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Babyfenster: Ein Hilfsangebot für extreme Notsituationen

Nicht jedes Kind in der Schweiz ist erwünscht. Das Babyfenster gibt Müttern in Notsituationen die Möglichkeit, ihrem Kind ein besseres Leben zu ermöglichen.

Mehr Babyfenster in der Schweiz gewünscht
Das Babyfenster des Spitals Einsiedeln SZ bietet Müttern in Notsituationen einen Ausweg. Ihr Baby können sie während dem ersten Jahr zurückfordern.

Am frühen Abend des 20. Februars 2012 wurde das siebte Baby im Babyfenster Einsiedeln abgegeben. Hebamme Lisa Kaufmann dachte zuerst an einen Fehlalarm, schliesslich war es Fasnachtsmontag! Doch tatsächlich: Da lag ein kleines Mädchen, bereits mehrere Wochen alt, in eine warme Decke gewickelt. Seine Mutter hat ihm einen Brief auf den Weg gegeben.

Das im Jahr 2001 eröffnete Babyfenster ist ein gemeinsames Projekt des Spitals Einsiedeln und der Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK). Das Angebot richtet sich an Mütter in ausweglosen Lagen und soll diesen eine anonyme Abgabe ihres Babys ermöglichen. Schon lange vor der Eröffnung hatten sich Argumente für ein Babyfenster gehäuft, diese standen jedoch stets der Kritik der Gegner gegenüber: Das Babyfenster ist eine einfache Möglichkeit, ein Baby auf schnellem Weg und ohne administratorische Hürden abzugeben. Führt dies zu überstürzten Entscheidungen? Und wirkt sich die anonyme Abgabe nicht negativ auf eine spätere Identitätsfindung des Kindes aus? Wer ist man, wenn man weder Eltern noch Herkunft kennt?

Reto Jeger, Direktor des Spitals Einsiedeln, kennt die Vorwürfe: «Entwurzelung ist natürlich etwas Schlimmes, im Vergleich zum Tod ausgesetzter Babys jedoch das kleinere Übel. Wenn auch nur ein Kind durch das Babyfenster vor diesem Schicksal bewahrt werden kann, lohnt sich die Institution zu 100 Prozent.» Einen wichtigen Anstoss zum Einsiedler Babyfenster gab ein 1999 in Wilerzell am Sihlsee ausgesetztes Baby. Als es eine Spaziergängerin fand, war es bereits zu spät. Ob ein Babyfenster das damalige Drama verhindern hätte können, kann niemand sagen. Die Anzahl ausgesetzter Babys in der Schweiz ist zwar zurückgegangen, ein direkter Zusammenhang mit dem Babyfenster kann jedoch nicht bewiesen werden. In Deutschland beispielsweise ist die Zahl der Kindstötungen trotz mehrerer Babyklappen nicht gesunken. Des Weiteren bezweifeln Fachleute aus der Psychiatrie und Psychotherapie, dass das Angebot überhaupt die Frauen erreicht, bei welchen die Gefahr einer Kindsaussetzung oder –tötung besteht. Vielfach sind Frauen wegen psychischen Problemen nicht mehr in der Lage, ein Babyfenster aufzusuchen. Kindsaussetzung- oder tötung ist in diesen Fällen eine unmittelbare Reaktion auf Panikattacken oder Kurzschlussreaktionen.

Vormundschaftsbehörde wird sofort informiert

Seit der Eröffnung des Babyfensters im Jahr 2001 wurden zwei Jungen und fünf Mädchen beim Spital Einsiedeln abgegeben. Weiss eine Mutter nicht mehr weiter und spielt mit dem Gedanken, ihr Baby anonym ins Babyfenster zu legen, kann sie sich im Vorfeld auf der Homepage www.babyfenster.ch informieren. «Es gab noch nie Probleme bei der Abgabe ins Babyfenster», sagt Reto Jeger. «Die meisten Mütter haben den ‚Brief an die Mutter’ an sich genommen und auch selbst einen Brief für ihr Baby hinterlassen. Der Ablauf muss vielen schon im Vornherein bekannt gewesen sein.» Auf derselben Homepage können Beispiele für solche Briefe gelesen werden, die in Lübeck (Deutschland) abgegeben wurden. Neben einem Namen geben viele Mütter ihren Kindern auch Entschuldigungen mit auf den Weg. So wird Felicitas später diesen Brief bekommen:

Im Babyfenster findet die Mutter einen Brief

Spitaldirektor Reto Jeger zeigt das Bettchen hinter der Babyklappe. Alle Eltern erwartet ein «Brief an die Mutter».

«Liebe Felicitas. Ich hoffe, Du wirst mir eines Tages verzeihen, dass ich Dich weggegeben habe. Ich habe es getan, weil ich denke, dass es Dir besser gehen wird in einer Familie, die sich schon lange ein Kind wünscht und die Dir viel Zeit und Liebe geben kann. Für mich waren es die schönsten Stunden, in denen ich dich bei mir hatte. Du warst das schönste Baby, das ich jemals gesehen habe. Ich wünsche Dir, dass Du es besser machst als ich und hoffentlich einmal eine gute Mutter wirst. Ich bete zu Gott, dass wir uns wiedersehen. Ich liebe dich, deine Mutter.»

Das Babyfenster befindet sich auf der Seite des Spitals und ist leicht von aussen zu öffnen. Hinter dem Fenster findet die Mutter ein auf 37° Celsius geheiztes Bettchen mit Decke, in das sie ihr Kind legen kann. Bevor nach drei Minuten ein automatischer Alarm ausgelöst wird, hat sie Zeit für einen letzten Blick zurück. Der Alarm wird direkt an die Hebamme geleitet, welche das Baby zur Untersuchung ins Säuglingszimmer bringt. Die Vormundschaftsbehörde wird umgehend informiert. Bevor das Baby nach wenigen Tagen in eine Pflegefamilie übergeben wird, wird es im Spital gepflegt und umsorgt.

Im hinterlegten «Brief an die Mutter» werden Eltern darum gebeten, sich nach der Abgabe beim Spital Einsiedeln zu melden. «Wir möchten gerne so viel wie möglich über die Herkunft des Kindes und die Umstände der Abgabe erfahren», erläutert Reto Jeger. Dies hilft nicht nur der Vormundschaftsbehörde, sondern auch dem Kind, wenn es älter ist.

Baby zurückfordern

Im ersten Jahr nach der Abgabe haben Eltern noch die Möglichkeit, das Baby zurückzufordern. Dies geschah laut Jeger bisher ein einziges Mal. Wenn die Mutter sich innerhalb dieses Jahres nicht mehr meldet, wird das Baby in eine Adoptivfamilie übergeben. Wann das Kind von seiner Adoption erfährt und die zurückgelassenen Sachen, beispielsweise den Brief seiner Mutter, erhält, entscheidet die Vormundschaftsbehörde. «Ein Kontakt zur Adoptionsfamilie und zum Baby kann jederzeit aufrecht erhalten werden. Diese Entscheidung liegt jedoch bei der Mutter», fügt Jeger hinzu. Auch das Kind kann später Kontakt mit seiner leiblichen Mutter aufnehmen, allerdings nur, wenn es diese zulässt. Laut der SHMK gibt es auf Seiten der Mutter gute Gründe, ihre Identität zu verschweigen. So kann es sein, dass sie augrund ihres kulturellen Hintergrunds in Lebensgefahr gerät oder ihr Kind aus einer Vergewaltigung stammt.

Dass das Babyfenster nicht nur weit bekannt ist, sondern auch gut ankommt, zeigt eine repräsentative Meinungsumfrage des vergangenen Jahres. Das Institut für Markt- und Meinungsumfragen AG befragte rund 1'100 Personen und kam zu folgendem Ergebnis: 68 Prozent aller Befragten war das Babyfenster bereits bekannt, 87 Prozent befanden die Institution als sehr sinnvoll oder eher sinnvoll. «Das Babyfenster hat sich in den letzten zehn Jahren als durchaus zweckmässig erwiesen. Einsiedeln liegt jedoch eher peripher. Was wir jetzt noch brauchen, sind mehr derartige Angebote in Zentrumslagen, vor allem in den grossen Städten», erklärt Reto Jeger. Dass dieser Wunsch sich mit den Meinungen der Bevölkerung deckt, zeigt wiederum die Umfrage: 58 Prozent aller Befragten wünschen sich ein Babyfenster in jeder Region der Schweiz, 28 Prozent finden sogar, dass die Institution zu jedem Spital der Schweiz gehören sollte.

Nein zur anonymen Geburt, Ja zum Babyfenster

Trotz Nachfrage konnte das Babyfenster in Einsiedeln keine Nachahmer finden. Die SHMK wollte zunächst abwarten, wie die Politik über die anonyme Geburt entscheidet. Kurz nach der Eröffnung des Babyfensters in Einsiedeln lancierten die Nationalrätin Josy Gyr (SP/SZ) und später auch die Nationalräte Andy Tschümperlin (SP/SZ) und Reto Wehrli (CVP/SZ) je eine Motion zum Thema anonyme Geburt. In dieser wurde gefordert, dass Schwangere in äusserster Not im Spital ohne Bekanntgabe ihrer Identität entbinden können. Während und nach der Geburt sollten Arzt und Hebamme der Mutter beistehen und diese beraten.

Die eingereichte Motion hatte mit denselben Kritikpunkten zu kämpfen, welche auch heute noch gegen das Babyfenster genannt werden. «Die Motionen wurden erst Ende 2009 im Nationalrat abgelehnt. Daraufhin sagten wir uns, dass es in der Schweiz – wenn schon keine anonyme Geburt – so doch in jeder grösseren Region ein Babyfenster geben sollte.», erklärt Dominik Müggler, Stiftungspräsident der SHMK. Dieses Vorhaben wird nun umgesetzt; ein zweites Babyfenster soll in Davos entstehen.

Weitere nützliche Informationen:

In allen Kantonen stehen die offiziellen Familienplanungsstellen gratis zur Verfügung

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