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Intersex-Kinder: Operationen können schwere Folgeschäden verursachen

Ein Kind mit atypischen Geschlechtsorganen in den Armen zu halten, mag zunächst verunsichern. «Doch Intersex-Kinder sind in den meisten Fällen völlig gesund und brauchen daher weder chirurgische noch andere medizinische Eingriffe», erklärt Daniela Truffer, Gründungsmitglied der Schweizer Selbsthilfegruppe Intersex.ch.

Es ist keine Krankheit, Intersex zu sein.
Die klare Geschlechtereinordnung ist bei Intersex-Kindern schwierig. Bild: Olha Khorimarko, Getty Images

Frau Truffer, wie viele Kinder kommen mit atypischen oder uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen auf die Welt?

Nach unserer Schätzung sind zwei von 1.000 Neugeborenen Intersex-Kinder.

Als Gründungsmitglied einer Selbsthilfegruppe kennen sie die Ängste der Eltern. Welche Sorgen haben sie?

Die meisten Eltern stehen zunächst unter Schock. Sie sind nicht darauf vorbereitet, dass die Geschlechtsorgane eines Babys nicht der Norm entsprechen können oder ihr Kind vielleicht nicht eindeutig ein Junge oder ein Mädchen ist. Die meisten Eltern machen sich Sorgen, das Kind könne deshalb in seinem weiteren Leben gehänselt und ausgegrenzt werden. Viele Eltern haben auch Schuldgefühle, weil sie denken, sie hätten in der Schwangerschaft etwas falsch gemacht.

 

Sind die Ängste der Eltern berechtigt?

Intersex zu sein, ist keine Krankheit und schon gar nicht etwas, wofür man sich schämen muss. Sich das vor Augen zu führen, ist sehr erleichternd. Intersex-Kinder sind in den meisten Fällen völlig gesund.

Wie entwickeln sich atypische Geschlechtsmerkmale?

Bis zur siebten Schwangerschaftswoche sind alle Menschen Zwitter. Das heisst, wir haben alle ein uneindeutiges Genital und Vorläufer zu Hoden und Eierstöcken im Bauch. Erst danach differenzieren sich diese Vorstufen bei den meisten Menschen zu männlichen oder weiblichen Genitalien und Fortpflanzungsorganen, und es bilden sich aus denselben Grundbestandteilen bei typischen Mädchen Klitoris, Harnröhre und Vagina. Bei typischen Jungen schliesst sich die Urogenitalrinne zur Harnröhre, während gleichzeitig die Harnröhrenöffnung zur Penisspitze hochwandert. Es ist jedoch auch möglich, dass sich – wie bei Intersex-Kindern – Genitalien entlang eines weniger häufigen Weges entwickeln.

Was heisst das konkret?

Jungen können zum Beispiel mit einem Penis auf die Welt kommen, bei dem die Harnröhrenöffnung nicht an der Spitze des Penis liegt. Ihr Geschlechtsorgan kann dann uneindeutig aussehen und mit einer vergrösserten Klitoris verwechselt. Mädchen wiederum können mit einer vergrösserten Klitoris geboren werden oder Hoden im Bauchraum haben. Es gibt auch Kinder, die auf der einen Seite des Bauchraums einen Hoden, auf der anderen Seite einen Eierstock haben. Uneindeutig kann auch die Genetik sein. So haben manche Kinder ein Geschlechtschromosom mehr in ihren Zellen zum Beispiel XXY. Chirurgische und medizinische Eingriffe sind jedoch in den allermeisten Fällen überflüssig, ausser wenn das Kind zum Beispiel keine Harnröhrenöffnung hat oder fehlendes Cortisol ersetzt werden muss.

Dennoch werden viele Kinder operiert …

Ja, in der Schweiz werden Intersex-Kinder noch immer überwiegend operiert, meist vor dem zweiten Lebensjahr, damit sie sich später nicht daran erinnern können. Das sind einschneidende Eingriffe mit erheblichen körperlichen und psychischen Folgeschäden.

Welche Folgen haben diese chirurgischen Eingriffe?

Die erste Operation zieht in der Regel viele weitere Eingriffe nach sich, die Komplikationsrate ist hoch. Narben wachsen nicht mit und können später Schmerzen bei Erregung verursachen. Kinder erleben immer wieder, dass Ärzte ihre Genitalien ansehen, begutachten, anfassen, untersuchen und verändern. Viele Intersex-Menschen sind dadurch traumatisiert. Auch die Eltern-Kind-Beziehung leidet, wenn Kinder Eltern vorwerfen, all das zuzulassen. Es handelt sich hier um Genitalverstümmelung.

Die Kinder sind also Opfer von Medizingewalt?

Ja – darauf aufmerksam zu machen, ist unser zentrales Anliegen. Auch heute noch drängen viele Ärzte zu kosmetischen Operationen, in die Eltern einwilligen, oft ohne umfassend über die Folgen informiert worden zu sein. Die Eingriffe verändern massiv auch die sexuelle Empfindungsfähigkeit. Darüber hinaus müssen operierte Intersex-Menschen lebenslang Hormone schlucken, wenn sie kastriert wurden.

Wie sieht die Rechtslage aus?

Leider gibt es in der Schweiz keine gesetzliche Regelung, die Intersex-Kinder vor unnötigen und schädlichen Eingriffen schützt. Im Gegenteil bis heute werden solche Eingriffe von der Invaliditätsversicherung (IV) bezahlt. Zwar ist die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin bereits 2012 zu dem Schluss gekommen, dass alle unnötigen Eingriffe aufgeschoben werden sollen, damit das Kind später selbst entscheiden kann. Sie hat gesetzgeberische Massnahmen empfohlen. Auch die UNO hat die Schweiz bereits vier Mal gerügt, unter anderem der Kinderrechtsausschuss, der diese Eingriffe als schädliche Praxis verurteilt. Betroffene fordern deshalb ein strafrechtliches Verbot und eine Verlängerung oder Aufhebung der Verjährungsfristen. Doch die Politik bleibt bis heute untätig.

Was raten Sie Eltern von einem intersexuellen Kind?

Nach der Geburt sollten Eltern erst mal zur Ruhe finden und sich darüber freuen, ein gesundes Kind bekommen zu haben. Sie sollten wissen: Es gibt jetzt erst mal keinen Handlungsbedarf. Wichtig kann eine psychologische Beratung sein, wenn es Eltern schwer fällt zu akzeptieren, dass ihr Kind einfach anders ist. Auch der Kontakt zu anderen Eltern mit einem Intersex-Kind ist sehr hilfreich. Im Austausch finden sie leicht zu einer selbstbewussten Haltung, in der sie ihr Kind annehmen können, wie es ist. Das fördert die Eltern-Kind-Beziehung. Das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken, ist die beste Strategie gegen eine befürchtete spätere Ausgrenzung. Später, wenn das Kind einwilligungsfähig ist, kann es selbst entscheiden, zu welchem Geschlecht es sich zugehörig fühlt und ob es sich operieren lassen möchte oder nicht.

Familienleben Logo

Daniela Truffer (55) ist Gründungsmitglied der Selbsthilfegruppe intersex.ch. Sie wurde mit uneindeutigen körperlichen Geschlechtsmerkmalen geboren und als Säugling und Siebenjährige an ihren Genitalien operiert. Seit 2007 kämpft sie als Gründungsmitglied der Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org für die Rechte von Intersex-Kindern, u.a. mit Berichten an die UNO.

Weitere Informationen finden Sie hier: www.intersex.ch

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