.
Trotz Spina bifida ist Noémie ein fröhliches Kind. Bild: Céline Weyermann

Auf den ersten Blick scheinen Mama Kerstin, Papa Markus und ihre Tochter Noémie wie eine ganz normale Familie. Noémie ist ein hübsches, aufgewecktes Mädchen mit wachen Augen. Fröhlich spielt sie mit ihren Puppen, singt dabei und wirkt wie ein unbeschwertes Mädchen. Doch der Schein trügt – Noémie ist schwer krank, niemand kann der Familie jedoch sagen, was ihre Tochter genau hat. Die Ärzte haben die Suche nach einem Namen für Noémies Krankheit aufgegeben.

«Dass Noémie so normal und fit aussieht, wird uns oft zum Verhängnis», sagt Kerstin gleich zu Beginn unseres Gesprächs. Immer wieder müssen sich Kerstin und Markus rechtfertigen und erklären, immer wieder sehen sie sich mit unsensiblen Kommentaren konfrontiert. Etwa: «Was macht ihr denn für ein Drama, euer Kind sieht doch gut aus. So schlimm kann es nicht sein.» Solche unbedachten Aussagen schmerzen die jungen Eltern, sie fühlen sich von der Gesellschaft, teilweise aber auch von den Medizinern nicht ernst genommen. 

Tag der seltenen Krankheiten

Schätzungsweise gibt es weltweit 8'000 seltene Krankheiten, Krankheiten, über die man nur wenig weiss. In der Schweiz leiden rund 350'000 Kinder an einer solchen Krankheit. Der Tag der seltenen Krankheiten, der seit 2008 immer am 28. oder 29. Februar stattfindet, soll auf die Ängste, Herausforderungen, Sorgen, aber auch Hoffnungen aufmerksam machen. 

Schwierige Geburt und erste Wochen

«Wir nehmen unser Kind so, wie es ist», war für die ausgebildete Behindertenbetreuerin Kerstin schon immer klar. Deshalb hat sie in der Schwangerschaft auch bewusst keine zusätzlichen Untersuchungen gemacht. «Im Ultraschall war alles soweit normal und es waren keine Auffälligkeiten zu sehen». Die Freude war gross, als ihre Tochter nach einer schwierigen Geburt endlich auf der Welt war. Gesund und munter. Vor der Entlassung aus dem Spital entdeckte der Kinderarzt eine kleine, auffällige Erhebung auf Noémies Nacken. Der darauffolgende Ultraschall gab jedoch Entwarnung und die jungen Eltern wurden mit einem vermeintlich gesunden Kind entlassen.

Noémie weinte sehr viel, teilweise bis zu fünf Stunden am Stück. Kerstin und Markus durften Noémie nicht auf den Bauch legen, nicht im Tragetuch tragen, niemandem zum Halten geben – immer fing das kleine Mädchen wahnsinnig an zu schreien. «Heute wissen wir, dass der Grund die starke Überempfindlichkeit am ganzen Körper war. Damals kamen wir an unsere Grenzen und wussten oft nicht weiter», sagt Markus. 

«Unsere Welt ist zusammengebrochen»

Als Noémie acht Wochen alt ist, fällt Kerstin auf, dass ihr Baby die Arme kaum bewegt. Vor allem der linke Arm ist oft schlaff, die Hand geballt und verkrampft. Den Kinderarzt darauf angesprochen, beruhigte dieser, dass Noémie wohl einfach etwas mehr Zeit braucht. Mit den Monaten kommen jedoch immer neue Symptome hinzu: Zuckungen am Kopf, Verkrampfungen am ganzen Körper, Überstreckung des Kopfes. Endlich reagiert auch der Kinderarzt und überweist die jungen Eltern ans Kinderspital Bern zu weiteren Untersuchungen. Der Verdacht wird ausgesprochen, dass Noémie möglicherweise einen Hirnschlag im Mutterleib erlitten haben könnte.

Es wird ein MRI angeordnet, die Diagnose ist ein Schock: Hinter der vermeintlich harmlosen Erhebung am Nacken befindet sich ein offener Rückenmarkskanal, Noémie hat Spina bifida. «Unsere Welt ist damals zusammengebrochen, wir sind in ein tiefes Loch gefallen», erzählt Kerstin. Noémie, damals knapp einjährig, muss sich in der Folge einer über achtstündigen Operation unterziehen; die Eltern wissen nicht, ob ihre Tochter überlebt.

Spina bifida

Spina bifida ist eine embryonale Verschlussstörung im Bereich der Wirbelsäule.

Symptome:

  • Unterschiedlich stark ausgeprägte schlaffe, zum Teil auch spastische Lähmungen der Muskeln (Paresen)
  • Lähmungsbedingte Verkürzungen und Rückbildung von Muskelgruppen
  • Einschränkungen oder Verlust von Schmerz- und Berührungsempfindung
  • Funktionsstörungen von Blase und Darm

Höllische neurophatische Schmerzen

Die Operation verläuft gut, Noémie erholt sich und die Eltern sind guter Dinge. Die vorsichtige Zuversicht wird beim nächsten MRI, gut ein Jahr nach der Operation, allerdings wieder jäh zerstört. Es zeigt sich, dass das Rückenmark wieder mit den Nervenbahnen und der harten Hirnhaut verwachsen ist. Was folgt, ist eine zweite Operation. Nach dieser zeigt sich allerdings keine deutliche Verbesserung. Im Gegenteil: Noémie leidet seither unter höllischen, neurophatischen Schmerzattacken; diese treten bis zu zehn Mal pro Tag, vorwiegend in der Nacht, auf. Die Schmerzattacken äussern sich ähnlich wie ein epileptischer Anfall: die Beine zittern, Noémie verkrampft sich am ganzen Körper und atmet für einen Moment nicht mehr. «Als Eltern zerreisst es einem, es geht an die Substanz, sein Kind so leiden zu sehen», sagt Markus.

Es zerreisst uns das Herz, Noémie so leiden zu sehen. Es gibt nichts, das hilft und wir müssen machtlos zusehen.
– Kerstin, Mutter von Noémie 

Von Seiten der Ärzte heisst es immer wieder, dass die Schmerzen nicht so schlimm sein können und dass Medikamente überflüssig seien. «Uns wurde lange nicht geglaubt, wie schlecht es unserer Tochter geht und wie sehr sie leidet. Wir mussten uns immer wieder rechtfertigen und hartnäckig bleiben.» Inzwischen sind die neurophatischen Schmerzen auch medizinisch anerkannt und Noémie bekommt ein Medikament, das ihre Schmerzattacken leicht dämpft.

Dabei mussten Kerstin und Markus auch lernen, was die Schmerzattacken bei ihrer Tochter auslösen. So hat Noémie etwa eine Übersensibilität am ganzen Körper. «Es reicht zum Beispiel, wenn wir mit dem Auto auf einer unebenen Strasse fahren und bei Noémie wird eine Schmerzattacke provoziert. Ebenso können eine Bettdecke auf ihren Beinen, ein ungewolltes Anstossen oder Umfallen, zu enge Kleidung und Schuhe oder eine Kopfbedeckung heftigste Schmerzen auslösen», so Kerstin. Die 39-Jährige erzählt, dass sie immer wieder mit blöden, unbedachten Kommentaren konfrontiert wird, wenn ihre Tochter ohne Schuhe und Kopfbedeckung im Rollstuhl unterwegs ist: «Ziehen sie doch dem armen Kind Schuhe an.»

Die KMSK-Wissensbücher

Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten in seinen Wissensbüchern den Lebensweg von betroffenen Familien auf. Die Bücher beleuchten verschiedene Etappen: Von den ersten Anzeichen einer Krankheit, über medizinische Abklärungen, den Alltag bis hin zu der weiteren Familien- und Lebensplanung. Soeben ist die dritte Ausgabe erschienen. Die KMSK-Wissensbücher können kostenlos auf www.kmsk.ch bestellt werden und stehen Ihnen hier als PDF zur Verfügung.

KMSK Wissensbücher

Unklar, woher Noémies Beschwerden kommen

Und als ob die neurophatischen Schmerzen nicht schon genug wären, leidet Noémie seit der letzten Operation zusätzlich an massiven Blasen- und Darmfunktionsstörungen. Sie hat Probleme mit der Motorik, eine muskuläre Hypertonie sowie Schluckprobleme, die sich seither verstärkt haben. Das Essen ist für Noémie oftmals eine Qual; sie möchte so gerne essen, aber sie kann nicht. Organisch sei laut den Ärzten alles in Ordnung, niemand kann den Eltern sagen, woher Noémies Beschwerden kommen. «Wir sehen, welche Rucksäcke unsere Tochter hat, aber niemand kann uns sagen warum. Es ist schwierig für uns, dass wir keine klaren Diagnosen bekommen», so Markus. Ob im privaten Umfeld, bei Versicherungen, bei der Schule oder bei neuen Therapien – es sei immer ein extremer Kampf und die jungen Eltern müssen sich ständig erklären, weil sie nichts Schwarz auf Weiss haben.

Psychologische Begleitung

Seit einiger Zeit besucht Noémie die Schmerzsprechstunde im Kinderspital des Inselspitals Bern. «Diese Sprechstunde dient auch der psychologischen Begleitung für Noémie und zur Beratung betreffend der Schmerzbehandlung mit Medikamenten und Alternativ-Methoden», erklärt Kerstin.

Die medikamentöse Behandlung ist, so wie sie im Moment verabreicht wird, ausgeschöpft. Für ein Kind in Noémies Alter gibt es keine weitere Möglichkeit und das Mädchen muss Strategien lernen, die ihr während der Schmerzattacken helfen. Wenn Noémie im Sommer in den heilpädagogischen Kindergarten kommt, soll die psychologische Begleitung intensiviert werden. Denn die 5-Jährige beginnt zu verstehen, dass sie anders ist und dass sie mit Gleichaltrigen nicht mithalten kann. «Anfänglich hat sie noch mit Freunden gespielt. Irgendwann sind diese ihr davongelaufen, weil Noemi zu langsam war. Das war sehr verletzend für sie.»

Die Eltern sprechen sehr offen mit Noémie über ihre Krankheit, beantworten ihr alle Fragen und erklären ihr, wenn wieder Untersuchungen anstehen und was dabei gemacht wird. 

Paar unterstützt sich gegenseitig

Die Eltern haben für sich bislang keine psychologische Beratung in Anspruch genommen. «Es fehlt uns momentan an Zeit und Kraft», so Kerstin. Für die Eltern ist wertvoll, von Noémies Psychologin zu hören, dass sie alles richtig machen und dass Noémie dank ihnen ein so fröhliches und aufgewecktes Mädchen ist. «Dies zu hören, tut unglaublich gut, hat man doch so oft das Gefühl, dass man alles falsch macht.» Kerstin und Markus reden viel zusammen und ziehen an einem Strang. «Markus ist immer da, wenn zum Beispiel wichtige Untersuchungen anstehen. Ich weiss, dass ich mich voll auf ihn verlassen kann. Das gibt mir viel Kraft», betont Kerstin.

Auf die Zukunft angesprochen, sagen Kerstin und Markus, dass sie keine grossen Pläne machen und jeden Tag nehmen, wie er kommt. Und dennoch hat Kerstin bereits eine Idee, was sie in Angriff nehmen möchte, wenn Noémie in die Schule kommt und sie wieder mehr Zeit für sich hat. «Es fehlt eine Anlaufstelle, an die wir uns wenden können und die uns aufgezeigt, welche Angebote es für betroffene Eltern gibt. Es wäre so entlastend, wenn es eine Person gäbe, die Bescheid weiss und die einem an die Hand nimmt», sagt Kerstin. Im Dschungel aus Administration, Therapien und medizinischen Angeboten verlieren viele Familien nämlich den Überblick. Kerstin kann sich daher gut vorstellen, sich zur Fachperson ausbilden zu lassen und anderen Eltern beratend zur Seite zu stehen. 

Noémie hat es sich inzwischen auf dem Sofa mit ihrem «Nuschi Nu», einem Halstuch, das ursprünglich ihrer Mama gehörte, gemütlich gemacht. Kerstin erzählt, dass sie dieses immer braucht, wenn sie sehr müde ist, Schmerzen hat und oder schlafen möchte. Es «beruhigt» Noémie und gibt ihr Sicherheit.

Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten

Rund 350'000 Kinder und Jugendliche sind in der Schweiz von einer seltenen Krankheit betroffen. Der am 20. Februar 2014 durch Manuela Stier gegründete gemeinnützige Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten unterstützt Familien finanziell, vernetzt sie und macht in den Medien auf das Thema aufmerksam. Der Verein möchte erreichen, dass alle medizinischen Fachpersonen, Pharmafirmen, Spitäler, aber auch Schulen hinschauen, dass betroffene Eltern ernst genommen werden, dass man ihnen zuhört und dass im Bewusstsein von allen verankert wird: «Seltene Krankheiten sind nicht selten»! 

Seit Januar 2020 hat der Förderverein eine neue PräsidentinAnita Rauch Ist Fachärztin für Medizinische Genetik FMH und Laborspezialistin für medizinisch-genetische Analytik FAMH. Seit 2009 ist sie als Lehrstuhlinhaberin und ordentliche Professorin für Medizinische Genetik an der Universität Zürich tätig, wo sie auch das Institut für Medizinische Genetik leitet. Neben Forschung und Lehre führt sie am Institut eine genetische Sprechstunde sowie ein diagnostisches Labor für verschiedenste Gentests. Als Präsidentin des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten will sie sich für die Bedürfnisse betroffener Familien im Umgang mit den seltenen Krankheiten einsetzen. 

Mehr Informationen über den Verein erhalten Sie unter www.kmsk.ch

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